SWR 2 Musikstunde: Der Atem des Himmels (Wdh.)

Foto: Stefan Franzen

Liebe Freundinnen und Freunde,

SWR 2 wiederholt ab Montag, den 30.01. meine Musikstunde von 2020:

„Der Atem des Himmels – eine musikalische Geschichte der Düfte“
SWR 2 Kultur, 30.01. – 03.02.2023, jeweils 09h05 – 10h

„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten. In der Kunst ist die Parfümerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik“, bemerkte einst Jean Cocteau. Zu welchen Liedern, Chansons, Songs, Symphonien oder Opernarien regten die Harze und Kräuter der Antike, die Blüten und Früchte des Mittelmeers, die Hölzer und Gewürze des Orients die musikalische Fantasie an? Welche Werke entstanden als Widmung an duftende Persönlichkeiten wie die Königin von Saba, Kleopatra, Louis XIV oder Coco Chanel? Und umgekehrt gefragt: Wie duften Puccinis Cio Cio San oder Tschaikowskys „Pique Dame“, welche Aromen verströmt ein Flamenco oder ein Tango in der Vorstellung der Parfumeure?

Um all diese nie ganz greifbaren, doch gerade deshalb immer schillernden, synästhetischen Abenteuer zwischen Nase und Ohren geht es in dieser Musikwoche, über 5000 Jahre hinweg, über fast alle Erdteile, von Babylon bis nach Buenos Aires, von den Pharaonen bis zu Kate Bush.

1. Von Myrrhe, Weihrauch und Balsam – die Wohlgerüche des Altertums (30.01.)

2. Tausendundein Aroma – die Düfte des Orients und Asiens (31.01.)
3. Vanille, Zimt, Orange und Jasmin – von den Tropen ins Mittelmeer (01.02.)
4. Könige, Romantiker und Synästheten – Streifzüge durch Europas Dufthistorie (02.02.)
5. Von Coco Chanel bis Kate Bush – Parfums der Neuzeit (03.02.)

Der Atem des Himmels – Eine musikalische Geschichte der Düfte (1-5) – SWR2

Die Sendungen sind nach der Ausstrahlung in der SWR-Mediathek abrufbar.

Yma Sumac: „La Flor De Canela“
Quelle: youtube

Parallelwelten

Johanna Summer
Resonanzen
(ACT/edel)

Die Plauener Pianistin Johanna Summer liebt Herausforderungen. Sie gilt als Jazzmusikerin, schlug mit ihrem „Schumann Kaleidoskop“ (2020) aber einen Weg ein, auf dem sie klassische Klavierkompositionen einer Neudefinition unterzieht, die mit dem Prädikat „verjazzt“ völlig verfehlt beschrieben wäre. Das wird umso ohrenfälliger auf ihrer zweiten Solo-Scheibe, auf der sich die 27-Jährige einem Repertoire von Johann Sebastian Bach bis György Ligeti widmet. Summer versenkt sich in die jeweilige Tonsprache, um das Baumaterial, die „Genetik“ eines Komponisten zu erfassen.

Aus dem Moment schöpfend entwirft sie dann eine neue Architektur. In ihrer Adaption der Bachschen Sinfonie Nr.11 in g-moll lockt sie spartanische Phrasen aus der Tiefe des Tonraums, die sich dann allmählich zur Polyphonie des Originals ordnen. Schuberts „Impromptu Nr.4“ gestaltet sie erst als Fantasie über seine typische Handschrift, bevor sie dann in Fragmente des bekannten perlenden Motivs einschwenkt. In einem Wiegenlied des Katalanen Federico Mompou fängt sie dessen Vorliebe für glockenartige Harmonien auf, die als Vorspiel zur Melodie dienen, und im „Prélude“ aus Ravels „Le Tombeau De Couperin“ lässt sie die Thematik sich aus irisierenden Tremoli entfalten.

Ähnlich verblüffende Entdeckungen lassen sich bei ihren Lesarten von Beethoven, Grieg und Tschaikowsky machen. Summer schafft also tatsächlich „Resonanzen“ zum Original, alternative Fakturen, Geschwister aus einer unbekannten musikalischen Parallelwelt.

© Stefan Franzen

Johanna Summer: „Grieg“
Quelle: youtube

Pionierin der Mbira

Sie hat die Musik ihres Volkes, der Shona aus Simbabwe, international und pionierhaft bekannt gemacht hat, ihr Instrument, das Daumenklavier Mbira war dabei das Vehikel. Nun ist Stella Chiweshe im Alter von 76 Jahren gestorben.

