Vogel des himmlischen Gartens

Fotos: Stefan Franzen

Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian
In The Footsteps Of Rumi
Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier
10.09.2024

Das Festival Arabesques in Montpellier hat mittlerweile schon eine fast 20-jährige Tradition. An verschiedensten Spielorten der für mich schönsten französischen Stadt präsentiert das Team vorrangig Musikerinnen und Musiker, die im sogenannten Okzident noch keine klingenden Namen haben, der Entdeckungsfaktor ist groß! Für uns war es das erste Mal, dass wir in die Arabesken eingetaucht sind, und das Eröffnungskonzert entpuppte sich als überragendes Erlebnis.

Bei Constantinople handelt es sich nicht etwa um ein Ensemble aus Istanbul, sondern die Gruppe um den Exil-Iraner Kiya Tabassian ist in Montréal beheimatet. Der Name ergibt Sinn: Wie Montréal heute war Konstantinopel seinerzeit Drehscheibe der Begegnung von Völkern und Kulturen. Traditionen von Andalusien bis Anatolien, von den jüdischen Shtetls bis zur iberischen Romanze, von Korsika bis Persien bündelt Constantinople zu einer neuen Vision. Um den Lautenisten und Sänger Tabassian scharen sich zu diesem Zweck stets neue Gäste, etwa die Sängerin und Autorin Ghalia Benali aus Tunesien. Mit ihr haben sie das Projekt In The Footsteps of Rumi erarbeitet, das kleine Textauszüge in persischen und arabischen Versen aus dem immensen Werk des berühmten islamischen Mystikers des 13. Jahrhunderts zu neuen Arrangements setzt.

Das Konzert in der plüschigen Atmosphäre der vollbesetzten Opéra de la Comédie lebt vom Kontrast der beiden Stimmen. Reizvoll, wie Benalis tiefes, resolutes und machtvoll-erdiges Timbre wechselweise mit der feingliedrigen, verzückten Vokalkunst von Kiya Tabassian die spirituellen Metaphern interpretiert. Gestenreich deklamierend, vielleicht etwas zu plakativ unterstützt durch eine rote Federboa, trägt Tunesierin die Poesie vor. Tabassians Linien auf der Langhalslaute vereinigen und umschlingen sich mit den charakterstarken, selbstbewussten Improvisationen der Kastenzither Kanun (Didem Basar). Spannend, dass keine persische Kamancheh für die Textur gewählt wurde, sondern mit dem türkischen Schwesterinstrumente Kemence (Solistin: Neva Özgen) noch einmal ein ganz anderes Obertonspektrum zum Tragen kommt. Für die perkussive Stütze wählt Constantinople mit Patrick Graham und Hamin Honari ein Zweiergespann, das mit Rahmentrommel, Tombak und kleinem Schlagwerk-Set eine variable und flexible Rhythmusgebung ermöglicht.

Ich kann in den letzten Jahren auf wenige Konzertereignisse dieses Kulturraumes zurückschauen, die mich so in den Bann gezogen hätten. Besonders ergriffen hat mich das Stück „Morghe Bâghe Malakout“:

Ich bin ein Vogel aus dem Paradies, nicht vom Reich der Erde bin ich,
für ein paar Tage gefangen in meinem Käfig aus Fleisch und Knochen.
Die duftende Morgenbrise bringt Kunde von der Vereinigung,
mit Freude und mit Gesang werde ich diesen Käfig, diesen irdischen Thron verlassen.

Das Festival Arabesques dauert in Montpellier noch bis zum 22.9. an.

© Stefan Franzen

Constatinople feat. Ghalia Benali: „Morge Bâghe Malakout / Ya Mounir“
Quelle: youtube

Jeder Ton ein Kuss

Marisa Monte
ZMF Freiburg
02.08.2024

„Samba, Bob Marley und Stevie Wonder haben in meinem Innern immer in Frieden gelebt“, hat sie dem Autor dieser Zeilen einmal gesagt. Aufgewachsen im Umkreis von Rio de Janeiros Sambaschule Portela war Marisa Monte seit ihren frühen Alben der 1990er immer eine Brückenbauerin zwischen den Rhythmen Brasiliens und dem international verständlichen Pop. Sie ist eine der wenigen Brasil-Stars, die in Rio, New York und Berlin fast gleichermaßen bekannt sind. Jetzt ließ die 57-Jährige auf dem ZMF ihre Laufbahn schon mal Revue passieren.

