Haus am See

Nein, ich spiele hier nicht auf den Hit von Peter Fox an. Heute geht es um Sergej und Natalja und ihre Villa Senar am Vierwaldstättersee. Das Gewässer scheint eine besondere Anziehungskraft für ruhebedürftige Komponisten gehabt zu haben. Wenige Minuten außerhalb von Luzern residierte ab 1866 im Tribschener Landhaus Richard Wagner, wir aber wenden uns an diesem herbstlichen Ausflugstag mit dem Schiff dem Ort Hertenstein auf der anderen, der Rigi-Seite des Sees zu.

Nach 15 Minuten Fahrt taucht ein safrangelbes, kubisches Anwesen auf. Es bildet einen nüchternen Kontrast zur runden, sanften Umgebung eines Parks. Das ist das Grundstück, auf dem Sergej Rachmaninoff fast die ganzen dreißiger Jahre hindurch eine der glücklichsten Phasen seines Lebens verbrachte.

Erst einmal betätigte er sich als Landschaftsarchitekt und griff kräftig in die Natur ein: Er sprengte das Ufer ab, baute Stützmauern, füllte das Gelände auf und ebnete es ein, ließ Bäume angeblich gar aus Russland kommen, und er beauftragte die Schweizer Architekten Alfred Möri und Karl Friedrich Krebs, die 1931 bis 1933 eine Villa im Bauhaus-Stil errichteten.

Er nannte sie Villa Senar, eine Verschränkung seines Vornamens mit dem von Ehefrau Natalja. Man kann sich am See kaum einen idyllischeren Platz vorstellen. Von der riesigen Terrasse und den Zimmern eröffnet sich eine spektakuläre Aussicht auf den Pilatus und den Bürgenstock.

Lange Jahre der kreativen Blockade waren den Schweizer Jahren vorausgegangen: Rachmaninoff feierte zwar riesige Erfolge als Klaviervirtuose in den USA, neue Werke schuf er kaum, ihm fehlte in der Neuen Welt die Inspiration des alten Russlands. Die Sehnsucht nach dem Eingebundensein in die Natur wie auf seinem Landgut Iwanowka, das er 1917 für immer verlassen hatte, fand in Hertenstein schließlich eine Erfüllung.

Der Virtuose und Geschäftsmann wurde wieder Komponist, schuf seine berühmten Paganini- und die weniger bekannten Corelli-Variationen und eine dritte Sinfonie. Die fand verhaltenen Anklang. Rachmaninoff erinnert sich: „Ihre Aufnahme bei Publikum und Kritikern war säuerlich. Eine Rezension liegt mir besonders schwer im Magen: dass ich keine 3. Symphonie mehr in mir habe. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass dies ein gutes Werk ist. 1939, bei Ausbruch des Kriegs, verließ Rachmaninoff die Schweiz und kehrte zurück nach Amerika.

Sergej Rachmaninoff dirigiert die 3. Sinfonie (Philadelphia Orchestra, 11.12.1939)
Quelle: youtube

Neuerdings kann man sein Anwesen wieder besichtigen. Bis 2012 hatte es noch sein Enkel Alexander bewohnt, danach bemühte sich der russische Gewaltherrscher um den Kauf. Glücklicherweise erwarb nach etlichem Hin und Her der Kanton Luzern die Liegenschaft und wandelte sie zusammen mit der Rachmaninoff-Stiftung zu einem Kultur- und Bildungszentrum um.

 

Schlendert man durch die Räume, sieht man eine nahezu unveränderte Einrichtung: Bis auf die Betten ist das Mobiliar noch vorhanden, man staunt über plüschige Sitzgruppen, exotische Lampen und originelle Standuhren, sogar der Geruch der 1930er scheint sich konserviert zu haben. Herzstück ist der angegliederte Kubus zur Seeseite hin: das Musikzimmer mit dem Original Steinway-Flügel von 1934, zur Wand hinzeigend, denn der Meister wollte beim Spielen das Licht auf Händen und Partituren.

 

Die sind noch in einem Wandregal gesammelt, und der Schreibtisch erweckt den Eindruck, Rachmaninoff könne jederzeit zurückkehren.

Am extra langen Flügel finden heute regelmäßig Konzerte statt und neuerdings auch CD-Aufnahmen. Der litauische Pianist Lukas Geniuşas hat hier kürzlich die erste Piano-Sonate in der schweren Originalfassung eingespielt.

Lukas Geniuşas spielt die Piano-Sonate No 1 in der Villa Senar
Quelle: youtube

Eine schöne Abrundung zum Thema Rachmaninoff wurde mir letzte Woche beim Besuch des Konzerts des Philharmonischen Orchesters Freiburg geschenkt. Die junge, ukrainisch-russische Dirigentin Anna Rakitina war zu Gast und bündelte souverän und mit sagenhafter Übersicht besonders den Schluss-Satz seiner Zweiten in eine mitreißende Dramaturgie.

alle Fotos  + © Stefan Franzen (außer Philharmonisches Orchester FR: Susanne Göhner)

Leeds statt London

Foto: Emily Dennison

London ist im britischen Jazz nicht alles: Mit Jasmine Myra eröffnet am 17.9. im Jazzhaus Freiburg eine junge Saxophonistin und Komponistin aus Leeds das Jazzfestival Freiburg. Vorab habe ich mit ihr gesprochen.

Langsam dürfte hierzulande durchsickern, dass die Jazzszene in Großbritannien nicht nur mit Londoner Leuchttürmen wie Nubya Garcia oder Shabaka Hutchings bestückt ist. Nördlich der Hauptstadt – und dafür steht mit dem Schotten Fergus McCreadie ein weiterer Festival-Act – gibt es derzeit viel Entdeckenswertes. „In Leeds bekommen Musikerinnen und Musiker natürlich nicht so leicht Zugang zu einem Label oder Unterstützung durch ein Management. Das hat dazu geführt, dass wir dort einen enormen Gemeinschaftssinn entwickelt haben, alle helfen sich gegenseitig“, so Myra. „Und dabei spielt es keine Rolle, was für ein Genre man pflegt, der Jazz dort fächert sich von Einflüssen aus Hip Hop bis Afrobeat auf.“ Stilistisch, so beobachtet sie, gibt es aber eine klare Tendenz: Während man in London auf Improvisation setzt, bevorzugt man in Leeds durchkomponierte Stücke und ausgefeilte Arrangements. Und das ist auch charakteristisch für ihre eigene Arbeit.

