Listenreich: 2016

ALBEN

alben-2016

1. Bears Of Legend (CAN): Ghostwritten Chronicles (Absilone/Galileo)
2. Aaron Neville (USA): Apache (Tell It Records/Rough Trade)
3. Josienne Clarke & Ben Walker (GB): Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
4. Aynur, Kayhan Kalhor, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri (KURD/IR/ASB): Hawniyaz (Latitudes/Harmonia Mundi)
5. Ed Motta (BRA): Perpetual Gateways (MustHaveJazz/Membran)
6. Fraser Anderson (SCO): Under The Cover Of Lightness (Membran)
7. Graveola (BRA): Camaleão Borboleta (Mais Um Discos)
8. Osei Korankye (GHA): Seperewa Of Ghana – Ɛmmerɛ Nyina Nsɛ (Akwaaba Music)
9. Federspiel (A): Smaragd (col legno/Harmonia Mundi)
10. Pulsar Trio (D): Caethes Traum (T3 Records/Galileo)
11. Sivan Talmor (ISR): Fire (Chaos/in-akustik)
12. The Fretless (CAN): Bird’s Nest (Eigenverlag)
13. Sílvia Pérez Cruz (Katalunya): Domus (Universal Spain)
14. Maarja Nuut (EST): Une Meeles (Eigenverlag)
15. Emicida (BRA): Sobre Crianças, Quadris, Pesadelos & Lições De Casa (Sterns Brasil/Alive)
16. Ian Fisher (USA): Nero (Snowstar Records)
17. Nils Kercher (D): Suku (Ancient Pulse Records)
18. Oum (MAR): Zarabi (Galileo)
19. Tamer Abu Ghazaleh (Palästina): Thulth (Mostakell)
20. Gaye Su Akyol (TK): Hologram Imparatorluğu (Glitterbeat/Indigo)
21. The Breath (IRL/GB): Carry Your Kin (RealWorld/Rough Trade)
22. Roberto Fonseca (CUB): ABUC (Impulse/Universal)
23. Noura Mint Seymali (MAU): Arbina (Glitterbeat/Indigo)
24. Melingo (ARG): Anda (World Village/Harmonia Mundi)
25. Miramar (Puerto Rico): Dedication To Sylvia Rexach (Barbès Records)

SONGS

songs-20161. Bears Of Legend (CAN): „When I Saved You From The Sea“
2. Ian Fisher (USA): „Nero“
3. Mockemalör (D): „Punkerengel“
4. Fraser Anderson (SCO): „Simple Guidance“
5. Alejandra Ribera (CAN): „I Am Orlando“
6. Ed Motta (BRA): „Forgotten Nickname“
7. Cristina Branco (P): „As Vezes Me Dou Pro Mim“
8. Christa Couture (CAN): „Des Oiseaux“
9. Andrea Samborski (CAN): „Tiger Lillies“
10. Sivan Talmor (ISR): „I’ll Be“

KONZERTE

konzerte-20161. Alejandra Ribera (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 9.7.)
2. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (New Morning Paris, 2.6.)
3. Mulatu Astatke (Filature Mulhouse, 5.2.)
4. Manu Dibango (Jazzhaus Freiburg, 7.4.)
5. Richard Bona (Burghof Lörrach, 26.11.)
6. Glen Hansard (Heine-Park Rudolstadt, 10.7.)
7. Firas Hassan, Mohamad Fityan & Taufik Mirkhan (Synagoge Sulzburg, 1.9.)
8. Ballaké Cissoko & Vincent Ségal (Théâtre des Champs-Élysées Paris, 31.5.)
9. The Fretless (St. Agathen Schopfheim-Fahrnau, 7.10.)
10. Arezoo Rezvani & Murat Coskun (E-Werk Freiburg, 18.12.)
11. Anouar Brahem (Reithalle Offenburg, 13.11.)
12. Mbongwana Star (Kaserne Basel, 30.11.)
13. Building Bridges (E-Werk Freiburg, 30.10.)
14. German López (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 8.7.)
15. Hindi Zahra (Rosenfelspark Lörrach, 15.7.)

