Spiritueller Triumph

Sharon Jones & The Dap-Kings
Soul Of A Woman
(Daptone/Groove Attack)

Wie singt jemand im Angesicht des Todes den Soul? Bei der vor einem Jahr verstorbenen Sharon Jones scheint die Gewissheit über das Kommende einen heiligen Ernst entfacht zu haben. Auf dem nun posthum erscheinenden Soul Of A Woman hat sie zu einem machtvoll glühenden Ton ohne ein Quäntchen Pathos gefunden, der in „Matter Of Time“ oder „Sail On“ an die Intensität von Aretha Franklins ersten Atlantic-Alben erinnert, flankiert von den beißenden Horns der Dap-Kings, die wie ein großes Groove-Organ atmen.

Und in der Mitte passiert etwas Großartiges: Nach der weitgehend funky A-Seite (auch die CD folgt der LP-Ästhetik), reihen sich fantastische Balladen ganz unterschiedlicher Couleur aneinander: Ihr Phrasieren zur glimmenden Orgel in „Pass Me By“ gemahnt an den Minimalismus des jungen Al Green, das zum Niederknien mit Motown kokettierende „When I Saw Your Face“ lebt von gleißenden Streichern, „Girl“ von orchestralem Hochgebirge. Das kurze Album verdankt seine Magie auch der exzellenten Produktion – der unglaublich kompakte, zeitlose Sound macht Prädikate wie „retro“ endlich überflüssig. „Call On God“ heißt das Gospel-betupfte Finalstück aus Jones‘ eigener Feder – ein Schwanengesang, der zum spirituellen Triumph über den Tod geraten ist.

Sharon Jones & The Dap-Kings: „Call On God“
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Side tracks #23: Eisenrösser im Eisland

Högni
Two Trains
(Erased Tapes/Indigo)

Vielleicht gehört das eher zu den Randnotizen der globalen Eisenbahngeschichte: Island hatte vor 100 Jahren mal 2,5 Kilometer Schienennetz. Für den Musiker Högni allerdings, Island-Aficionados bekannt von den Indierock-Bands Gus Gus und Hjaltalín, ist das ein ganz zentrales Kapitel seiner aktuellen Karriere.

Die beiden Lokomotiven Minør und Pionér, die heute noch in Reykjavik zu sehen sind, haben 1913-17 Stein und Kies für den Bau des Hafens transportiert, nach kurzer Zeit aber wurden sie schon wieder ausrangiert. Die beiden Stahlrösser, so sagt Högni, seien für ihn Sinnbild seines Lebens geworden, während einer Phase, in der er unterschiedliche Persönlichkeiten in sich toben fühlte.

Minør im Hafen von Reykjavik, Foto: Manfed E. Fritsche

Die Musik auf Two Trains wird auch durch einen soundtechnischen Zweikampf faszinierend: auf der einen Seite die machtvollen, aber auch fast zärtlichen Männerchöre, die auf die lebendige Chortradition der Insel zurückgehen, auf der anderen lauern elektronische Rhythmen, die auf die Industrie-Ära während des Ersten Weltkriegs Bezug nehmen – jene Zeit, in der Minør und Pionér ihre Arbeit am Hafen verrichteten.

Högni: „Komdu Með“
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Expats gegen den Brexit


Cristobal And The Sea
Exitoca
(City Slang/Universal)

Aus Portugal, Spanien, Frankreich und Ägypten kommen die Mitglieder, doch beheimatet sind sie in London – und von dort aus schaffen sie einen tanzbaren, ansteckenden Pop, der so voll britischem Humor ist, dass man nur konstatieren kann, dass ihre Integration gelungen scheint. Darüber hinaus spielen sie auf ihrem zweiten Album mit den Errungenschaften der Tropical-Szene an der Themse: Kaum merklich werden die Songs aufgeladen mit indischen Rhythmen, afrikanischen Gitarrenriffs, Latin-Perkussion. Die dichten Vokalsätze erinnern an den kalifornischen Sunshine-Pop der Sechziger, und zwischendrin residieren Interludien, die aus Exotica-Soundtracks und dem Labor der frühen Minimalisten zusammengewürfelt sein könnten. Selbst Anklänge an den Discorock der frühen Achtziger werden nicht ausgespart. Ein großes augenzwinkerndes Antidot gegen den neuen Protektionismus auf der Insel und einer der schönsten Muntermacher des Jahres für verdrossene Geister.