Mehrere Vorbilder waren es, die Jasmine Myra während ihres Jazzstudiums am Leeds Conservatoire prägten. Es kostete sie einige Zeit, um für ihr Instrument, das Altsaxofon, einen Leitstern zu finden: „Ich mochte schon viele Saxophonisten, aber oft war mir ihre Musik technisch zu kompliziert, oder sie hatten eine angeberische Attitüde. Dann hörte ich Cannonball Adderley, und ich stellte fest, dass er einfach und kraftvoll zugleich spielt, dass er Humor hat. Aber was er macht, ist natürlich sehr weit weg von meinen Kompositionen.“ Was die hohe Kunst des Arrangierens angeht, da schwärmt sie vom Kanadier Kenny Wheeler, der mit seinen elaborierten Schichtungen für Large Ensemble wegweisend war. „Wie er Harmonie und Melodie in Beziehung setzt, das ist unglaublich clever.“ Schließlich gibt es eine ausgeprägt lyrische Seite in Myras Kompositionen, die stellenweise fast an die klassischen Komponisten der englischen Spätromantik wie Frederick Delius oder Ralph Vaughan Williams denken lässt. Hier haben ihr die ruhigen Klanggemälde des Isländers Ólafur Arnalds auf die Sprünge geholfen.

Mittlerweile hat Myra ihren eigenen Sound gefunden, und man kann ihn auf dem im letzten Jahr erschienenen Album Horizons erkunden. Ihr Ziel war es, sich mit ihrer Instrumentalmusik von den konventionellen Besetzungen einer Jazzband zu entfernen. Zwei Flöten, Harfe und Streichquartett formen neben Sax, Gitarre, Keys, Bass und Percussion die Textur der Stücke. Unterstützung erfuhr sie vom Produzenten Matthew Halsall aus Manchester, der mit seinem Gondwana Orchestra im Norden Englands seit Jahren ebenfalls einen starken Large Ensemble-Akzent setzt. „Matthew hat ein exzellentes Ohr dafür, was zusammen funktionieren kann. Er hat mich sehr ermutigt, als ich mit der schrägen Idee ankam, eine Harfe ins Ensemble zu integrieren.“ Myra zieht als Ideengeber für den Kompositionsprozess eine riesige Spotify-Playlist hinzu und schreibt ihre Stücke am MIDI-Keyboard, fixiert dann Note für Note. „Ich bin eine sehr visuelle Person und habe gerne alles, was ich entwerfe, vor mir auf dem Bildschirm. Aber nachher lasse ich meinen Musikern auch mal die Möglichkeit, sich vom niedergeschriebenen Arrangement zu entfernen.“

Von dieser spannenden feinen Linie zwischen Freiheit und Fixiertem lebt Horizons. Die Flöten und die Harfe sorgen für pastorale Pastelltöne, die Grooves schmiegen sich an eine tanzbare Downbeat- Philosophie, in den Harmonien gibt es einen spannenden Widerstreit zwischen klassischem Jazz, minimalistischem Pop und dezenten Verweisen auf die Ästhetik der Electronic Dance Music. Dabei ist Myra wichtig, dass trotz opulenter Besetzung eine luftige, transparente Architektur bleibt, kein Wall of Sound entsteht. In Freiburg wird sie das Album mit acht Musikern – inklusive Harfe! – auf der Bühne umsetzen. „Mein Management fragte mich: ‚Jasmine, du willst also tatsächlich mit einem Oktett auf Tour gehen?‘ Und ich sagte: ‚Ja, sicher!‘ Meine Musik braucht eben jeden Musiker, die Stücke würden leiden, wenn man auch nur eine Flöte wegließe!“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung (Ausgabe vom 13.09.2023)

Infos zum Jazzfestival Freiburg: Jazzfestival Freiburg | Einmal jährlich: Ein einzigartiges Programm mit regionalen sowie internationalen Jazzgrößen und Newcomer*innen (wpcomstaging.com)

Jasmine Myra: „Horizons“
Quelle: youtube

Geschichten aus dem Breinländ


Ein Kontrabass, und wie er die Welt sieht: So könnte man die Vision von Georg Breinschmid beschreiben. Bassist, Komponist, Arrangeur, Bandleader, Liedschreiber, Schauspieler und Wortakrobat: Dieser Mann ist eine der spannendsten Persönlichkeiten Österreichs. Die Wiener Philharmoniker und das Vienna Art Orchestra als Lehrjahre, Experimente zwischen Balkan, Dadaismus und Soul, immer wieder die originelle Rückkehr zum Wienerlied, und vor allem das aktuelle Album Classical Brein: Über all das hat Georg Breinschmid mit mir bei einem langen Frühstück geplaudert.

Für die JazzFacts im Deutschlandfunk habe ich daraus ein Porträt des Wiener Musikers erstellt: Die „Geschichten aus dem Breinländ“ werde am Donnerstag, den 22.6. von 21h05 – 22h ausgestrahlt, danach sind sie eine Woche lang online nachzuhören.

Brein,Schmid & Gansch: „Ragga“
Quelle: youtube

Nahostgipfel in der Friedensstadt

Melissa Yıldırım, Foto: Nilay Islek

Das Morgenland Festival Osnabrück hat in der deutschen Festivallandschaft mit seinem Fokus auf Musik zwischen Levante und Zentralasien eine Ausnahmestellung. Zum Start der 18. Ausgabe am 21. Juni habe ich mit dem Festivalleiter Michael Dreyer über das musikalische Konzept gesprochen, über die politische Dimension, und darüber, ob ein Begriff wie „Morgenland“ noch zeitgemäß ist.

 

Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt?

Dreyer: Die Antwort ist ganz banal. Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Gerade in den ersten Jahren haben wir viel mit iranischen MusikerInnen gearbeitet. Ich bin damals häufig gefragt worden: „Warum machst du das Festival nicht in Berlin oder Hamburg, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber Osnabrück ist wegen seiner überschaubaren Größe für beide Seiten toll, da begegnen sich Musiker und Publikum nach den Konzerten in der Einkaufszone, alles ist fußläufig. Unser Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi. Und natürlich passt der Titel „Friedensstadt“ wunderbar dazu, aber das hat sich nur zufällig so ergeben.

Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort „Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit „Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses märchenhafte Wort noch zeitgemäß?

Dreyer: Als ich 2005 begann den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem „Middle East“ nur schlimme politische Nachrichten, kaum etwas über zivilgesellschaftliche Themen, geschweige denn Musik. Gibt es Jazz in Syrien, HipHop in Iran? Niemand schien das zu wissen. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, aufs Morgen hingedacht. Da jetzt auch die englischsprachigen Besucher von „Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Mit der Terminologie ist es nicht ganz einfach. „Orient“ vermeide ich, „islamische Welt“ trifft es natürlich auch nicht. Korrekt müsste man es „Westasien“ nennen. Und musikalisch könnte man sagen, eine Musik, die auf Maqam basiert. Aber auch das stimmt wiederum nur teilweise.

Als einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst?

Dreyer: Das Morgenland Festival Osnabrück wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass die Gesellschaften östlich des Mittelmeeres sehr patriarchalisch geprägt sind. Aber was wir etwa im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, was für eine starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die am besten ausgebildeten Menschen die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen, und sie sind oft Anstoß gesellschaftlicher Prozesse. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.