FILME

1. Genius (Michael Grandage, GB/USA)
2. Vor der Morgenröte (Maria Schrader, D/A/F)
3. Tim Maia (Mauro Lima, BRA)
4. Mali Blues (Lutz Gregor, D/MAL)
5. Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami, Afghanistan/Iran)
6. Love & Mercy (Bill Pohlad, USA)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Arrival (Dennis Villeneuve, CAN)
9. Frank Zappa – Eat That Question (Thorsten Schütte, D/F)
10. Iraqi Odyssey (Samir, Irak/CH/D/VAE)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION / LYRIK

1. Richard Powers: “Orpheus” (Fischer)
2. Harper Lee: „To Kill A Mockingbird“ (Grand Central Publishing)
3. Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fischer)
4. Arseni Tarkowskij: „Reglose Hirsche“ (Edition Ruderup)
5. Henry Thoreau: “Walden” (Barnes & Noble)

NON-FICTION

1. Michelle Mercer: “Will You Take Me As I Am – Joni Mitchell’s Blue Period” (Free Press)
2. Trevor Cox: “Das Buch der Klänge” (Springer Spektrum)
3. Alan Light: “The Holy or the Broken: Leonard Cohen, Jeff Buckley and the Unlikely Ascent of ‚Hallelujah'“ (Atria Books)
4. Jens Rosteck: „Jacques Brel – Der Mann, der eine Insel war“ (Mare)
5. Jonathan Franzen: „Farther Away“ (Picador)

AUSSTELLUNGEN

1. Giorgio Di Chirico – „Magie der Moderne“ (Staatsgalerie Stuttgart)
2. Lynette Yiadom-Boakye – „A Passion To A Principle“ (Kunsthalle Basel)
3. Paula Modersohn-Becker u.a.: „Worpsweder Landschaften“ (Kunsthalle Worpswede)
4. Joan Miró – „der leidenschaftliche Malerpoet“ (Kunsthalle Messmer Riegel)
5. Paul Klee – „L’Ironie À L’Œuvre“ (Centre Pompidou, Paris)

Fliehkraft aus dem Fado

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Als Nationalgenre übt der Fado in Portugal eine solche Gravitation aus, dass es schwierig ist, sich konsequent von ihm zu lösen. Cristina Branco hat es geschafft, genügend Fliehkraft zu entwickeln, indem sie sich mit der Indierock-Szene zusammengeschlossen hat. Kurioserweise ist Menina (VÖ 6.1.2017) gerade dadurch ihr reifstes Album geworden. In Köln konnte ich Cristina Branco zu ihrem neuen Werk befragen.

Auf Ihrem letzten Album Alegria sind Sie in die Schuhe von verschiedenen Persönlichkeiten geschlüpft. Auf Menina geht es weiter mit diesen Charakterporträts. Wie unterscheiden sich die beiden Alben?

Auf Alegria habe ich zwölf verschiedene Charaktere geschaffen, die ich verschiedenen Autoren gegeben habe. Die Charaktere waren nicht zwangsläufig Frauen, auch ein Clown war zum Beispiel dabei. Menina handelt aber ausschließlich von Frauen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Stärke. Im Portugiesischen können Frauen vom Moment ihrer Geburt bis zu ihrem Tod „menina“ genannt werden. Es ist das kleine Mädchen, die Tante, die eine alte Jungfer geblieben ist, die Witwe, die lange Beziehungsgeschichten hinter sich hat, auch die Prostituierte. Nur die verheiratete Frau heißt „senhora“. „Menina“ ist ein Kosewort, um Weiblichkeit zu feiern. Es wird auch verwendet, wenn man das Alter einer Frau nicht einschätzen kann. Ein blödes Beispiel: Als mir neulich ein Postbote ein Päckchen brachte, fragt er mich: „Sind Sie Menina Cristina Branco?“ „Und ich sagte: „Ja, das bin ich!“! Da war ich natürlich geschmeichelt. Ich fragte für dieses Album sehr junge Autoren an, sie kommen aus der portugiesischen Indierock-Szene. Ich bat sie, über mich zu schreiben. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ich heute bin, was ich bis jetzt getan habe, und versuchen, etwas über die Voraussetzungen zu schreiben, was es bedeutet, eine Frau zu sei. Eine Sichtweise junger Leute darauf. Und es geht nicht nur um mich: Es geht um ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Schwestern. Weiterlesen