Cristobal And The Sea: „Steal My Phone“
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Anmut und Gnade

Lizz Wright
Grace
(Concord/Universal)

Erstmals geleitet die Frau aus Georgia mit dem seelenvollen Alt ihre Hörer durch einen ganzen Zyklus von Coverversionen, die alle unter dem Motto „Gnade“ beziehungweise „Anmut“ stehen, beides mögliche Übersetzungen von „Grace“. Für die notwendige Verklammerung auf ihrem sechsten Album sorgt inmitten einer Könnerband – mit unter anderem Marc Ribot an der Gitarre und David Piltch am Bass – Joe Henry, einer der feinfühligsten Roots-Produzenten der Staaten. Denn das Spektrum reicht weit: Vom dunklen Blues „Barley“ über den erhabenen Gospelton in „Seems I‘m Never Tired Lovin‘ You“ geht die anmutige Reise, macht Station bei einem seltenen Bob Dylan-Song („Every Grain Of Sand“) und dem Orgelgeglucker in Ray Charles‘ „What Would I Do Without You“. In der Mitte siedelt mit dem Titelstück eine sehnsuchtsvoll loderne Hymne aus der Feder der Kanadierin Rose Cousins, stark auch die Standard-Ballade „Stars Fell On Alabama“, die hier vom Jazz zum folkigen Hauch getragen wird. Auch mit Fremdmaterial schafft Wright ihre unverwechselbare Verknüpfung von ländlicher Südstaaten-Ästhetik mit glamourfreiem Jazzgesang.

Lizz Wright: „Seems I’m Never Tired Lovin‘ You“ (live)
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Triângulo maravilhoso

15 Jahre mussten wir warten – bis Brasiliens schönste Ménage à trois wieder ins Studio ging. Über das zweite Album der Tribalistas schweigt der Kritiker vorerst in Verzückung: zeitlos schöne Popmusik auf einer Stufe mit den Beatles – mindestens.
Obrigado,  Marisa, Carlinhos & Arnaldo!

Tribalistas: Baião Do Mundo“
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Bartlos in Seattle

Rochen diese Songs nicht nach würzigem Waldboden, nach Frühtau, der über den Wiesen liegt? Nach der Verheißung von Wurzeln jenseits des entfremdenden urbanen Getriebes? Gesänge, als hätte man die Vokalschichtungen von Beach Boy Brian Wilson mit einem gregorianischen Chor gepaart, als stünden vervielfältigte Simon & Garfunkels in einer romanischen Kirche. Drumherum: Akustikgitarren, Mandolinen, Pauken, Glockenspiel. Als die Fleet Foxes aus Seattle um Sänger Robin Pecknold 2008 ihr Debüt veröffentlichten, sättigten sie die Americana mit ruralen Farben. Und sie wurden zu den zwar nicht ersten, aber erfolgreichsten Ikonen für die neue Generation der Bärtigen und Flanellhemdenträger, wie ausverkaufte Hallen von Los Angeles bis Sydney bewiesen. Auch der Nachfolger Helplessness Blues von 2011 folgte dieser folkigen, mythischen Naturphilosophie, angereichert mit mehr Raffinesse, Tempowechseln, jazzigen Einsprengseln.

Dann war erst mal Schluss, derweil andere den Sound der neuen Empfindsamen pflegten. Mumford & Sons, Sufjan Stevens, William Fitzsimmons, Iron & Wine etwa – aber niemand hatte diese erhabenen Stimmenschichtungen der Füchse. Und während allerorten die Hipster ihre Bärte kultivierten, rasierte Oberfuchs Robin Pecknold sich die Manneszier ab, knabberte an einer Trennung, schrieb sich an der Columbia University in Kunst und Literatur ein, lernte surfen und kletterte am Everest herum. Neue Songs kamen ihm dabei vorerst nicht in den Sinn. Drummer Joshua Tillman ging im Streit, benannte sich in Father John Misty um und gibt den Apokalyptiker, der für die digitale Gesellschaft nur noch Zynismus übrig hat. Seine Ex-Band dagegen antwortet jetzt, nach sechs Jahren Pause auf das absurde Welttheater völlig anders.