Als sie 1946 im Dorf Mujumi geboren wurde, hieß ihre Heimat auf der Weltkarte noch Rhodesien, und die Bedingungen für die lokale Kultur waren unter kolonialer Herrschaft hart. Sowohl die Regierung als auch die Kirche versuchten, die oft rituelle, heilige Mbira-Musik auszumerzen, sie musste heimlich weitergetragen werden. Stella Chiweshe musste als junge Frau außerdem die Hürde überwinden, dass ihr Instrument traditionsgemäß nur von Männern gespielt wurde. Sie setzte sich über diese Festlegungen hinweg, da sie überzeugt war, ihre Vorfahren hätten ihr mit dem Mbira-Spiel einen Auftrag gegeben. Als sie sechzehn Jahre alt war, erklärte sich ein Großonkel bereit, sie zu unterweisen. Schnell wurden ihre Fähigkeiten erkannt und sie erhielt den Titel „Queen Of Mbira“.

1974 trug Chiweshe mit der Gründung ihrer ersten Band die Mbira in die weltliche Musik hinein, das Stück „Kasahwa“ wurde zu einem großen Hit. Als die Kolonialherren sich 1980 zurückzogen, schloss sich Stella Chiweshe der National Dance Company des jungen Simbabwe an und tourte international. Im gleichen Jahrzehnt übersiedelte sie nach Deutschland, heiratete dort und eroberte mit ihrer Musik ein europäisches Publikum. Zahlreiche Plattenveröffentlichungen begleiteten ihre Karriere, beginnend mit der Scheibe „Ambuya?“ auf dem Label Piranha. Später kehrte sie in die Heimat zurück und gründete dort das Kulturzentrum Chivanhu Centre nördlich von Harare. Chiweshes Tochter Virginia Mukwesha führt heute das Shona-Erbe ihrer Mutter fort.

© Stefan Franzen

Stella Chiweshe: „Kasahwa“
Quelle: youtube

Side tracks #31: Gerappte Zeitgeschichte

Leserinnen und Leser dieser Seitenstrecken-Kolumne auf greenbeltofsound.de werden sich an den kanadischen Weltenbähnler Erik West Millette erinnern, den ich 2017 während meiner Reise in Montréal getroffen habe.

Mit seiner Band West Trainz hat Erik jetzt ein weiteres Großprojekt zu Ende gebracht: Auf dem Album Rail Nomads, das Anfang Mai erscheinen wird, erzählt er als Gesamtkunstwerk die Geschichte der Hobos, jener Bahnfahrenden auf dem nordamerikanischen Kontinent, die zu Zeiten der Great Depression als blinde Passagiere auf den Zügen mitfuhren, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Die West Trainz-Crew gestaltet diese historische Reise mit 24 grandiosen Songs und Instrumentals, in die wie immer jede Menge Eisenbahnsounds eingebaut sind und die quer durch den Erdteil geht, bis zur Terminal City Vancouver.

Als Vorbote ist jetzt die Single „Beat That Train“ erschienen, ein von Olaf „Slim Dane“ Gundel gerapptes Stück Zeitgeschichte. Ein Auszug aus dem Text:

Den Ozean würde ich queren, wenn sie eine Unterwasser-Linie bauen
Schreibe geheime Zeichen in den Regen, wie übersinnliche Flecken
Hab‘ kein Telefon, um daheim anzurufen, keine Hausschlüssel, die mir gehören
Meinen Hut hab‘ ich an den Wind verloren, und meine Schuhe lösen sich auf

In den leeren Schuppen höre ich die wilden Rufe der streunenden Hunde
Ich ziehe am Joint, um wieder Mut zu fassen, grabe nach Schätzen in Mülltonnen
Und wenn die Nacht kommt wie ein Flutwelle, wandere ich auf dem Grab eines Lebendigen,
laufe einem neuen Tag entgegen.

West Trainz: „Beat That Train“
Quelle: youtube

Die Hoffnung ist Brasilianerin

Foto: Jérome Witz

Der brasilianische Musiker Lucas Santtana sieht nach der Wiederwahl Lulas neue Chancen für sein Land. Musikalisch feiert er das mit seinem politisch und ökologisch engagierten Werk O Paraíso.