Seemannsgarn aus Trois-Rivières

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Bears Of Legend
Ghostwritten Chronicles
(Absilone/Galileo)

Es ist Zeit, die CD des Jahres 2016 zu enthüllen. Im Todesjahr von Leonard Cohen war Kanada etwas mehr als sonst im Fokus der musikalischen Berichterstattung – und auch die Bears Of Legend, die aus Trois-Rivières zwischen Montréal und Québec City stammen, pflegen auf ihrem zweiten Werk Ghostwritten Chronicles großartige Liedkunst, allerdings an der Schnittstelle zum Folkpop und mit komplett anderer vokaler Färbung.

Der Songzyklus des Septetts ist von maritimen Themen getränkt: Das Ertrinken wird zur Metapher für Herzeleid, ein Strudel steht für die hilflose Verstrickung in Gefühlen, das Leben ist der endlose Ozean mit der Liebe als schaukelndem Boot darauf. Sänger David Lavergne trägt seine Verse mit waidwunder Stimme vor, ihn umweben ein melancholisches Akkordeon, munteres Banjo und Ukulele, ein warmes Cello, ausgeklügelte, fast klassische Piano-Linien und ab und an kräftige Rockdrums.

Die Stimmung schwankt zwischen großen Hymnen inklusive Chor wie “When I Saved You From The Sea” bis zu kompakten Popsongs (“Be Mine, All Mine”) oder auf Französisch gesungenen Sehnsuchtsballaden wie “Encore”. So gelingt es den “Bären” tatsächlich, einen großen Bogen vom Pop-Appeal à la Coldplay zur kleinen Folkkneipe um die Ecke zu spannen. Als Logbuch ist das Booklet mit seinen Bleistiftzeichnungen, Tusche-Lyrics und bunten Karten angelegt. Ein Gesamtkunstwerk, das endlich einmal wieder an die Kraft großer Melodien glauben lässt.

Bears Of Legend: „When I Saved You From the Sea“
Quelle: youtube

Bob Dylans Idol zu Ehren


Zum 100. Geburtstag würdigt eine LP-Box den Liedersammler und Feldforscher Alan Lomax

Wer auch immer sich ernsthaft mit US-Folk oder Weltmusik auseinandersetzt, wird früher oder später auf seinen Namen stoßen. Alan Lomax, der 2002 verstorbene Liedersammler und -forscher kann sich anrechnen, dass ohne ihn das Folkrevival in den USA einen anderen Weg genommen oder vielleicht gar nicht stattgefunden hätte – war er doch der erste, der die Songs des singenden Aktivisten Woody Guthrie aufnahm. Lomax war ein Pionier des „field recordings“, er ging hinaus, um mit seinem Tonbandgerät die Folklore der Völker einzufangen, in den Staaten, aber auch in der Karibik, im Mittelmeerraum, im keltischen Kulturkreis.

Ein ganzes Jahrhundert hat dieser Mann durchmessen: 1915 in Austin, Texas geboren unterbrach er sein Harvard-Studium, um bereits mit siebzehn seinen Vater John Lomax zu begleiten. Der arbeitete für die Library of Congress und zeichnete in den Südstaaten Lieder von Sträflingen und Farmpächtern auf. Ab 1935 führte der Sohn bis in die 1990er selbständig weiter, was der Vater begonnen hatte: den Stimmen derer lauschen, die sonst kein Gehör fanden und sie für die Nachwelt festhalten. Diese Arbeit ging nicht immer ohne Behinderung vonstatten: Bereits vor Beginn der McCarty-Ära war dem Parlament Lomax‘ Arbeit beim Archive of American Folk Song suspekt, man witterte kommunistische Umtriebe.