Crack-Up („Zusammenbruch“) als Konzeptalbum zu bezeichnen, wäre untertrieben. Es ist Hörspiel, Folk-Oper und Traktat: Die Inspiration für den Titel empfing Pecknold aus einem Essay von F. Scott Fitzgerald, in dem dieser postulierte, ein großer Geist müsse völlig entgegengesetzte Ideen gleichzeitig verarbeiten können, ohne verrückt zu werden. Folgerichtig durchlebt die Hörerschaft während 55 Minuten unerwartete Moll-Eintrübungen und Dur-Aufhellungen, Wechsel von folkiger Stille in triumphale Breite, von introvertiertem Gemurmel, zu plötzlich aufstrahlendem Sologesang und diesen nach wie vor einzigartig kristallinen Chören. Anfangs mögen sich Vergleiche mit Pet Sounds von den Beach Boys aufdrängen.

Doch Pecknold collagiert weit mehr als Rock‘n‘Roll und Klassik wie einst Wilson: Streicherklänge kollidieren mit marokkanischen Kastagnetten, Gitarrenriffs aus dem Sahel, einem verlangsamten Cembalo und Orgelbrausen – all das allein vereinigt sich in „Mearcstapa“, einem Porträt des einsamen Biestes aus der Beowulf-Saga. Geigen gleißen am Horizont, Klavierlinien kreisen wie ferne Kirchenglocken, Mellotrone liefern glasige Liegetöne. Und auch wenn die Keimzelle oft nur ein Riff auf der Akustikgitarre ist, kaum gibt es ein Stück, das als herkömmlicher Song gelten könnte. Etliche sind Suiten mit Regieanweisungen: Mal befindet man sich auf dem weiten Meer, dann auf den Straßen einer Stadt, unvermittelt wieder in Pecknolds Studentenbude. In majestätischem Folkbombast berichtet die Single „3rd Of May“ von Pecknolds Freundschaft zum zweiten Band-Mastermind Skyler Skjelset, endet aber in einem nüchternen japanischen Klanggarten.

Fleet Foxes: „3rd of May / Odaigahara“ (live)
Quelle: youtube

Kryptisch sind die Texte, oft getragen von einem weihevollen Ton, trotzdem nicht weltfremd: Trauer über Muhammad Alis Tod wird verknüpft mit der über die Erschießungen zweier unschuldiger Schwarzer („Cassius“), „Naiads“ klagt die respektlose Behandlung von Frauen an, in Versen, die auch ein aus der Distanz kommentierender Chor einer griechischen Tragödie so vortragen könnte. Und tatsächlich werden antike Götter und Helden in den Lyrics wie als Gegengewicht zu den politischen Hanswursten von heute beschworen. „Wie konnte alles an nur einem einzigen Tag zusammenstürzen? Was für ein Staat wird uns erwarten?“, fragt Pecknold wie Millionen von Amerikanern am 20. Januar in „If You Need To, Keep Time On Me“. Als schlichter Folksong gemahnt er fast als einziger an die Frühzeit der Band. Am Ende gleicht „Crack-Up“ der epischen Irrfahrt eines modernen Odysseus und Orpheus in Personalunion, die, an den Schiffsmast gebunden, das (Her)einstürzen der Welt und der Wellen erleben. Hilflos? Wappnen können sie sich mit der Macht der Worte und Klänge, die eine neue Wirklichkeit erschaffen. Geht es nach den Fleet Foxes, heißt die Antwort auf den Wahnsinn nicht politische Agitation, sondern poetische Verfeinerung.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes: „Fool’s Errand“
Quelle: youtube

Neue alpine Seele

Alma
Oeo
(col legno / Harmonia Mundi)

Die Musik der Alpen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr zur Welt hin geöffnet. Man spricht in Österreich und der Schweiz, in Südtirol und Bayern von einer „Neuen Volksmusik“, die mit den alten Klischees vom Schuhplatteln und Jodeln nichts mehr zu tun und stattdessen einen jungen, frischen, kosmopolitischen Anstrich hat. Ihre Wurzeln baut diese Generation aber dennoch raffiniert in die neuen Klangwelten ein. Dass das neue Werk des Ensembles Alma Oeo heißt, also einen Jodel-Laut aufgreift, ist mit seinem Bezug zum Alten völlig natürlich. Das Quintett, vier Frauen an Gesang, Geigen, Akkordeon und Kontrabass, sowie ein Mann an der Geige, stellt neben dem Blechblas-Septett Federspiel die Speerspitze der österreichischen Alpen-Avantgarde.