Tiefenentspannt klingt Lucas Santtana im Interview, nachdem er wie viele Musiker durch vier Jahre der Angst und Unwägbarkeiten während der Herrschaft Bolsonaros gegangen ist. Jetzt, nachdem Lula da Silva die Präsidentschaftswahl erneut für sich entschieden hat, keimt Optimismus in der Musikszene. Mit viel Prominenz aus Samba und Pop wurde gerade in Brasilia die Inauguration gefeiert, und mit Margareth Menezes soll eine der großen afro-brasilianischen Sängerinnen Kulturministerin werden. Doch auf welch wackligen Füßen die brasilianische Demokratie derzeit noch steht, konnte die Welt vor wenigen Tagen bei den Bildern der Erstürmung von Regierungsgebäuden sehen.

“Meine Hoffnung zielt darauf ab, dass die Verantwortlichen für die größte Korruption aller Zeiten, die der letzten vier Jahre, verurteilt und bestraft werden, inklusive das Militär”, sagt Santtana. Bolsonaro konnte es nur wagen, so skrupellos zu wüten, weil Brasilien als einziges Land Südamerikas den Machtmissbrauch der einstigen Militärdiktatur nie gerichtlich aufgearbeitet hatte, meint er. Für die neue Amtszeit setzt Santtana auf Lulas vielfach gerühmtes Geschick, mit seinen Gegnern in Dialog zu treten. “Aber ich glaube nicht, dass er die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft beenden kann, denn Polarisierungen gibt es bei uns seit Jahrhunderten.”

Gerade die brasilianische Kultur hat immer von Polarisierungen gelebt, die sich in der Musik als stilistische Brüche befruchten. So bleibt die Spannung hoch, und von Gegensätzen unterschiedlicher Art lebt auch Santtanas neues Werk O Paraíso: „Der Grundcharakter meiner Musik ist gerade dieses Blurring von Akustik und Elektronik“, stellt Santtana klar und zweigt dann in die Biologie ab: „Gerade habe ich was Interessantes über den Pilz physarum polycephalum gelesen: In Tokio haben sie sich durch seine Vernetzungsmuster inspirieren lassen, das U-Bahn-System zu verbessern. Das ist doch der Beweis, dass Natur und Technik voneinander profitieren können.“

So wie sie das in seinen neuen Kompositionen tut, die in Paris eingespielt wurden, mit Musikern, die, so sagt Santtana, alle multistilistisch unterwegs sind, mit einem offenen, kreativen Geist. Der spiegelt sich dann etwa in einem Song wie „Muita Pose, Pouca Yoga“ (viel Pose, wenig Yoga) wider, wo er mokante Kommentare über die Instagram-Inszenierungen der Jugend zu einer Kombi aus Pop-Keyboards und Samba-Groove setzt. Dafür hat er Sprüche aus provokanten Plakataktionen des Straßenkünstlers Daniel Lisboa verwendet. In „Vamos Ficar Na Terra“ wettstreiten Reggae und der nordöstliche Xote-Rhythmus mit der Elektronik – und all das dient zu einer beißenden Kritik am Menschenverächter Elon Musk, der zum Mars strebt, anstatt vernünftige Lebensbedingungen auf dem Heimatplaneten zu schaffen. Und in „What’s Life“ finden sich Synthesizer und ein Verweis an Kraftwerks „Roboter“ zu einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador da Bahia.

„Meine zentrale Frage auf diesem Album über das Leben auf unserem Planeten ist: Wollen wir Maschinen sein oder Natur? Bei aller Begeisterung für Künstliche Intelligenz, die gerade in der Luft liegt: Ich setzte für unsere Zukunft auf die Natur, auf das Wissen der Vorfahren. Nur dann werden wir eine Chance aufs Überleben haben.“ Für Santtana ist das Paradies schon da, man müsse es in der Vielfalt der Erde nur erkennen – und respektieren. Für mehr Kommunikation mit der Natur sind die Weichen in Brasilien nun gestellt. Santtana spricht anerkennend von Sônia Guajajára: Zum ersten Mal in seiner 500jährigen Geschichte wird Brasilien eine Ministerin für Indigene Völker haben. Außerdem sind am Tag nach Lulas Wiederwahl die Zahlungen in den Amazonas-Fonds wieder in Kraft gesetzt worden, die während Bolsonaros Amtszeit gestoppt wurden. “Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber natürlich müssen wir als Gesellschaft weiterhin Druck ausüben.“ Man könnte, anknüpfend an den bekannten Spruch „Gott ist Brasilianer“ auch sagen: Die Hoffnung, sie ist Brasilianerin. Zumindest für den Moment.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 13.01.2023