Stimmige Gesamtkunstwerke mit leicht theatralischem Touch sind Montes Bühnenmarkenzeichen: Sie überrascht im eleganten schwarzen Flamencokleid samt Cordobés-Hut, wirkt unglaublich gelöst und kommunikativ. Ihre Hände fließen, ihre Augen scheinen im Rund des vollen Zeltes wirklich Jede und Jeden zu suchen. Und diese Stimme! In ihrer fruchtigen Bittersüße und ihrer schmerzlichen Wehmut immer präzise. Mit dem zeitlosen Porträt einer (freiheits-)liebenden Frau, „Maria de Verdade“ hat sie das Publikum sofort – die zahlreichen jungen, textsicheren Brasilianerinnen sowieso, die mit verzückten „Linda“- und Maravilhosa“-Rufen die Pausen garnieren. Marisa Monte ist ihre Taylor Swift.

Die eher ruhigen Songperlen aus Montes Fundus bestimmen große Teile der Show: das geheimnisvolle „Infinito Particular“ mit schwebenden Harmonien, der zirpende Walzer „Vilarejo“, oder das rhythmisch fast freie „Diariamente“ mit sprachspielerischen Plopp-Versen. Zu Brasiliens heimlicher Hymne, dem fast hundert Jahre alten „Carinhoso“, faltet sie die Hände zur Rose und zaubert chromatisches Melos. Zum Hinterhof-Samba „De Mais Ninguém“ mit dem Ukulelen-Instrument Cavaquinho und Brasiliens Mandolinen-Variante Bandolim wird an der Seitenlinie versunken getanzt. Hier ist jeder Ton ein Kuss, jede Phrase eine Umarmung.

Die Band bleibt dienend und unauffällig: Schöne Bassläufe schickt der unglaublich relaxte Altmeister Dadi Carvalho, Gitarrist Davi Moraes streut mal ein glitzerndes E-Gitarren-Solo ein, textiert sonst viel mit Liegetönen, und Drummer Pupillo ist eine Blaupause für Ruhepuls. Über der Perkussion thront ein Siebzehnjähriger: Pretinho da Serrinha tupft mit Conga, Holzblock, Tamburin und Brummtopf, ist auch ein Meister des Cavaquinho. Seine Feinheiten hört man selten, denn wieder einmal bleibt das Dauerärgernis ZMF-Sound: Angenehm in der Lautstärke zwar, aber so seltsam abgemischt, dass die Musiker wie hinter Gaze agieren, und Montes Stimme oft in der Band untergeht, statt sich über sie erhebt. Das tut dem Tanzfinale keinen Abbruch: Songs aus dem „Tribalistas“-Projekt wie der Ohrwurm „Já Sei Namorar“ mit Jubelrefrain und die wendige Funkyness von „A Menina Dança“ reißen alle von den Stühlen. Rio zu Gast am Mundenhof inklusive tropischem Regen – ein Abend purer Glückseligkeit.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 05.08.2024

Von Brooklyn in die Oase

Chassidische Kantoren aus Brooklyn auf dem Pfad des Soul und der Klassik, wilder Desert Blues aus dem Jemen, „Sufi“-Synagogen-Musik der Nachfahren aus einer marokkanischen Oase: Danke André Heller, für diese seelenvolle, erleuchtende und beglückende Jewish Night in der Elbphilharmonie!

 

Fotos: © Stefan Franzen

Rio trifft Genf

Ein Brasil-Star und junge Wilde aus der Romandie: Am Sonntag im Zürcher Moods ein grandioses Wiedersehen mit Joyce Moreno nach unserem Hausbesuch in Rio 2005 – und eine Entdeckung mit dem honduranisch-schweizerischen Gitarristen Louis Matute und seinem Large Ensemble. Zu ihm Anfang 2024 mehr!

Louis Matute Large Ensemble: „Renaissance“ (live aus Duc des Lombards)
Quelle: youtube

Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023

 

Intimer Ozean von Stimmen

Sílvia Pérez Cruz
Toda La Vida, Un Día
(Universal Spain)

live: Teatro Municipal Girona, Katalonien
21.04.2023

Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.

Sílvia Pérez Cruz: „Sin“
Quelle: youtube

In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.


Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.

Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Planetas I Orenetes“
Quelle: youtube

 

Ohrwürmer mit Posaune

CATT
Jazzhaus Freiburg
07.12.2022

Das Wendland – ein fruchtbarer Boden nicht nur für die Ökobewegung. „Zwischen Wäldern, Feldern, klassischem Pianounterricht und Posaunenchören“ ist Catharina Schorling dort aufgewachsen, verrät ihr Pressezettel. Als Mittzwanzigerin hat sie einen erstaunlichen Weg hinter sich: Versiert auf Klavier, Gitarre, Trompete, Posaune und Waldhorn veröffentlichte sie seit 2018 in viel Solo-Tüftelei zwei EPs und einen Longplayer, hat sich in etlichen Teamworks, etwa mit Niels Frevert und dem Filmorchester Babelsberg erprobt. Fürs zweite Album macht Schorling, Künstlermarke CATT, den Schritt zur Band. Die Show, die sie in dieser Besetzung im Jazzhaus hinlegte, ließ aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Junge bis sehr junge Frauen bevölkern das Gewölbe, dazwischen ein paar ältere Semester. Goldrichtig sind hier alle: denn Schorling kreiert zeitlose Liedkunst mit Ideenfülle und Raffinesse auf handwerklich höchstem Niveau. Song-Intros, die heute oft als verzichtbar gelten, sind bei ihr gleich mal klassisch ausgefeilte Prologe. Melodien schwingen sich von Ohrwurm-Passagen zu soulig jauchzenden Schleifen, wie etwa in „Moon“. „The Space“ hält als Überraschung organische Loops mit Trompete und Posaune parat, Folk-Tugenden mit Open Tuning auf der Gitarre begeistern in „I’m The Wind“.

Und dann die Band, der zweite Star des Abends: Mit knackigen Funkriffs grundiert Paul Rundel in „Willow Tree“, wechselt auch mal empfindsam zur Bratsche, flicht von seiner Moog-Station selten gehörte Keyboardeffekte ein. Drummer Michèl Martins Almeida hat genau das richtige Feingefühl, den Sound nicht mit zu viel Physis mundtot zu machen. Und immer wieder Gitarrist Felix Anton Remm: Sein grandioser Umgang mit Hall katapultiert hinaus in die Weiten des Alls, oder, im fantastisch sich steigernden „Sea“, mit Möwen-Sounds an den Küstensaum. „Ein Song kann eine Heimat sein“, bekennt Schorling. An diesem Abend hat sie vielen ein Obdach gegeben. Und die Erkenntnis: Songwriting aus Deutschland kann auch jenseits vom Feuilleton-Pop auf der einen und Radio-Dutzendware auf der anderen Seite richtig begeistern.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 10.12.2022

 

Liebesrausch am See

Ondes Martenot im KKL Luzern

„Turangalîla“-Symphonie (Olivier Messiaen)
Lucerne Festival, KKL Luzern
06.09.2022
Wiener Philharmoniker, Esa-Pekka Salonen, Bertrand Chamayou, Cécile Lartigau

Beim gewaltigen Fis-Dur-Schlussakkord geht Esa-Pekka Salonen nach 80 Minuten doch noch fast in die Knie, um die Wiener Philharmoniker zu einem gigantischen „Schwellkörper“ zu bündeln. Er, der vorher so beherrscht agierte, kraftvoll ordnete, sich nie zu gestischer Ekstase am Pult hinreißen ließ. Und das bei dieser Musik, in der nicht weniger als höchstes, aber immer auch bedrohtes Liebesglück verhandelt wird, und in ihm die Vereinigung mit dem Kosmischen.

Wie komponiert man so etwas? Der Franzose Olivier Messiaen entschied sich in seiner zehnsätzigen Turangalîla-Symphonie (1946-48) für das denkbar größte Besteck, das die eher kleine Bühne des KKL, Hauptschauplatz des Lucerne Festivals, gerade noch so fassen kann: ein ausuferndes Perkussionsarsenal, immenser Bläser- und Streicherapparat, Soloklavier und die ominösen Ondes Martenot, Tastenzauber der Elektro-Pionierjahre. Bei Messiaen finden fürs klangliche Abbild dieser kosmischen Liebe neben Wagners „Tristan und Isolde“ indische Metrik und balinesischer Gamelan Eingang in die Architektur, strukturbildend, nicht als Zierwerk. Trotzdem: Man muss das alles nicht unbedingt wissen, um sich von der sinnlichen Opulenz gefangen nehmen zu lassen. Denn beim Südfranzosen sind – wie auch in den explizit liturgischen Werken – metaphysische Verzückung und erotisch leuchtende Fülle eins.