Eine erdige Polka, skandinavisch angehaucht, bekommt urplötzlich einen bluesigen Anstrich. In dichtem harmonischen Satz kreist ein Sommerwalzer, und ein Ländler aus dem Salzkammergut klingt wie ein erhabener Hymnus. Experimentell, ohne Scheuklappen vor der stimmlichen Reibung und der kratzenden Fiedel wird das Titelstück zum fernen, von Jazz aufgeladenen Gruß an vergangene Jodelvokabeln. Bei einem Ausflug ins süditalienische Apulien verbindet sich Liebesschmerz mit archaisch anmutendem Trauergesang. Und in ihrer Widmung an Anton Bruckner knüpfen die fünf Musiker Volkston an sakrale Innigkeit, ebenso wie sich das meditative Wehen des Akkordeons in „Tranquilla“ mit einer zackig-swingenden Sequenz abwechselt, in der die Violine aufschreit. Einen kleinen Einblick ins Paradies gewährt das finale Stück mit dem wunderbaren Titel „Renate grüßt das Universum“, inklusive versteckter Anleihen bei der Country- und Minimal-Musik. Das alles hat neben dem Innovationswillen vor allem viel Herzblut – und viel „Seele“, was ja die eigentliche Bedeutung des beliebten Frauennamens aus dem Alpenland ist.

Alma: „Questa Mattina“ (live)
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Spaced Out Dalston


Heliocentrics
A World Of Masks
(Soundway/Indigo)

2014 konnte ich Heliocentrics-Bassist Jake Ferguson in Dalston, Nordlondon zum Interview treffen, damals kündigte er dieses Album bereits an. Die Heliocentrics, diese grandiosen Klangarchitekten der soulig-funkigen Psychedelik haben ja bereits mit etlichen großen Männerstimmen von Orlando Julius bis Melvin van Peebles gearbeitet. Dass auf Albenlänge eine Frau in den Nukleus ihrer Arbeit rückt, ist Premiere. Über die Slowakin Barbara Petkova weiß man nicht viel, muss man auch nicht, denn auch so entfaltet sie ihre Vokalmagie auf A World Of Masks. Ihre Stimme ist nie direkt und filterlos aufgenommen, sie trifft patinabesetzt aufs Ohr wie aus einer anderen Ära, klingt mal nach orientalischer Klagefrau oder schnurrender Soul-Katze, nach lasziver Jazzlady, sogar nach verträumter Folk-Elfe mit Schlafzimmerblick.

In der typisch heliozentrischen Hörlandschaft blühen die verschiedensten Kräuter, die mal nach durchgeknallter, beschwipster Marching Band aus New Orleans klingen, an anderer Stelle nach den kosmischen Free Jazz-Attacken eines Sun Ra, dann wie aus einem SciFi-Soundtrack der 1960er hinaufsteigen, oder wiederum Reminiszenzen an „Tomorrow Never Knows“ von den Beatles aufkommen lassen. Exotische Flöten, dreckige Stromgitarren, unheimlich grunzende Bassklarinetten, gurgelnde Lamellophone, verhallte Pianoakkorde, zischende Drum-Fills und ostinate Riffs auf eigenartigen Bassinstrumenten sind nur einige Bestandteile, die diese fantastischen Klanggärten bauen. Zwischen Stimme und instrumentalem Geschehen entsteht so eine unglaublich dichte Dramaturgie. Ein weiteres Kultwerk der Männer aus Dalston, die hier einen weiblichen Spannungspol gefunden haben – es bleibt zu hoffen, dass „Babs“, wie die Jungs sie liebevoll nennen, den Heliozentrischen länger erhalten bleiben wird.

Heliocentrics: „Made Of The Sun“
Quelle: youtube

Mobutus Woodstock

Various Artists
Zaire 74 – The African Artists
(Wrasse)