 

Lucas Santtana & Flore Benguigui: „The Fool On The Hill“
Quelle: youtube

Die Musik der Morgenröte

Foto: Nick Boothman

Heute darf ich euch auf eine Passage im Schweizer Rundfunk hinweisen, in der es um den portugiesischen Liedermacher José Afonso geht:

SRF 2 Kultur – Passage
Freitag, 13.01.2023 – 20-21h
José Afonso – musikalischer Pionier zwischen Poesie und Politik

von Stefan Franzen

Sein Lied „Grândola, Vila Morena“ gab am 25. April 1974 das Startsignal für die Nelkenrevolution. Für viele Portugiesen ist José Afonso eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes. Nun wird sein Werk auf dem eigens gegründeten Verlag Mais 5 neu aufgelegt.

Lehrer, Sänger, Antifaschist – die biographischen Facetten des 1987 verstorbenen Liedermachers sind vielfältig. Mit bildreicher Poesie kämpfte er gegen die Diktatur, wurde zum Sprachrohr der Arbeiter und Studenten, zur Ikone des Neubeginns. Seine Musik gilt als pionierhaft: Sie vereint Volksliedtraditionen mit afrikanischen Einflüssen, eine ausdrucksstarke Stimme mit spannenden Arrangements. Im Gespräch mit Afonsos Tochter Helena und dem Musikproduzenten Nuno Saraiva sowie anhand seiner musikalischen Meilensteine zeichnet Stefan Franzen das Bild eines Mannes, der mit seinem humanistischen Ansatz wieder hochaktuell ist.

José Afonso: „Venham Mais Cinco“
Quelle: youtube

Die Story von Joyce und Claus

Joyce & Mauricio Maestro in den Columbia Studios, New York 1977 (credits: Raymond Ross)

Angehender Brasil-Star trifft weltberühmten deutschen Produzenten in New York. Das Resultat: Eine legendäre Session in den Columbia-Studios. Doch die Aufnahmen erscheinen nie, gewinnen mythische Züge. Stoff für eine hochspannende Unterhaltung mit Joyce Moreno – zumal diese Sessions nun endlich, nach 45 Jahren (Natureza, Far Out) veröffentlicht worden sind.

Am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.

Wer 1977 auf der New Yorker East Street im total angesagten Disco-Schuppen „Hippopotamus“ tanzen ging, konnte gleiche nebenan einen neueröffneten Chill Out-Club namens „Cachaça“ entdecken. Stolperte man da rein, stand vielleicht gerade eine junge Brasilianerin auf der Bühne, flankiert von ein paar Landsleuten, zu denen der damals schon recht bekannte Perkussionist Naná Vasconcelos zählte. „Das war ein todschicker Club, und wir, ein Haufen wilder Youngsters, waren gleich für ein paar Monate gebucht“, erinnert sich Joyce Moreno, die damals freilich noch schlicht unter „Joyce“ firmierte. 1968 hatte sie mit ihrem Debütalbum in Rio das Zeitalter der Bossa Nova-Musen beendet, die nur das sangen, was ihnen die Männer auf den Leib schneiderten.

Ein Skandal, dass da plötzlich eine junge Frau aus weiblicher Perspektive selbst textete, und ihre Protesthaltung gegenüber dem Militärregime machte ihr das Leben als Musikerin nicht leichter. Jede Verpflichtung im Ausland kam da als Befreiung. In ihrer NY-Band trommelt João Palma, unter anderem Session-Mann von Frank Sinatra und Antônio Carlos Jobim – und als der die Songs hört, die Moreno im Jahr zuvor mit dem Sänger und Multiinstrumentalisten Maurício Maestro aufgenommen hatte, hat er einen Geistesblitz: „Das sollte unbedingt mal Claus hören.“ Claus? Will heißen: der Deutsche Claus Ogerman, jener legendäre, 2016 verstorbene Produzent, Arrangeur und Dirigent, der etliche Alben von Jobim mit dezenter, orchestraler Räumlichkeit veredelt hatte, darüber hinaus mit einer Starriege von Billie Holiday bis Bill Evans arbeitete.