Das Miteinander von Musikern aus dem „Morgenland“ mit den Musikern aus dem „Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?

Dreyer: Die eigene Tradition zu pflegen ist ja etwas sehr Schönes. Heikel finde ich, wenn man von kulturellem Austausch spricht, aber defacto spielen nur MusikerInnen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ihre Soli über einem Bordun. Ich lade MusikerInnen ein, die offen sind für einen Austausch, der darüber hinausgeht. Das funktioniert gut mit MusikerInnen der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert spielen, und im Jazz, weil alle als improvisierende MusikerInnen schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbricht, bei der beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren, sondern beide Seiten sollen ihre Identität behalten und daraus Neues entstehen lassen. Das ist eine Metapher auch für ein gesellschaftliches Miteinander.

In den Begegnungen zwischen Ost und West spielt im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr ist die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne.

Dreyer: Ich habe 2009 das Morgenland Chamber Orchestra gegründet. Das war eine Antwort auf Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, dem ich iranische MusikerInnen vermittelt hatte.  Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische, arabische und persische MusikerInnen und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren ihre Musik. Im Morgenland Chamber Orchestra spielten Studenten aus Iran, Aserbaidschan, Syrien und Irak, und ein paar KollegInnen aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Seitdem, und das ist 11 Jahre her, war es mein Wunsch, einmal Aynur mit einem vollen Symphonieorchester zusammenzubringen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker. Er leitet die Jazzabteilung der Musikhochschule Hamburg, arrangiert auch für Rammstein oder Helene Fischer, aber seine Liebe gilt ganz besonders dieser Art von musikalischen Projekten.

Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden?

Dreyer: Layale Chaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens „The Bow and the Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85. Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und ließ sich auch nicht sinnvoll kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Poesievertonung, vom iranischen Dichter Hooshang Ebtehaj.

Layale Chaker & Sarafand: „Moonset Rain“
Quelle: youtube

Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen?

Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten. Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung zu politischen Themen, doch die gehört hier nicht hin. Vielleicht ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.

Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu programmieren, mit wenigen Worten zusammenfassen?

Dreyer: Man kann aus dem Negativen heraus agieren. Zurzeit reden wir viel über Postkolonialismus, Eurozentrismus, all das sind ganz wichtige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de am 19.06.2023

morgenland-festival.com

Aftab Darvishi: „Safar“
Quelle: youtube

 

Wohin statt Woher!

Rabih Lahoud von Masaa (Foto vom Künstler zur Verfügung gestellt)

Drei deutsche Jazzmusiker und ein deutsch-libanesischer Sänger-Poet: Aus dieser Kombination entsteht bei Masaa eine einzigartige Klangwelt. Die Stimme der Band, Rabih Lahoud, reflektiert im Interview über das Ankommen in Deutschland, sein Verhältnis zu einer sich verändernden arabischen Sprache und über die Kategorisierungen in Weltmusik und Jazz.

aktuell: SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag mit Masaa am Dienstag, den 2.5. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell aus: Radio SRF 2 Kultur – SRF

Rabih Lahoud, wenn man das neue Masaa-Album Beit (Veröffentlichung: 28.4.) hört, hat man den Eindruck, dass die Musiker sehr direkt die Hörer ansprechen, der Sound ist nah und warm. „Beit“ bedeutet ja auch „Haus“, „Heim“. Heißt das, Masaa sind nach Jahren der Wanderschaft zuhause angekommen?

Lahoud: Das würde ich bejahen, zumindest ist auch das mein eigenes Gefühl. Nach 20 Jahren bin ich jetzt hier ein bisschen mehr angekommen. Die Hälfte meines Lebens bin ich jetzt hier, mitgestaltend, nicht als Gast. Ich sage nicht mehr: „Hier bin ich woanders“. Sondern: „Jetzt bin ich hier“. Und diese Musik, diese meine Ideen tragen dazu bei, wie die Klanglandschaft hier ist.

Was bedeutet Beit als Albumthema genau, in einer Zeit, in der immer mehr Menschen gezwungen sind, ihren Schutzraum zu verlassen, in der viele Häuser zerstört werden, durch die gewaltige Explosion im Hafen von Libanon, durch den Krieg in der Ukraine? Haben diese Ereignisse Einfluss gehabt auf die Entstehung der Platte?

Lahoud: Ja, absolut. Das ist eine Überlegung, die sich intensiviert hat nach diesen Ereignissen. Ich sehe das Konzept von „Haus und Heim“ als ein doppeltes. Zum einen, das historische Sesshaftwerden der Menschheit. Zum anderen aber auch etwas Internes: Was bedeutet das wirklich, sich zuhause zu fühlen? Was für viele Menschen normal ist, jst heute für viele, viele nicht mehr selbstverständlich, sondern ein Privileg geworden. Am Ende des Titelstücks singe ich immer wieder: „Keine Häuser zerstören, Häuser bauen!“ Das kann man auch metaphorisch verstehen. „Hatdem“ heißt zerstören, „dammara“ aufbauen. Die arabische Sprache ist da sehr rhythmisch in ihrer Struktur, und daher hört sich das fast an wie ein Spiel mit Rap.

Daheim kann man sich ja auch in einer Sprache fühlen. Auf früheren Alben haben Sie auch auf Deutsch gesungen, das ist jetzt weggefallen, die meisten Ihrer Texte sind auf Arabisch, und die sind länger geworden als früher. Ist das Arabische trotz der langen Abwesenheit vom Libanon immer mehr Ihr Zuhause?

Lahoud: Ich glaube schon. Meine Beziehung zum Arabischen hat sich verändert. Ich fühle mich wohler im Sprechen, deshalb verwende ich vielleicht auch mehr Wörter. In meinem Alltag als Jugendlicher war vor allem der Klang der Sprache etwas Schönes, nicht die Bedeutung der Worte. Jetzt langsam haben für mich die Wörter neue Bedeutungen, neue Erfahrungen, ich habe das Gefühl, ich kann das zulassen. Es klingt jetzt mehr nach Rabih als nur nach Arabisch.

Wo steht die arabische Sprache heute als künstlerisches Ausdrucksmedium?

Mein Gefühl ist, dass die arabische Sprache etwas durch die osmanischen und europäischen Einflüsse eingebüßt hatte. Besonders im Libanon war dieser Einfluss ja groß und wir haben dort heute eine Mischung von Sprachen. Das ist einerseits wunderbar, denn der Mensch ist ein Wesen, das sich anpassen kann, um der Kommunikation willen Dinge transformieren kann. Das ist insbesondere ein libanesischer Wesenszug: Man verlässt Identitäten, um in Kommunikation zu bleiben, es geht darum, dass man sich versteht. Andererseits hat diese wunderbare Sprache dadurch auch ein bisschen ihr Herz verloren, indem sie sich vielleicht minderwertig oder nicht up to date fühlt. Denn es gibt viele Wörter der modernen Welt, für die das Arabische heute keine Entsprechungen hat. Das Arabische braucht meiner Meinung nach eine künstlerische Unterstützung. Es darf nicht die Fähigkeit verlieren, dass man Schönheit und Zärtlichkeit und Kraft ausdrücken kann.