Das Live-Konzert, das vor 43 Jahren in Kinshasa dem legendären “Rumble In The Jungle”-Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman vorausging, war ausschnittsweise schon im Dokumentarfilm “Soul Power” von 2008 zu sehen. Dort allerdings wurde der Fokus vor allem auf die internationalen Acts wie James Brown oder die Fania All Stars gelegt. “Zaire 74” rückt jetzt ausführlich fünf Afro-Künstler ins Rampenlicht. Allein schon wegen der explosiven Show von Tabu Ley lohnt sich diese Anschaffung: Afrisa, die Band des Soukouss-Meisters heizt mit glühendem Blech, Funk-geladenen Gitarren und unaufhaltsamer Rhythmussektion durchs Repertoire. Damit übertrumpft sie sogar den Superstar Franco und sein Orchester T.PO.K. Jazz, der hier auf schmelzendere Nummern Wert legt, die unverzeihlicherweise bei den Impro-Parts teils ausgeblendet werden. Miriam Makeba ist mit einem sehr folkigen Akustikauftritt vertreten, bevor sich mit dem Orchestre Stukas eine bei uns unbekanntere Rumba-Combo ins Zeug legt. Ein schönes Booklet mit Erinnerungen des Festivalproduzent Hugh Masekela rundet das feine Päckchen ab.

Tabu Ley & Franco @ Zaire 74
Quelle: youtube

Im Kleid der Nacht

Sílvia Pérez Cruz
Vestida De Nit
(Universal Spain)

Über den romanischen Kulturraum hinaus hat ihr Name kaum eine Bedeutung. Vielleicht ist das ein Beweis dafür, wie wenig Europa immer noch zusammengewachsen ist. Wie sonst könnte es möglich sein, dass man wenige Hundert Kilometer von ihrer Heimat wenig bis nichts von ihr weiß, wo die Katalanin doch – und da lege ich mich fest – über eine Stimme verfügt, die rückblickend vom Jahre 2100 zu einer der schönsten des Jahrhunderts gehören wird.

Bevor ich überhaupt über ihre Biographie oder ihre neue Platte spreche, möchte ich zwei ihrer Versionen des mexikanischen Klassikers „Cucurrucucú Paloma“ voranstellen. Klar, dass sie von der Lesart Caetano Velosos aus dem Film „Hable Con Ella“ inspiriert sind, doch in der unmittelbaren Fokussierung auf das Duospiel geht die Katalanin noch weiter. Es reicht, sich einen der beiden Clips anzuschauen, in jedem steckt eigentlich alles, was musikalische Zwiesprache überhaupt ausmacht.

Sílvia Pérez Cruz & Raül Fernández Miró: „Cucurrucucú Paloma“
Quelle: youtube

Sílvia Pérez Cruz & Mario Mas: „Cucurrucucú Paloma“
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Sílvia Pérez Cruz wird 1983 in Palafrugell geboren und erhält zunächst klassischen Gesangs- und Saxophonunterricht. Sie ist doppelt musikalisch vorgeprägt: Ihr Vater ist der galicische Sänger Cástor Pérez, ihre Mutter die Poetin, Komponistin und Sängerin Glória Cruz. Die erste Band, mit der sie in Erscheinung tritt, ist das Frauenquartett Las Migas, das sie bereits während ihrer Studienzeit in Barcelona mitbegründet und mit dem sie sich vor allem auf dem Flamenco-Parkett erprobt. Es folgen verschiedenste Experimente, etwa ein Teamwork mit dem Hang-Spieler Ravid Goldschmidt oder eine Platte mit der spanischen Popband Immigrasons.

Mit dem Bassisten Javier Colina taucht sie intensiv in eine Jazzerfahrung ein, bevor 2012 ihre erste Soloplatte unter dem Titel 11 De Novembre, Geburts- und Todestag ihres Vaters, erscheint. Das Debüt ist ein intimes Tagebuch mit teilweise Hörspielcharakter: Regenrauschen, Fahrradgeräusche und Samples aus „Moon River“ sind hineingewoben in die ausschließlichen Eigenkompositionen, leise Klanggedichte mit Gitarren, Englischhorn, Blechbläsern und Streichern. Familienmitglieder steuern Chöre bei, ein Loblied auf die Mutter, Schwester und Oma wird zum Samba. Ihrer berührenden Sopranstimme hört man den Schmerz über den Verlust des viel zu früh verstorbenen Vaters noch an. Produziert hat der Gitarrist Raül Fernández Miró (Refree), der auf dem Folgewerk Granada auch Duopartner wird.