Ogerman erwärmt sich sofort für das Material von Joyce Moreno und beraumt in den ehrwürdigen Columbia-Studios eine Session an. „Ich starb dafür mit Claus zu arbeiten, er war für mich eine Art Held!“, so Joyce. Kein Wunder, dass sie die Warnung ihres Freundes João Gilberto in den Wind schlägt. „Er war der Ansicht, Claus hätte sein gerade erschienenes Album ‚Amoroso‘ ruiniert, da die tiefen Frequenzen seiner Stimme nicht zu hören seien, er bezeichnete ihn gar als ‚Taugenichts‘. Aber so war João eben, ein schwieriger, aber lustiger Charakter. Ich denke, er war einfach eifersüchtig, dass Claus jetzt mit mir arbeiten wollte. Er schlug sogar vor, dass er selbst mein Album produzieren wolle. João Gilberto als Produzent, kannst du dir das vorstellen? Nie im Leben!“

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. In der Band, die Joyce zu Columbia mitbringt, spielt neben Gitarrist und Co-Autor Maestro, Vasconcelos und Palma auch ihr zukünftiger Gatte, der Drummer Tutty Moreno, den sie gerade kennengelernt hat. Die Amerikaner Buster Williams (b) und Jeremy Steig (fl) werden hinzugebucht. Was dann passiert, ist recht überraschend: „Claus griff überhaupt nicht ein“, erzählt Joyce. „Er war super respektvoll gegenüber uns und gab uns völlige Freiheit. Der Beweis dafür ist die elfeinhalbminütige Version von ‚Feminina‘. Wir wussten im zweiten Teil, der Jam-Sektion nicht, wie wir zum Ende kommen sollten, und er ließ es einfach laufen. Was du heute hörst, ist das Ergebnis eines einzigen Takes, live, ohne Overdubs, so, wie ich bis heute gerne aufnehme.“ Genau wie beim Stück „Pega Leve“ verspricht er Joyce, das Resultat sei ja perfekt, er habe nichts mehr daran zu ändern. Doch Ogerman wäre nicht Ogerman, hätte er nicht noch hier wie in den anderen Stücken allerhand Zutaten eingebracht: Nachdem die Brasilianer das Studio geräumt haben, bestellt er Michael Brecker, Mike Manieri und Urbie Green für Tenorsax, Vibes und Posaune ein, ersetzt Steigs Flötensoli durch Joe Farrell, und er textiert in einigen Tracks dann mit dem für ihn so typisch pastellfarbenen Streichorchester.

Nicht bei all diesen Eingriffen wird Joyce um ihr Einverständnis gefragt. Sie ist aus familiären Gründen mittlerweile nach Rio zurückgekehrt, bleibt mit Ogerman aber in Verbindung. Der aber will vor einer Veröffentlichung weitere Veränderungen durchsetzen. Zwei der sieben Stücken stammen aus der Feder von Maurício Maestro, melancholische Balladen im Stil der Clube da Esquina-Bewegung um Milton Nascimento. Joyce soll Maestros Leadgesang ersetzen. Und überhaupt: alle Gesangsspuren noch einmal neu auf Englisch einsingen. Eine rote Linie. „Er schlug mir als Übersetzer Michael Franks vor“, erklärt Joyce. „Aber was wäre von meinen Texten dann noch übriggeblieben? In ‚Feminina‘ geht es schließlich um den Dialog von Tochter und Mutter, die sich darüber unterhalten, was ‚Weiblichkeit‘ heißt. Ein Mann hätte das Thema völlig verändert.“ Und dann verweist sie darauf, was ihrem guten Freund Jobim passierte, der seine Bossa-Hits von Ray Gilbert und Norman Gimbel anglisieren ließ. „Auf eine Art war Jobim klüger, denn so konnte seine Musik um die ganze Welt reisen. Aber irgendwann sagte er zu mir: ‚Hätte ich das Geld, würde ich ‚The Girl From Ipanema‘ zurückkaufen.‘ Denn Gimbel, ein Typ, der übrigens nie in Ipanema war, verdiente vielmehr dran als der Urheber selbst.“

Als unüberbrückbar erweisen sich die Differenzen zwischen Ogerman und Moreno, die Sessions bleiben in der Schublade. Doch die Prima Materia aus NY, großartige Kompositionen wie „Feminina“, „Misterios“ oder „Moreno“, nimmt Joyce Anfang der Achtziger in Rio neu auf, sie begründen ihren Ruhm bei der Rare Groove-Gemeinde der 1990er. Unterdessen gelingt es selbst Verve, wo Moreno später unter Vertrag steht, nicht, einen Deal mit Ogerman hinzubekommen, der irrsinnige Summen für eine Veröffentlichung verlangt. Nur Christian Kellersmann von Universal kann sich die Rechte zweier Songs (das hymnische, im 7/4-Takt kreisende „Descompassadamente“ und „Feminina“) für die Kompilationen The Man And The Music und Trip To Brazil sichern.