Der bedrängte Lomax ging in den 1950ern nach Europa, entdeckte dort irischen und englischen Folkgesang, Lieder aus Spanien und Mallorca, durchreiste Italien von Sizilien bis in die Lombardei. Seine Perspektive auf die Welt gewann weitere Dimensionen. Nach seiner Rückkehr forschte er weiter von Texas bis West Virginia, durchstreifte die Karibik Insel für Insel, ging nach Russland und Marokko. Unzählig sind die Aufnahmen, die seit den 1990ern auf CD und im Internet zugänglich gemacht worden sind. Durch seine Arbeit bewahrte Lomax nicht nur, er machte die Kulturen der Welt auch für neue Generationen von Musikern zugänglich, die seine Feldaufnahmen neu interpretierten, von Bob Dylan, den er in den Folk einführte über Michelle Shocked bis zu Betty Bonifassi, eine kanadische Sängerin, die Songs aus seinen afroamerikanischen Sammlungen gerade auf ihrem neuen Album Lomax mit hartem Bluesrock gepaart hat.

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Zu Lomax‘ 100. Geburtstag hat das Label Mississippi Records mit Root, Hog Or Die eine Box mit – passenderweise – 100 Songs auf sechs LPs veröffentlicht, die nun mit über einem Jahr Verspätung auch in Deutschland zu haben ist und exzellent als Einstieg in seine Arbeit dienen kann. Die Box soll, so die Kuratoren, als Würdigung und nicht wissenschaftliche Aufarbeitung verstanden werden, deshalb werden Chronologien und Geographien bunt durcheinander gewürfelt. Das führt umso deutlicher vor Ohren, wie global dieser Mann geprägt war, wie grenzenlos er dachte. Die Box offenbart auch, wieviel Prominenz Lomax neben all den namenlosen Männern, Frauen, Kindern und Congregations vor dem Mikro hatte: den Bluesmann Skip James, Pianist Jelly Roll Morton, die gerade wiederentdeckte britische Folklady Shirley Collins oder auch Bob Dylan, dessen erste Version von „Masters Of War“ er auf Band bannte.

Begleitet werden die LPs von einem schmalen Textheftchen, in dem auch ein Essay von Lomax selbst abgedruckt ist. Eine klar zuordbare Listung der Aufnahmedaten fehlt, die wäre schon wünschenswert gewesen. Die Entdeckerfreude beim Hören schmälert das ein bisschen. Und während man den Aufnahmen einer vergangenen Ära lauscht, die getreu der ursprünglich analogen Herangehensweise nur auf – exzellent klingendem – Vinyl präsentiert werden, mag man sich fragen, was Alan Lomax heute noch für eine Bedeutung hat. „Ich will, dass alle Kulturen gleichermaßen verbreitet werden“, sagt er in dem abgedruckten Aufsatz. „Kulturelle Gleichheit sollte in die Liste aller anderen wichtigen menschlichen Grundrechte aufgenommen werden.“ Allein dieser Satz zeigt, wie bitter nötig wir eine Persönlichkeit wie Alan Lomax heute hätten.

© Stefan Franzen

Root Hog Or Die (6LPs)
(Mississippi Records/Fenn Music Vertrieb)

 

Edelstein aus Krems

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Federspiel
Smaragd
(col legno/Harmonia Mundi)

Die Wachau ist als Weingegend auch über die Grenzen Austrias hinaus bekannt, aber die Qualitätsstufen der dortigen Tropfen dürften nur Önologen ein Begriff sein. „Federspiel“ etwa heißt ein trockener Wein von ordentlicher Kabinett-Güte, Smaragd (benannt nach der Smaragdeidechse, die in den Rebmauern umherflitzt) ein edler, kraftvoller Wein, der auch international konkurrenzfähig ist. So wie das Septett aus Krems an der Donau, die in der Neuen Volksmusik ihrer Heimat momentan federführend sein dürften. Passenderweise auf dem Wiener Label col legno, die in ihrem breiten, bis in zeitgenössische Klassik reichenden Katalog immer wieder außergewöhnliche Alpinklänge fördern, erscheint ihr neues Werk. Die Musiker mit sechsmal Blech (Trompeten, Flügelhorn, Posaunen, Tuba), Klarinette und Zither bauen eine abenteuerliche Brücke von Melancholischem bis Fetzigem und teils chromatisch Aufgebrochenem aus der Heimat zur ungeraden Balkanmetrik und zum Gershwin-betupften Jazz. Als Prunkstücke zwischen all den Hörnern siedeln innig gejodelte Apfelbauern- und Klarinett-Dudler.

Federspiel: „Avsked“
Quelle: youtube