Hier schlagen die beiden, durchaus in einer Indie-Folk-Philosophie, einen Spagat, der von Schumann-Liedern über Piafs Liebeshymne und einer psychedelischen Nummer aus dem Tropikalismus Brasiliens bis zur glühenden Vertonung von Féderico Garcia Lorca in „Pequeño Vals Vienés“ reicht – stets in einer nackten, aufs Skelett reduzierten Textur, die auch mal in harsche Stromgitarrenattacken münden kann. Wenig später geht Pérez Cruz unter die Schauspielerinnen, übernimmt die Hauptrolle in „Cerca De Tu Casa“, einem unter die Haut gehenden Sozialdrama über die Schicksale jener Spanier, deren Existenz durch die Immobilienblase vernichtet wird – den Soundtrack (Domus) schreibt sie gleich mit.

Und nun Vestida De Nit, ihre atemberaubende Visitenkarte für die klassische Sphäre. Mit dem Streichquintett um den Cellisten Joan Antoni Pich arbeitete Pérez Cruz seit mehr als drei Jahren auf großen Bühnen zwischen Cádiz und San Sebastian, bis sie sich nun zur Studioeinspielung entschloss. Das Repertoire umfasst etliche Lieder, die sie bereits in anderen Fassungen über Jahre erprobt hat, doch in diesem Kontext, Arrangements von vier verschiedenen Musikern, entfalten sie ungekannten Glanz und ein ausgearbeitetes Relief. Die „Tonada de Luna Lleva“, ursprünglich ein lyrischer Sehnsuchtsgesang an den Mond des venezolanischen Volkssängers Simón Díaz, wird hier in große Serenadendramaturgie gekleidet. „Loca“ zieht mit seinen Stimmenschichtungen über dem simplen Akkordwechsel in einen Vokalstrudel hinein, unentrinnbar und voll glühender Verzweiflung, und „Mechita“ lebt von pfiffigen Dialogen zwischen tänzerischer Stimme und Pizzicati der Instrumente.

Pérez Cruz‘ Affinität zum lusophonen Kulturraum zeigt sich in dem Wagnis, einen Amália Rodrigues-Fado zu covern, völlig freigeräumt von divenhaftem Pathos. Und ein fast spirituelles Geleit für ihren Vater, ebenfalls auf Portugiesisch, ist die Neufassung ihres „Não Sei“, das die Streicher introspektiv verfeinern. Mit „Ai, Ai, Ai“ veredelt sie Latinpop à la Shakira, und die bolivianisch-brasilianische „Lambada“ , Welthit der späten Achtziger, bekommt eine ganz andere Färbung, die die melancholische Grundsubstanz herausmeißelt.

Selbst das seit Leonard Cohens Tod ad absurdum genudelte „Hallellujah“ lässt sich hier wieder gut hören, gekrönt von einem Arrangement, das subtile Anleihen bei Dvořák und Ravel nimmt. Der emotionale Kern der ganzen Scheibe ist allerdings das Titelstück: Vor mehr als dreißig Jahren haben es Sílvias Eltern zusammen geschrieben, eine Habanera, die mit zarten Naturbildern von zimtbestreuten ruhigen Buchten und Wiegen aus Muschelschalen erzählt. Eine Gratwanderung, hier nicht in Kitsch abzurutschen – doch Pérez Cruz überhöht diese Lyrik zu einer zeitlosen Nostalgie, die zu Tränen rührt.

Sílvia Pérez Cruz ist in der Kategorie der größten Stimmen Iberiens anzusiedeln, schon jetzt, mit 34, vereinigt sie die Facetten einer Maria del Mar Bonet, einer Mariza, einer Lola Flores – und ich schreibe das im Bewusstsein, dass all diese Vergleiche hinken. Sie vereint die kulturellen Spektren und Sprachen von Lissabon bis Barcelona, plus Seitenpfade ins Latino-Gefilde, mit einer Gefühlsintensität, die nur ganz wenige Sängerinnen unserer Zeit erreichen. Mit ihrem Sopran kann sie mediterrane Sonnenkraft, südamerikanische Ausgelassenheit und die Archaik Jahrhunderte alter Arabesken bündeln. Ein Kritiker kommentierte, er würde sich gerne in eine Ameise in ihrem Haar verwandeln, um immer ihre Stimme hören zu können. Man muss es ja nicht übertreiben. Es genügte schon, ein größeres Publikum entdeckte sie endlich auch in unseren Breiten.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Vestida De Nit“ (live in San Sebastian)
Quelle: YouTube


Silvia Perez Cruz live in unserer „Nähe“:
30.5. Teatre Fortuny, Reus/Catalunya
13.7. Festival Les Suds, Arles/F
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