Verändert sich die arabische Sprache auch durch die Umwälzungen seit dem „Arabischen Frühling“?

Lahoud: Ja, total. Ich fühle einen Umbruch, eine Wende, eine Veränderung im Bewusstsein der jungen Menschen, vor allem der Generation, die jetzt nachkommt, nach dem „Arabischen Frühling“. Die Sprache wird als etwas behandelt, das wiedergeboren werden muss. Ich habe den Eindruck, junge Leute verwenden in den Social Media Dialektausdrücke aus den einzelnen Regionen jetzt pan-arabisch, und dadurch entsteht eine neue Hochsprache, eine neue Ausdruckskraft. Das wird in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren auch in den Strukturen der arabischen Gesellschaft sichtbar werden.

Haben Sie nur zur arabischen Sprache eine neue Einstellung gewonnen, oder auch zur Musik Ihrer ersten Heimat?

Lahoud: Früher habe ich nicht mit arabischen Skalen gearbeitet, war eher auf Distanz. Inzwischen fasziniert mich die klassische arabische Musik und ich recherchiere über sie. Ich merke jetzt, wie wertvoll das ist, wenn wir diese Schatzkiste in den Masaa-Sound hineinnehmen. Ein Stück auf „Beit“, eine Widmung an den Musiker „Zeryab“ aus dem Córdoba des 8./9. Jahrhunderts, steht zum Beispiel im Nahawand-Modus. Das ist eine Skala, die mit dem europäischen Moll verwandt ist. Aber es gibt in der arabischen Musik eben viele Molls: In Aleppo hört sich Moll durch andere Mikrointervalle ganz anders an als in Kairo. Durch diese feinen Unterschiede öffnen sich ganz verschiedene Welten.

Im Stück „Nabad“ gibt es die schöne Zeile: „Nimm das Gewicht der Vorfahren weg“. Ist das ein Plädoyer dafür, dass wir uns als bloße Menschen begegnen sollten, unbelastet von politischen Altlasten der Vergangenheit?

Lahoud: Ja, in dem Sinne: Wir müssen leichter damit umgehen, mit welchen Menschen wir uns verbinden, um es der Zukunft zu ermöglichen, dass sie anders aussieht. Das gilt aber auch für das überholte Denken in musikalischen Stilen. Wir müssen uns von der jahrzehntelang gehegten Sortierarbeit befreien, in der es immer hieß: „Was ist Jazz, was ist Weltmusik?“. Das ist für mich auch ein Gewicht. Die Einordnung unserer Band in die „Weltmusik“ ist nicht immer böse gemeint, aber der Begriff fragt immer wieder: „Woher kommst du?“ Jazz in seinem ursprünglichen Geist fragt eher: „Wohin willst du? Was willst du mit dem machen, was du hast?“ Lass uns Musik so betrachten: Guckt sie wohin? In die Zukunft? Macht sie Hoffnung? Vibriert sie im Magen oder nicht? Und lass uns das suchen und stärken und fördern.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Masaa: „Freedom Dance“
Quelle: youtube

Revolution in dreikontinentalen Tönen

Aufgewachsen ist sie im Iran, studiert hat sie in Kanada und zu musikalischer Reife gelangte sie in Wien, wo sie seit 2008 lebt. Die Sängerin, Songschreiberin und Multiinstrumentalistin Golnar Shahyar hat mit ihren Prägungen aus drei Erdteilen eine außergewöhnliche Musik zwischen Jazz, Songwriting und persischen Roots mit starken Texten geschaffen. Ein Gespräch über ihr Album Tear Drop (Klaeng Records) und ihr Verhältnis zur Bewegung „Frau – Leben – Freiheit“.

Golnar Shahyar, wenn man Ihrer Stimme zuhört, hat man den Eindruck, dass Sie oft innerhalb ein- und desselben Stückes in verschiedene Persönlichkeiten schlüpfen, so unterschiedlich sind die Färbungen.

Ich sehe meine Stimme als Spiegel meines Charakters, ich habe eine große Neugier, unterschiedliche Menschen kennenzulernen. Außerdem bin ich in drei verschiedenen Kontinenten aufgewachsen, mit drei verschiedenen Kulturen, Sprachen, Verständnissen vom Leben. Meine Stimme ist daher eine Mischung von allen musikalischen Welten, die ich entdeckt habe, in denen ich mich finden konnte. Ich bin nicht nur beeinflusst von den vielen Musiktraditionen aus verschiedenen Folk-Regionen im Iran, auch von nordwestafrikanischer Musik, von Jazzvokalistinnen, von Vokalkünstlerinnen, die experimentelle Sachen mit der Stimme gemacht haben.

Ein wichtiger und langjähriger musikalischer Partner ist für Sie der Gitarrist Mahan Mirarab. In der neuen Band spielt aber auch Mario Rom an der Trompete eine herausragende Rolle.  Ist er ein besonderer Dialogpartner, ein Spiegel oder ein Gegengewicht zu Ihrer Stimme?

Man kann sagen: Eine Erweiterung der Stimme. Ich finde, die Freiheit, die Mario auf dem Instrument hat, ist  sehr befreiend. Das spiegelt meine Gefühle sehr stark, in der Art und Weise, wie er spielt, spiegelt, wie ich gerne klinge und gerne singen möchte. Mario war eine ganz wichtige Person in diesem Klangteppich, den ich gemacht habe. Mahan hat mir extrem viel beigebracht, mit ihm habe ich meine erste Banderfahrung. Und seine Haltung als Freidenker, der auch Autodidakt ist, hat mir so viele Türen geöffnet zur ganzen Welt der Klänge, die wir haben, ohne Separierungen, ohne Hierarchierungen, ohne Präferenzen. Einfach eine Neugier auf die Sprache von Musik und wie es klingen könnte, wenn wir das mit unserer eigenen Identität vermischen. Dass ich meine eigene musikalische Sprache finde und erfinde, das habe ich auch sehr stark in mir gehabt. Also war unser Treffen sehr passen, weil wir ähnliche Ziele und Zugänge zur Musik gefunden haben.

Mahan Mirarab feat. Golnar Shshyar:“ Say Your Most Beautiful Word“
Quelle: youtube

Ihre Musik klingt sehr international, hat aber immer wieder den Rückbezug zum Iran. Wie entstehen Ihre oft sehr langen Songs?

