Die Hoffnung ist Brasilianerin

Foto: Jérome Witz

Der brasilianische Musiker Lucas Santtana sieht nach der Wiederwahl Lulas neue Chancen für sein Land. Musikalisch feiert er das mit seinem politisch und ökologisch engagierten Werk O Paraíso.

Tiefenentspannt klingt Lucas Santtana im Interview, nachdem er wie viele Musiker durch vier Jahre der Angst und Unwägbarkeiten während der Herrschaft Bolsonaros gegangen ist. Jetzt, nachdem Lula da Silva die Präsidentschaftswahl erneut für sich entschieden hat, keimt Optimismus in der Musikszene. Mit viel Prominenz aus Samba und Pop wurde gerade in Brasilia die Inauguration gefeiert, und mit Margareth Menezes soll eine der großen afro-brasilianischen Sängerinnen Kulturministerin werden. Doch auf welch wackligen Füßen die brasilianische Demokratie derzeit noch steht, konnte die Welt vor wenigen Tagen bei den Bildern der Erstürmung von Regierungsgebäuden sehen.

“Meine Hoffnung zielt darauf ab, dass die Verantwortlichen für die größte Korruption aller Zeiten, die der letzten vier Jahre, verurteilt und bestraft werden, inklusive das Militär”, sagt Santtana. Bolsonaro konnte es nur wagen, so skrupellos zu wüten, weil Brasilien als einziges Land Südamerikas den Machtmissbrauch der einstigen Militärdiktatur nie gerichtlich aufgearbeitet hatte, meint er. Für die neue Amtszeit setzt Santtana auf Lulas vielfach gerühmtes Geschick, mit seinen Gegnern in Dialog zu treten. “Aber ich glaube nicht, dass er die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft beenden kann, denn Polarisierungen gibt es bei uns seit Jahrhunderten.”

Gerade die brasilianische Kultur hat immer von Polarisierungen gelebt, die sich in der Musik als stilistische Brüche befruchten. So bleibt die Spannung hoch, und von Gegensätzen unterschiedlicher Art lebt auch Santtanas neues Werk O Paraíso: „Der Grundcharakter meiner Musik ist gerade dieses Blurring von Akustik und Elektronik“, stellt Santtana klar und zweigt dann in die Biologie ab: „Gerade habe ich was Interessantes über den Pilz physarum polycephalum gelesen: In Tokio haben sie sich durch seine Vernetzungsmuster inspirieren lassen, das U-Bahn-System zu verbessern. Das ist doch der Beweis, dass Natur und Technik voneinander profitieren können.“

So wie sie das in seinen neuen Kompositionen tut, die in Paris eingespielt wurden, mit Musikern, die, so sagt Santtana, alle multistilistisch unterwegs sind, mit einem offenen, kreativen Geist. Der spiegelt sich dann etwa in einem Song wie „Muita Pose, Pouca Yoga“ (viel Pose, wenig Yoga) wider, wo er mokante Kommentare über die Instagram-Inszenierungen der Jugend zu einer Kombi aus Pop-Keyboards und Samba-Groove setzt. Dafür hat er Sprüche aus provokanten Plakataktionen des Straßenkünstlers Daniel Lisboa verwendet. In „Vamos Ficar Na Terra“ wettstreiten Reggae und der nordöstliche Xote-Rhythmus mit der Elektronik – und all das dient zu einer beißenden Kritik am Menschenverächter Elon Musk, der zum Mars strebt, anstatt vernünftige Lebensbedingungen auf dem Heimatplaneten zu schaffen. Und in „What’s Life“ finden sich Synthesizer und ein Verweis an Kraftwerks „Roboter“ zu einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador da Bahia.

„Meine zentrale Frage auf diesem Album über das Leben auf unserem Planeten ist: Wollen wir Maschinen sein oder Natur? Bei aller Begeisterung für Künstliche Intelligenz, die gerade in der Luft liegt: Ich setzte für unsere Zukunft auf die Natur, auf das Wissen der Vorfahren. Nur dann werden wir eine Chance aufs Überleben haben.“ Für Santtana ist das Paradies schon da, man müsse es in der Vielfalt der Erde nur erkennen – und respektieren. Für mehr Kommunikation mit der Natur sind die Weichen in Brasilien nun gestellt. Santtana spricht anerkennend von Sônia Guajajára: Zum ersten Mal in seiner 500jährigen Geschichte wird Brasilien eine Ministerin für Indigene Völker haben. Außerdem sind am Tag nach Lulas Wiederwahl die Zahlungen in den Amazonas-Fonds wieder in Kraft gesetzt worden, die während Bolsonaros Amtszeit gestoppt wurden. “Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber natürlich müssen wir als Gesellschaft weiterhin Druck ausüben.“ Man könnte, anknüpfend an den bekannten Spruch „Gott ist Brasilianer“ auch sagen: Die Hoffnung, sie ist Brasilianerin. Zumindest für den Moment.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 13.01.2023

 

Lucas Santtana & Flore Benguigui: „The Fool On The Hill“
Quelle: youtube

Strandspaziergang der Hoffnung

© Herbert Franzen

Dieses Bild zeigt das Fort Santa Maria, gelegen an der südöstlichen Spitze der Allerheiligenbucht im Stadtteil Barra der bahianischen Metropole Salvador da Bahia. Gemalt hat es mein Vater nach einer Fotovorlage. Fast genau diesen Blick hatte ich vor 20 Jahren, im September 2002, als ich das erste Mal nach Brasilien aufgebrochen war. Ich erinnere mich noch gut, wie damals die VW-Busse mit  Megaphonen an der Strandpromenade entlang fuhren, um Wahlwerbung für Lula zu machen. Nach einer Schreckensherrschaft eines irren, menschenverachtenden Machthabers kann Brasilien sich nun hoffentlich wieder von den gesellschaftlichen und ökologischen Wunden – wieder unter Führung von Lula – erholen. Doch die Vorzeichen sind nicht mehr so günstig wie noch vor zwei Dekaden.

Hoffnung in Lula setzt auch der Songwriter Lucas Santtana, der aus Bahia stammt und im Januar sein neues Werk O Paraíso veröffentlichen wird. Über Brasiliens Zukunft habe ich mit ihm vor kurzem sprechen können, außerdem natürlich über seinen neuen Songzyklus, der hinter- und tiefgründig von den Chancen auf ein ausgewogenes Leben der Menschheit spricht. Das Paradies ist auf diesem Planeten schon da, so Santtana, wir müssen uns nur angemessen verhalten. Und dann können wir auch auf der Erde bleiben. „Vamos Ficar Na Terra“, so seine optimistische Vorabauskopplung aus dem Album, die er in akustischer Version spielt, während er an der Strandpromenade entlang geht, die sich an das Bild rechts oben anschließen würde. Der abendliche Blick fällt im Video auf das Fort Santa Maria von der anderen Seite. Mehr aus dem Gespräch mit Santtana dann Anfang 2023.

Lucas Santtana: „Vamos Ficar Na Terra“
Quelle: youtube