Die Wiener legen unter Salonen einen Akzent auf den Kampf, der hier mit den dunklen Mächten in harter Arbeit ausgefochten werden muss. Blockartig herausgemeißelt die dräuenden Blechfanfaren und die harschen Schläge der Trommelabteilung dort, schwelgerisch gleißend die Streicher hier. Kommt da, inmitten der „Sensualité“ des „Chant d’Amour“, in einem kammermusikalischen Trio der berühmte Wiener Streicherklang zum Vorschein? Dazwischen zahnradartig, fast unerbittlich metallen, das stilisierte Gamelan-Ensemble mit seinen Uhrwerk-Rhythmen. Dann wiederum das Scherzo: Hier swingt es fast mit „jazzigen“ Kontrabässen.

Bertrand Chamayou, eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang, navigiert am Flügel durch all das souverän, schaltet unmerklich zwischen physischer Wucht der Solokadenzen – sein Tremolo in den höchsten Lagen gleicht dem Prasseln von Nadelstichen – und lyrischem Fluss, etwa in den plaudernden Unisono-Stellen mit der Celesta. Die rhythmische Eigenwelt der stilisierten „Vogelgesänge“ setzt er ganz divers um: Einmal mit aggressiven Gebärden, mit nach oben gereckten Handballen, man denkt hier fast an das Fressen und Gefressenwerden des Dschungelgesetzes. Im „Garten des Liebesschlafs“, diesem schimmernden Ruhepol dagegen mit hypnotischem Gleichmaß. In dieser träumerischen Gegenwelt in der Mitte der Symphonie wähnt man sich in einem opaken Glaspavillon, und die Zerbrechlichkeit hält Salonen durch punktgenaue Disziplin zusammen.

Der SciFi-Klang der Ondes Martenot dagegen stößt nur in ekstatischen Glissandi aus dem Orchesterbad heraus. Cécile Lartigau gelingt es besonders in den Solostellen, geheimnisvoll nachhallende Klanginseln zu schaffen. Welchen Vorteil die KKL-Akustik mit der immer nahen Bühne bietet, zeigt der Höhepunkt: Mit grandiosen Ritardandi führt Salonen zu den Ausbrüchen des abgewandelten „Liebestod“-Themas, hält danach in wagemutigen Generalpausen die Zeit an. Da „wohnten“ die Zuhörenden fast im Klang seliger Verschmelzung.

© Stefan Franzen, in Kurzfassung erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 09.09.2022

Funk vom Staatsfeind

Cimafunk (Foto: Stefan Franzen)

Cimafunk / La Yegros
Rosenfelspark Lörrach
26.07.2022

Globale Oase, Weltmusik-Wabe des Stimmen-Festivals: Der Rosenfelspark hat seine Pforten geöffnet. Doch diese Sehnsucht nach der einen Welt, die sich immer auch im Kennenlernen von Musik aus fernen Ländern abbildete, wie passt sie in den dritten pandemischen Sommer, in dem auch noch Krieg und Dürre die ach so liebgewonnenen Utopien austrocknen?

Offensichtlich lebt sie, trotz aller Hiobs-Meldungen. Denn für einen Dienstagabend ist der Park beachtlich und Generationen übergreifend gefüllt, und es kommt schnell ausgelassene Schwof-Atmosphäre auf, als Musiker mit bunten Federn und Bändern die Bühne betreten. Durch wehmütige Akkordeonlinien und das zehnsaitige zirpende Charango bläht sich ein krachig-erdiger Rhythmus. Mit Stubenfliegenbrille wogt Mariana Yegros heran, magenta-lila-giftgrün in Leggins, Tüll und Teufelsschwänzchen, eine Trash-Gewandung von der Karneval-Resterampe. Was von nun an so off-beatig schlurft und schiebt, ist die Cumbia, einst an der karibischen Küste Kolumbiens Paartanz, längst Lingua Franca der Música Latina schlechthin, von Mexiko City bis Buenos Aires. Dort ist La Yegros Platzhirschin des Genres, und sie zeigt uns auch, warum.

Bei ihr verschmilzt die Cumbia mit verwandten Tänzen wie dem nordargentinischen Chamamé zu einer packenden Synthese aus staubiger Dorfkirmes und neonschwangerem Großstadt-Club. Ihr beileibe nicht immer lupenreiner Gesang ist genauso marktschreierisch wie melancholisch, es stecken Rap-Passagen drin wie auch süffige Melodien. Andenflöten pusten, traurigen Vögeln ähnlich, ihre Weisen. Mit silbriger Patina scheppert die kleine Quetschkommode. Und die dumpfe Zylindertrommel Bombo wettstreitet mit dem Programming aus dem Keyboard, das satt farzende Bässe rausdrückt. Dazu bewegt man sich in behäbigen Moves, die das Publikum schnell versteht, und die auch noch bei irre hohen Temperaturen zu bewältigen wären. Glückliche Gesichter beim Armeschwenken und Hüftewiegen.