Mein Weg um Musikerin zu werden, ist kein typischer gewesen, ich habe wirklich sehr spät mit bewusstem Hören angefangen, habe vorher Biologie studiert. In Kanada und Österreich habe ich zum Beispiel die Arbeit von Joni Mitchell entdeckt, ihre Musik und ihre Poesie war eine große Inspiration. Die iranischen Skalen sind mir vom Hören her vertraut, ich verwende sie, schreibe aber nicht nach ihren strengen Regeln. Gleichzeitig lasse ich mich von der Musik anderer Regionen der Welt beeinflussen, in meinem Stück „Ode To Trust“ etwa hört man die Gesänge der mauretanischen Frauen heraus. Alle diese Einflüsse finden in meiner Musik zusammen eine eigene Sprache.

Sie haben im Laufe der letzten Jahre in etlichen Bandprojekten mitgewirkt, Tear Drop ist jetzt das erste Album unter Ihrem eigenen Namen. Die Aufnahmen sind auch unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse im Iran seit September 2021 entstanden. Ist die Musik für Sie ein Mittel, um diese Zeit zu bewältigen?

Shahyar: Das ist eine komplexe Thematik. Ich finde es sehr interessant, dass dieses Album genau zu dem Zeitpunkt rauskommt, zu dem die Revolution stattfindet. Denn was gerade im Iran passiert, ist eine Revolution, obwohl wir noch keine politische Veränderung sehen. Ein kultureller und gedanklicher Sprung ist schon passiert in unseren Köpfen. Deshalb nenne ich das eine gedankliche, kulturelle Revolution. Das war aber ein langjähriger Prozess, den wir alle durchgemacht haben. Die Entdeckung von mir selbst, um mich, meinen Charakter, meinen Klang zu finden durch meine Musik, ist ein Teil dieses Prozesses gewesen. Ich komme ja aus einer Generation, in der wir nach dem Krieg mit dem Irak keine Idole mehr hatten. Unsere Präsenz wurde aus der Öffentlichkeit gestrichen. Unsere Identität hat nicht existiert. Ich sehe dieses Album als „Blume“, meine persönliche Reise, die sich auch in den aktuellen Ereignissen der iranischen Kultur spiegelt. Es ist, als ob diese konstante Suche jetzt plötzlich ein Bild hat. Und in meinem Fall, im Fall von Tear Drop hat sie auch einen Klang.

Sie leben in Wien, sind also gewissermaßen „weit weg“ von den Ereignissen. Wie können Sie die Bewegung „Frau – Leben – Freiheit“ unterstützen?

Shahyar: Weil ich im Ausland bin, habe ich eine Plattform, auf der ich meine Musik präsentieren kann. Ich kann sehr viel Energie weitergeben, Musik hat diese Kraft, sie bringt Menschen zusammen. Durch meine Musik kann ich die Intentionen nach einer Änderung verstärken. Und das tue ich so viel ich kann. Natürlich würde ich sofort ins Gefängnis gehen, sobald ich in den Iran reise, aber außerhalb des Landes, egal wo, wenn ein Platz geschaffen wird für ein „Frau – Leben – Freiheit“-Event oder Proteste, nutze ich meine Stimme und meine Musik.

Wird Ihre Musik denn im Iran gehört?

Shahyar: Ja, aber dort habe ich keine große Plattform. Und in der iranischen Diaspora zählt meine Musik auch zu einer Nische, es ist ja keine populärer, sondern ein neuer Klang, der erst noch seinen Platz finden muss. Sehr häufig wird die Stimme von Frauen im Iran als traurig gedacht, aus einer Opferrolle heraus. Doch auf diesem Album habe ich nicht nur über Leid und Traurigkeit gesungen, sondern auch über die Macht der Stimme, über Freude, diese unendliche emotionale Quelle, die wir in uns haben. Ich erkenne also nicht nur diese Trauer an, sondern auch die Macht etwas zu ändern.

Ihr Lied „Tell My Mother She Has No Daughter Anymore“ wendet sich direkt an das Unrechtsregime, worum geht es da?

Shahyar: Darum, dass es so verdammt schwierig ist, dein Kind loszulassen und nicht zu wissen, ob es zurückkommt! Und natürlich um noch etwas: Dass die Frau jetzt ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt. Sie geht auf die Straße und riskiert ihr Leben. Früher haben immer Männer gekämpft und es wurden über Männer Slogans geschrieben, die ihr Leben für das Land oder die Freiheit geben, aber jetzt ist es die Frau. Das ist extrem stark. Extrem stark! In dieser kulturellen Revolution hat sich die Frau emanzipiert. Sie hatte immer schon gekämpft und extrem hart gearbeitet, aber ihr Image war nicht so. Jetzt stimmen Realität und Image überein. Das verstärkt diese Bewegung. Es ist extrem schön zu sehen, aber natürlich auch sehr traurig.

Ein ganz starkes Stück auf Ihrer Platte, „Maman Djan“, ist Ihrer Großmutter gewidmet, das dazugehörige Intro dem Vogel Simorq aus der iranischen Mythologie. Wie passt das zusammen?

Shahyar: Meine Großmutter hat mich sehr geprägt. Diese Frau war so voller Leben, voller Liebe, voller Schönheit und Wärme. Aber sie hat auch ein sehr schwieriges Leben gehabt, das hatte sowohl kulturelle als auch familiäre Gründe. Ich beschreibe meine Großmutter im Lied auch symbolisch, stellvertretend für das Schicksal von vielen Frauen ihrer Generation. Ich beschreibe sie als Simorq, dieses mythische Symbol für Schönheit und Kraft und Führungsstärke, das all diese Jahre marginalisiert und unterdrückt wurde. Der Simorq mag im Käfig sein, doch seine Träume gehen weiter. Die Natur des Menschen ist so: Er wird immer wieder nach Freiheit streben.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de am 12.4.2023

Golnar Shahyar: „Ode To Trust“
Quelle: youtube

 

Recherche in der Subsahara

DJ Steloo (Foto: Ensemble Recherche)

„Spotted: Subsahara“ heißt das aktuelle Programm des Ensemble Recherche mit zeitgenössischen afrikanischen Kompositionen. Zum Brückenschlag zählt auch eine Improvisation mit einem DJ aus Ghana. Das Ziel: Gleichberechtigte Begegnung statt eurozentrischem Blick.

Elektronische Klänge flackern durchs Ensemblehaus. Verfremdetes Flussplätschern, klackernde Rhythmen, dann ein grelles akustisches Signal. Eine Autohupe oder Tram-Bimmeln? DJ Steloo aus der ghanaischen Hauptstadt Accra hat diese Geräusche in Freiburg gesammelt. „Wenn die Leute mir neugierig zuschauen, wie ich mit meinem Aufnahmegerät unterwegs bin, ist das für mich schon eine Street Performance“, sagt er. Die Klänge will er mit Sounds aus Accra kombinieren und unter Beteiligung des Ensemble Recherche zu einem Stück bauen. Mit Pianist Klaus Steffes-Holländer und Perkussionist Christian Dierstein hat er schon gearbeitet. „Ich finde es von Vorteil, dass ich gar keinen Hintergrund mit klassischer Musik habe, so kann ich die Klänge des Ensembles ganz anders umarmen.“ Er ist begeistert, dass die Freiburger Musiker sich ihrerseits auf Improvisationen einlassen.