„Dass diese Aufnahmen jemals komplett rauskommen, daran habe ich große Zweifel!“, sagte Joyce noch 2005, als wir sie für die Jazz thing-Homestory besuchten. Jetzt, siebzehn Jahre später, kann sie auf dem gleichen Sofa sitzend den Release verkünden. „Es ist der Beharrlichkeit von Joe Davis meines englischen Labels Far Out zu verdanken. Joe hat immer dafür gekämpft.“ Unter idealen Umständen erblicken die Natureza-Sessions das Licht der Öffentlichkeit nicht. Far Out hat die Musik von einem Cassetten-Mitschnitt runtergezogen, der in Morenos Besitz war, eine Feinabmischung war unmöglich, wohl aber ein Remastering mit den Optionen des Jahres 2022. Das reicht, um beim Anhören eine Frische und Lebendigkeit rüberzubringen, bei der man das Fehlen einer klaren Spurentrennung gerne in Kauf nimmt. Welche Alternativen ihrer Songs gefallen nun Joyce selbst besser? Ihre Antwort ist diplomatisch: „Die Versionen aus Rio klingen klarer, keine Frage. Aber die New Yorker Aufnahmen fangen einen ganz besonderen Moment in meiner Karriere ein.“ Der Mythos, er wurde endlich zum zweiten Leben erweckt.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #146

am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag von mir gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.

Joyce Moreno: „Descompassadamente“
Quelle: youtube

Aufflug III: Sílvia Pérez Cruz


Ebenfalls im Frühjahr erscheint ein neues Album der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz, die ich nach wie vor für eine der ganz großen Stimmen auf unserem Planeten halte. Heute hat Sílvia eine erste Tür für dieses Album geöffnet, für das Video hat sie zusammen mit dem portugiesischen Songwriter Salvador Sobral gearbeitet.

Und gleichzeitig hat sie ein wunderbares Weihnachtslied geschrieben, das ich heute zum Dreikönigstag teile, der in Spanien viel größer gefeiert wird als hier.

Sílvia Pérez Cruz: „Cançó De Nadal“
Quelle: youtube

Aufflug II: Yumi Ito


Dieses Jahr kündigt sich – genau wie 2022 – zu Beginn mit der Strahlkraft großartiger Stimmen an.

Im April wird die Basler Musikerin Yumi Ito ihr neues Werk Ysla veröffentlichen. Vom Large Ensemble des Vorgängers Stardust Crystals und der filigranen bis experimentellen Duo-Arbeit auf Ekual hat sie sich verabschiedet und entwirft hier eine neue ozeanische Songwriting-Welt mit ihrem Trio (Iago Fernandez, dr / Kuba Dworak, b) und Gästen.

Als Vorbote daraus hat sie bereits zwei Singles veröffentlicht, die erste gibt es hier, die zweite ist das heute erscheinende „Rebirth“. Hier setzt sie zu fantastischen, berührenden Höhenflügen mit ihrer Stimme an, die an Souveränität und Ausdruck noch hinzugewonnen hat.

Yumi Ito: „Rebirth“
Quelle: youtube

Aufflug I: Ralph Vaughan Williams


Das Jahr 2023 möchte ich mit einem Stück beginnen, das mir in der zweiten Hälfte der 1980er die Welt der englischen Spätromantik aufgeschlossen hat. So wie sich die Lerche aufschwingt in Ralph Vaughan Williams Romanze, wünsche ich der Welt, euch und mir die kommenden Monate: leicht, hoffnungsfroh, unverzagt und friedlich.

Das englische Ensemble Voces 8 hat mit dem Violinisten Jack Liebeck in einem ganz neuen Arrangement von Paul Drayton die menschliche Stimme in dieses ursprüngliche Instrumentalstück hineingebracht. So wird der Aufflug der Lerche noch seelenvoller.

Ralph Vaughan Williams: „The Lark Ascending“
Voces 8 & Jack Liebeck
Quelle: youtube