Mit sanftem Wiegen und Schlurfen ist es dann bei Erik Alejandro Iglesias Rodríguez vorbei. Der 31-jährige mit dem markanten Flat-Top ist das Leuchtfeuer der neuen Musik Kubas schlechthin, er steckt Son und Salsa mit dem Funk des Staatsfeindes USA unter eine Decke und beruft sich im Künstlernamen Cimafunk auf die Cimarrones, Sklaven, die sich durch Flucht der kolonialen Barbarei entzogen. Ein Freigeist, der mentale und stilistische Fesseln abgeschüttelt hat, sein Black Empowerment aber nicht zum offen politischen, vielmehr zum physischen Manifest macht. Das zeigt sich auf der Bühne wirkmächtig, gewaltig Zunder in der Hütte ist bei der achtköpfigen Band, vom ersten Takt an.

Bass und Rhythmusgitarre liefern ohne Wimpernzucken die perfekte synkopische Verzahnung. Flexible Eleganz gewinnt das Fundament durch Bongo und Conga, und immer wieder schmieren von den Tasten aus die typischen Ostinati der Música Cubana das Getriebe dieser dampfenden Funk-Lokomotive. Dass die Bläsersektion auf Trompete verzichtet, schattiert den Sound weg von der Brillanz der gewohnten Salsa-Combos hinein ins Dunkle. Nicht nur die heimlichen Stars sind Ilarivis Garcia Despaigne an Posaune und Katerin Ferrer Llerena an Saxophon (im George Clinton-Look mit fetter Sonnenbrille und quietschbunten Flechtsträhnen), auch choristisch und choreographisch eingespannt. Und da! Despaigne stellt mit einer scharfzüngigen vokalen Anmache den Chef plötzlich mal in den Schatten.

Aber klar, auch wenn er öfter mal das Spotlight freigeben mag für Soli seiner Mitstreiter, stetiges Epizentrum dieses Bebens ist Rodríguez dann doch selbst. Schnell ist sein Vintage-Shirt Geschichte, im Schweiße seines Oberkörpers, notorisch mit den Beinen zappelnd und beckenschwingend zelebriert er einen aufgekratzten, knackig-nasalen Gesang, durchbrochen von wildem lautmalerischem Silben-Stakkato. James Brown? Ein lahmer Hund dagegen. Nahtlos und rasend schaltet die Band zwischen den Songs, die oft von körperlichen Freuden künden: In „Rompélo“ („Hör auf dein Fleisch, wenn es schreit!“) schleicht sich ein Hauch Studio 54-Discoschwüle hinein, „El Regala’o Se Acabó“ kreiert über dem Slap-Bass einen drängenden Sog, der auch wirklich Jede und Jeden im Publikum mitnimmt.

Am Ende umtanzt man den Star zum Hit „Me Voy“ auf der Bühne: „Wenn du mit mir nach Hause kommst und es willst, dann gebe ich dir den Chuchu.“ Nochmal kehren die „Cimafunker“ zurück, um fast so etwas wie eine Ballade anzustimmen, über der Akkordfolge von „I Will Survive“. Werden wir klug genug sein, um zu überleben? Wenn ja, muss Cimafunk unbedingt auf die ewige Party-Playlist eines neuen Utopia.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 28.07.2022

JE Berendt 100


Es ist der 19. Oktober 1985 in der Baar-Sporthalle Donaueschingen. Ich sitze mit leichtem Kopfweh auf den Rängen und blicke hinunter auf eine noch leere Bühne. Die Leiterin des Musik-Leistungskurses hat uns zu den Musiktagen gelotst, wo wir in den letzten 24 Stunden etwa eine Uraufführung des „Oberlippentanzes“ für Piccolo-Trompete von Karlheinz Stockhausen oder den kompletten mehrstündigen Scardanelli-Zyklus für Orchester, Chor und Solo-Flöte (Aurèle Nicolet) aus der Feder von Heinz Holliger erlebt haben. In letzterem musste ich direkt neben den großen Abnahmemikros der Live-Übertragung im SWF immer wieder so laut lachen, dass man es im Äther landauf landab sicher gehört hat (stimmt – wie ich später bei einer Wiederholung der Sendung feststellen muss). Unterdrücken hilft nichts, man kennt das ja: Wenn ein Lachkrampf im öffentlichen Raum – in diesem Falle gar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – stattfindet, macht es alles nur umso schlimmer. Zu meiner Rechtfertigung füge ich an: Ein Kaugummi kauender Orchesterkontrabassist, schreiende Chordamen und ein Soloflötist, der Töne von sich gibt, die man einem gewissen Örtchen zuordnen kann (so zumindest meine damaligen Empfindungen), sind für einen 17-Jährigen große Herausforderungen an die Resilienz des Ernstes. Für mein Banausentum werde ich – und nicht ich allein! -von meiner Lehrerin gerügt. Zurecht.