Steloo hat das Konzept des DJs zu einem Gesamtkunstwerk geweitet. Im Interview sitzt er mit verspiegelter Sonnenbrille und einer bunten Kopfbedeckung, die auch an eine alte Pilotenkappe erinnert. Mode und Musik gehören in seiner Performance untrennbar zusammen. „Oft haben Europäer immer noch eine Vorstellung von afrikanischer Musik, die von Trommeln ausgeht. Doch der Klang Afrikas wächst, verändert sich. Leute wie ich versuchen Stereotypen zu sprengen.“

Neben dem mit Steloo erarbeiteten Stück stellt das Ensemble Recherche vier südafrikanische und einen nigerianischen Tonschaffenden der zeitgenössischen Musik vor. Den Dialog zum anderen Erdteil auf Augenhöhe anzulegen, ist das Anliegen des Programms „Subsahara“. „Es gab eine lange Phase von musikalischem Exotismus. Aber heute ist es nicht mehr akzeptabel, dass man eine Plünderung außereuropäischer kultureller Ressourcen vornimmt“, sagt der australische Komponist Paul Clift, neuer künstlerischer Leiter des Ensemble Recherche. „Unsere Frage ist: Wie können wir einen behutsamen Kontakt schaffen, ohne koloniale Geisteshaltungen zu zementieren, ohne dass eine musikalische Syntax die andere ertränkt?“

Begonnen hatte das bereits mit der Reihe „Postcolonial Recherche“. Die Arbeit mit Komponistinnen und Komponisten rund um die Welt stellte die Musiker vor Herausforderungen. Partituren bestanden oft aus verbalen Anweisungen oder gar graphischen Darstellungen von Tieren und Pflanzen. Als Guide durch die Landkarte aktueller Kompositionen Afrikas fungiert für das Ensemble der Südafrikaner Bongani Ndodana-Breen, der Clift kuratierend zur Seite stand und steht. Er wird selbst mit dem Werk „Two Nguni Dances“ vertreten sein, das sich zwar in westlicher Notation fixieren lässt, aber trotzdem seine Arbeit mit der Tradition durchscheinen lässt. Sein Landsmann Njabulo Phungula hat mit “A Tap Releases The New Harmony” ein geschaffen, das seinen Impuls aus einer gestischen Gedichtzeile von Arthur Rimbaud bezieht. „Es mag sich für europäische Ohren fast ‚leer‘ anhören, es lässt viel Raum für Vorstellungskraft und Allegorien“, so Clift.

Mit Monthati Masebe und Tebogo Monnakgotla sind zwei Frauen mit ungewöhnlichen Perspektiven im Programm: Masebe antwortet als Gender Rights-Aktivistin mit ihrer Arbeit auf patriarchale Normen ihrer Heimat, stellt aber auch koloniale Hierarchien auf den Kopf: Im Stück „Meraro“ fordert sie von den westlichen Instrumenten, sich auf die Klangwelt indigener Mundbögen einzustellen. Monnakgotla dagegen bringt durch ihre Sozialisierung in Schweden eine Erneuerung der Ursprungskultur in Form von Streichtrios ein.

Während sich in Südafrika durch eine Infrastruktur mit Orchestern und Konzerthallen Traditionen oft mit westlichen Elementen vermischt haben, mag der Beitrag des Nigerianers Ayo Oluranti unsere Erwartungen an das „Afrikanische“ eher zu befriedigen, weil er auf der perkussiven Apala-Musik mit Polyrhythmen und Wiederholungen basiert. Aber ist das nicht schon wieder einer unserer Stereotypen? Es sind spannende Fragen, die das Ensemble Recherche mit „Subsahara“ anstößt. Clift stellt im Kontakt mit Afrika sogar den Begriff des „Komponisten“ zur Disposition: „Muss das immer ein Individuum sein, das seine Vision hierarchisch mit einem Ensemble teilt? Warum ‚Komponist‘ nicht verstehen als eine kollektive soziale Einheit?“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 06.03.2023

Konzert: „Spotted: Subsahara“, Jazzhaus Freiburg, 8.3. 20h
Radio: Über die Arbeit des Ensemble Recherche wird das SRF 2 Musikmagazin am 11.3. ab 10h einen Beitrag bringen

Ayo Oluranti: „Ina Ran“
Quelle: youtube

Die Hoffnung ist Brasilianerin

Foto: Jérome Witz

Der brasilianische Musiker Lucas Santtana sieht nach der Wiederwahl Lulas neue Chancen für sein Land. Musikalisch feiert er das mit seinem politisch und ökologisch engagierten Werk O Paraíso.

Tiefenentspannt klingt Lucas Santtana im Interview, nachdem er wie viele Musiker durch vier Jahre der Angst und Unwägbarkeiten während der Herrschaft Bolsonaros gegangen ist. Jetzt, nachdem Lula da Silva die Präsidentschaftswahl erneut für sich entschieden hat, keimt Optimismus in der Musikszene. Mit viel Prominenz aus Samba und Pop wurde gerade in Brasilia die Inauguration gefeiert, und mit Margareth Menezes soll eine der großen afro-brasilianischen Sängerinnen Kulturministerin werden. Doch auf welch wackligen Füßen die brasilianische Demokratie derzeit noch steht, konnte die Welt vor wenigen Tagen bei den Bildern der Erstürmung von Regierungsgebäuden sehen.

“Meine Hoffnung zielt darauf ab, dass die Verantwortlichen für die größte Korruption aller Zeiten, die der letzten vier Jahre, verurteilt und bestraft werden, inklusive das Militär”, sagt Santtana. Bolsonaro konnte es nur wagen, so skrupellos zu wüten, weil Brasilien als einziges Land Südamerikas den Machtmissbrauch der einstigen Militärdiktatur nie gerichtlich aufgearbeitet hatte, meint er. Für die neue Amtszeit setzt Santtana auf Lulas vielfach gerühmtes Geschick, mit seinen Gegnern in Dialog zu treten. “Aber ich glaube nicht, dass er die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft beenden kann, denn Polarisierungen gibt es bei uns seit Jahrhunderten.”

Gerade die brasilianische Kultur hat immer von Polarisierungen gelebt, die sich in der Musik als stilistische Brüche befruchten. So bleibt die Spannung hoch, und von Gegensätzen unterschiedlicher Art lebt auch Santtanas neues Werk O Paraíso: „Der Grundcharakter meiner Musik ist gerade dieses Blurring von Akustik und Elektronik“, stellt Santtana klar und zweigt dann in die Biologie ab: „Gerade habe ich was Interessantes über den Pilz physarum polycephalum gelesen: In Tokio haben sie sich durch seine Vernetzungsmuster inspirieren lassen, das U-Bahn-System zu verbessern. Das ist doch der Beweis, dass Natur und Technik voneinander profitieren können.“

So wie sie das in seinen neuen Kompositionen tut, die in Paris eingespielt wurden, mit Musikern, die, so sagt Santtana, alle multistilistisch unterwegs sind, mit einem offenen, kreativen Geist. Der spiegelt sich dann etwa in einem Song wie „Muita Pose, Pouca Yoga“ (viel Pose, wenig Yoga) wider, wo er mokante Kommentare über die Instagram-Inszenierungen der Jugend zu einer Kombi aus Pop-Keyboards und Samba-Groove setzt. Dafür hat er Sprüche aus provokanten Plakataktionen des Straßenkünstlers Daniel Lisboa verwendet. In „Vamos Ficar Na Terra“ wettstreiten Reggae und der nordöstliche Xote-Rhythmus mit der Elektronik – und all das dient zu einer beißenden Kritik am Menschenverächter Elon Musk, der zum Mars strebt, anstatt vernünftige Lebensbedingungen auf dem Heimatplaneten zu schaffen. Und in „What’s Life“ finden sich Synthesizer und ein Verweis an Kraftwerks „Roboter“ zu einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador da Bahia.

„Meine zentrale Frage auf diesem Album über das Leben auf unserem Planeten ist: Wollen wir Maschinen sein oder Natur? Bei aller Begeisterung für Künstliche Intelligenz, die gerade in der Luft liegt: Ich setzte für unsere Zukunft auf die Natur, auf das Wissen der Vorfahren. Nur dann werden wir eine Chance aufs Überleben haben.“ Für Santtana ist das Paradies schon da, man müsse es in der Vielfalt der Erde nur erkennen – und respektieren. Für mehr Kommunikation mit der Natur sind die Weichen in Brasilien nun gestellt. Santtana spricht anerkennend von Sônia Guajajára: Zum ersten Mal in seiner 500jährigen Geschichte wird Brasilien eine Ministerin für Indigene Völker haben. Außerdem sind am Tag nach Lulas Wiederwahl die Zahlungen in den Amazonas-Fonds wieder in Kraft gesetzt worden, die während Bolsonaros Amtszeit gestoppt wurden. “Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber natürlich müssen wir als Gesellschaft weiterhin Druck ausüben.“ Man könnte, anknüpfend an den bekannten Spruch „Gott ist Brasilianer“ auch sagen: Die Hoffnung, sie ist Brasilianerin. Zumindest für den Moment.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 13.01.2023

 

Lucas Santtana & Flore Benguigui: „The Fool On The Hill“
Quelle: youtube

Zwischen Bach und Sesotho-Gebet


Geschätzt von Yo-Yo Ma, gefeiert bei den BBC Proms, mit einem Bein in der afrikanischen Tradition, mit dem anderen in der Musik der Zukunft: Der Cellist, Komponist, Arrangeur und Sänger Abel Selaocoe aus Südafrika definiert schwarzes Selbstbewusstsein in einer stilentgrenzten Klassik neu. Ich konnte ihn kürzlich über Zoom interviewen, nachfolgend unser Gespräch in ungeschnittener Länge. Selaocoe wird am 6.9. beim Lucerne Festival in der Lukaskirche auftreten.

Abel Selaocoe, gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie erfuhren: Das Cello ist mein Instrument?

Selaocoe: Der erste Einfluss kam von meinem Bruder. Er war ein großartiger Fagottist und so begeistert von Musik, dass er mich mitzog. Als ich mir das Cello aussuchte, hatte ich schon eine Vorstellung davon, was für einen Umfang an Tönen man produzieren kann, dass man sehr hoch „singen“ kann, aber auf einem Instrument auch sehr tiefe Basslinien spielen kann. Mein Bruder sagte zu mir: Wenn du in der Musik wirklich verschiedene Dinge ausprobieren möchtest, wie wir das mit unseren Stimmen gemacht haben, als wir anfingen, dann könnte das Cello das richtige Instrument für dich sein. Aber angefangen hat alles mit der Stimme, und auch auf dem Instrument habe ich dann versucht das auszudrücken, was ich zuvor schon mit der Stimme gemacht hatte.

Hatten Sie auf dem Cello ein Vorbild, ein Idol?

Selaocoe: Ja, eine Rolle bei der Wahl des Cellos spielten natürlich auch die Leute, die damals um mich herum waren. Es war nicht nur das Instrument, das ich liebte, sondern auch die Menschen, die mich inspirierten. Weil ich aus einem Township stamme, in dem ich von viel Armut umgeben war, hielt ich immer nach Menschen Ausschau, die aussahen wie ich, aber außergewöhnliche Dinge machten. Kutwlano Masote war einer von ihnen. Er wurde mein allererster Cellolehrer, und zu sehen, was er auf dem Cello machte, wurde eine große Inspiration für mich. Es war auch sein Charakter, denn er war gleichzeitig auch eine Persönlichkeit im Radio, lotete sehr viele verschiedene Dinge in der Musik aus und spielte mit Leuten aus verschiedenen Stilen. Ich liebte ihn sehr als Person und konnte es nicht erwarten, mich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln.

Ist die Technik, die Sie in ihrer klassischen Ausbildung erlernten, auch heute noch dominant oder gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie beschlossen, sich zu befreien und Ihre eigenen Varianten von Staccato, Spiccato oder Pizzicato zu verwenden, die möglicherweise aus anderen musikalischen Traditionen stammen?

Selaocoe: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Nun, die klassische Musik hilft mir in so vieler Hinsicht als Grundlage für mein Spiel, aber auch wenn es ums Zuhören geht. Klassische Musik besitzt eine Schönheit, einen Reichtum, eine Dynamik. Das Zarteste, das ich je gespielt habe, war eine Stelle aus einer Mahler-Symphonie. Ich wertschätze solche Momente und schöpfe in meinen Improvisationen daraus. Ich lerne eine Menge in der klassischen Musik, besonders was Streichinstrumente angeht. Ich habe mich entschieden, auch Einflüsse von afrikanischen Streichinstrumenten  aufzunehmen. Es gibt eine einsaitige westafrikanische Fiedel, die Goje heißt, und dann gibt es eine andere, die ist aus Äthiopien und Eritrea und hat kein Griffbrett. Du presst von der Seite dagegen, und vom Druck ist abhängig, in welcher Oktavlage der Ton rauskommt. In der klassischen Musik spielen wir immer auf- und abwärts, aber in afrikanischen Kulturen kann man Druck verwenden, um verschiedene Tonhöhen zu erzielen. Das ist unglaublich, Du hast nur fünf Töne, aber es ist so abwechslungsreich. Ich habe gerade angefangen, in dieser Welt zu leben und versuche, ein sehr viel perkussiverer Spieler zu werden. In diesem Zusammenhang bin ich auch inspiriert von einem Instrument namens Ohadi, da schlägt man mit einem Stick auf eine Saite und erzeugt dadurch Obertöne. Manchmal entstehen auch neue Sachen durch Rumalbern im Probezimmer, etwa, in dem ich dasitze und versuche ein Kind zu imitieren, wie es eine Sprache lernt. Das ist die Reise meines Lebens, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Anfang meines Lernprozesses bin, wie ich das Cello spielen kann um Orte zu erreichen, die ich mir nie erträumt hätte. Weiterlesen

Schmerzbewältigung auf Urdu

Foto: Blythe Thomas

Sie ist die erste Musikerin mit pakistanischen Wurzeln, die einen Grammy erhalten hat. Ausgezeichnet wurde Arooj Aftab für ihr drittes Album Vulture Prince, ein meditativer, bewegender Songzyklus, in dem sie Verlust und Schmerz mit Poesie auf Urdu und mit Gästen aus aller Welt einfängt.