Jetzt aber eine ganz andere Atmo als im steifen Konzertkritiker- und Musikwissenschaftler-Environment der Stadthalle. Eine heterogener Haufen von Musikern aus aller Welt schlendert auf die Bühne, fast aus jedem Erdteil sind welche dabei. „World Music Meeting“ heißt das, was hier die Donaueschinger Musiktage in den nächsten Stunden merklich auflockern wird, und ein Mann hat das zusammengestellt und organisiert, der heute 100 Jahre alt würde: Joachim Ernst Berendt. Was ich an diesem Abend hören darf, wird mit wegweisend für meinen weiteren Weg:

Das Brüderpaar Pandit Prakash und Vikash Maharaj aus Benares an Sarod und Tabla macht mich mit dem Raga-System bekannt, der Perkussionist Dom Um Romão bringt mich erstmals überhaupt mit brasilianischer Musik in Berührung, Luis Di Matteo am Bandoneón führt mir vor Ohren, wie anders ein Akkordeon jenseits des Atlantiks klingen kann. Posaune, Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug, Vibraphon und Steel Drum gruppieren sich außerdem in dieses Worldjazz-Ensemble. Später werden Auszüge dieses Abends als Live-Mitschnitt veröffentlicht, mit dem Titel To Hear The World In A Grain Of Sand (s.u.) – die Welt in einem Sandkorn hören, dieses Bild ist Berendt durch und durch, ich mag es auch heute noch. Vor der Pause explodiert das gemeinsame Musizieren in einem rasanten Stück, für das die beiden Inder das musikalische Thema vorgeben. Ich bin zwar nicht in einem exaltierten, anderen Geisteszustand, es ist kein überwältigendes Erweckungserlebnis: Der freigeistige Jazz-Aspekt überfordert mich damals noch ein wenig. Aber dieses Konzert ist ein Startpunkt.

Dom Um Romão: „The Angels“
Quelle: youtube

Von da an begegnete mir Joachim Ernst Berendt immer wieder, in Schriften, im Radio, auf Vorträgen. Und einmal auch als andächtiger Zuhörer bei einer der ersten Aufführungen von Rüdiger Oppermanns „Silberfluss“ in Baden-Baden. Um ihn noch als Jazzpapst der frühen Stunde in Aktion zu erleben, bin ich zu spät geboren. Aber ich werde über die zweite Hälfte der Achtziger Ohrenzeuge seiner Nada Brahma-Darlegungen und seiner „Das Dritte Ohr“-Soiréen, die mir die Welt als Klang erschließen, mich in die Philosophien asiatischer Kulturkreise und in Meditation einführen, mir ihre Bezüge zur modernen Physik aufzeigen. Die Vorstellung des tönenden Universums, einer höheren Ordnung, die auf Intervallen aufbaut, fasziniert mich bis heute, auch wenn ich sie so bedingungslos wie damals nicht mehr hinnehmen kann. Doch jedes Mal, wenn ich an den nächtlichen Sternenhimmel schaue und einen Planeten entdecke, habe ich noch die von Berendt herausgegebenen „Urtöne“ im Ohr – ob ich es will oder nicht.

Mein problematisches Verhältnis zur Neuen Musik hat sich seit den denkwürdigen Donaueschinger Musiktagen 1985 ein wenig verändert,  ist entspannter geworden. Ich muss darüber nicht mehr lachen. Die indische Melodie der Maharaj-Brüder aber habe ich immer noch im Ohr. Dafür, und für viele sich öffnende Tore zwischen Jazz, Weltmusik und spirituellem Aufbruch, vielen Dank, JEB!

© Stefan Franzen

„Hinglaj“ (live at Donaueschinger Musiktage 1985)
Quelle: youtube