Wer sich für eine Stunde in Ruhe begibt, und Aftabs neues Werk Vulture Prince auf sich wirken lässt, erfährt: Klang ist mehr als Worte und lässt eine Welt jenseits von intellektuellem Sinnverständnis zu. Die acht Songs sind immer bewegend und können an bestimmten Stellen des Albums zu Tränen rühren. Im April erhielt dieses Album mit einem Grammy höchste internationale Musikweihen, und das, obwohl kaum jemand der Hörenden im Westen Urdu verstehen wird.

Urdu ist nicht nur die Amtssprache Pakistans, es ist auch von jeher die Sprache der Sufis aus diesem Kulturkreis, die mit ihrer Poesie die Sehnsucht nach dem Göttlichen in romantische Metaphern gefasst haben. „Es hat sich immer gut angefühlt, auf Urdu zu singen“, bekennt Arooj Aftab. „Die Urdu-Poeten sagen komplizierte Dinge in schönen, einfachen, minimalistischen Bildern. Ich bin eine minimalistische Komponistin, und ich mag es nicht, wenn es eine Menge Worte gibt und eine lange Geschichte. Wenn dagegen viel mit wenigen Worten gesagt wird, ist das für mich perfekt. Eigentlich lasse ich den Sound die Geschichte erzählen.“

Arooj (sprich: aruudsch) Aftab kam zwar schon als Teenagerin aus der pakistanischen Metropole Lahore in die USA, ist aber tief geprägt von der Musikkultur ihrer ersten Heimat. In Europa kennt man die vielen starken Frauenstimmen Pakistans kaum: Abida Parveen, Iqbal Bano oder Begum Akhtar standen immer im Schatten des großen Nusrat Fateh Ali Khan, der den Qawwali, den leidenschaftlichen Gesang der Sufis dominierte. Für Aftab sind diese Frauen aber „powerhouses“, Kraftwerke, die sie bei der Suche nach ihrem eigenen Timbre immer begleitet haben. Am renommierten Berklee College of Music in Boston absolvierte sie dann ein Jazzstudium, interessierte sich dabei besonders für die freieren, elektronischen Formen der Sparte. Eines ihrer Alben hat sie lediglich auf Synthesizer- und Gitarren-Klangflächen sowie Stimmenschichtungen aufgebaut, und erzählt damit die Geschichte der betörenden Sirenen der Antike.

Mit „Vulture Prince“ nun fasst Aftab ihr pakistanisches Erbe, ihr Jazzvokabular und ihre experimentelle Seite zusammen. Als “post-minimalistisch, jazzig und semi-klassisch“ bezeichnet sie diesen Songzyklus, der in einer Phase von weltpolitischem und privatem Verlust und Schmerz entstand: „Es ist der Spiegel meines persönlichen Lebens, der Spiegel der Pandemie, von Genoziden, die überall auf der Welt passieren, es geht um Depressionen und Krankheiten. Dann aber auch um die Welt, die dich überrascht, die dich dazu auffordert, weiterzumachen, dir sagt, dass du immer noch wunderbare Dinge machen, Menschen inspirieren kannst. Es ist eine Platte, die nicht losgelöst von den Ereignissen in ihrem eigenen La-La-Land schwebt.“

„Vulture“, der Geier aus dem Titel, hat für sie als mythologisches Tier eine ambivalente Symbolkraft. Er ist in den alten Geschichten königlich, wird bejubelt, aber auch gefürchtet, da er Andere seiner Art frisst. Genau wie ein Prinz, der parallel zu seiner Royalität oft Bösartigkeit, Abweichlerisches ausstrahlen kann. „Da meine Musik auch die dunklen Dinge umfasst, fühlte sich dieses kombinierte Bild als Überschrift für das Album gut an“, sagt Aftab.

Von der Produktionsweise ist es ein typisches Pandemie-Album: Niemals standen zwei Musiker gleichzeitig im Aufnahmeraum. Dass „Vulture Prince“ trotzdem nicht nach Patchwork sondern nach Homogenität klingt, führt Arooj Aftab auf den weiten Horizont der Mitwirkenden zurück: Die Harfenistin Maeve Gilchrist hat zwar einen keltischen Hintergrund, ist aber denkbar weit von jedem Irish Folk-Klischee entfernt. Badi Assad hat das Brasil-Idiom längst abgelegt und konnte auf ihrer Gitarre die richtigen Phrasen finden, um zusammen mit einem Streichquartett in „Diya Hai“ den Worten des indisch-türkischen Dichters Mirza Ghalib zu begegnen. Immer Weltbürgerin von Beginn ihrer Karriere an war Anoushka Shankar, die die Sitar zu einem globalen Instrument erhoben hat – ihr Spiel bereichert das Finalstück „Udhero Na“. „Für mich war wichtig, dass die Persönlichkeiten der Musiker ihre Instrumente übersteigen. Dass sie ihre Farbe einbringen, aber davon ausgehend wie Wasser agieren können.“

Welchen freien Umgang sie mit der Sufi-Poesie pflegt, lässt sich schön in „Last Night“ ablauschen: Die Verse des Mystikers Rumi sind hier in einen trabenden Reggae gekleidet, dessen Rhythmus sich zeitweise aber fast verflüchtigt. Am intensivsten wird das Album in einem Text der Frauenrechtlerin und engen Freundin Annie Ali Khan, die über Misogynie und Unterdrückung der Frauen in Pakistan recherchierte und sich 2018 das Leben nahm. Unterm Eindruck ihres Todes schrieb Arooj Aftab „Saans Lo“ zu einem Gedicht, das ihr Khan hinterlassen hatte. „Im Text heißt es: ‚Die Welt kann dich vor äußerst harte Herausforderungen stellen, kann dir Menschen wegnehmen, die du liebst und bewunderst. Atme, atme, atme – und versuche, dich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen.‘“ Am Ende klingt das Stück in einem friedlichen, orgelartigen Hauchen aus. Arooj Aftabs Album ist wie ein langer, tiefer Atemzug gegen diesen großen Schmerz.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 1.7.2022

Arooj Aftab: „Saans Lo“
Quelle: youtube