Imaginierte Heimat

Maya Youssef
Finding Home
(Seven Gates)

Wie kein anderes Instrument verkörpert die Kanun die filigrane Seite der orientalischen Musik. Korrekt klassifiziert wird sie als Kastenzither, doch schließt man die Augen und horcht man ihrem Klang, muss man sich zwangsläufig fragen: „Klingt so eine Zither?“ In der Tat fühlt man sich eher an die perlenden Läufe einer Harfe erinner, bei der Fülle von 78 Saiten, die teils in Neunteltönen gestimmt sind.
Im Gegensatz zur Harfe in der europäischen Klassik ist allerdings die Kanun sehr lange Männerdomäne geblieben, für Mädchen galt es als nicht schicklich, sich dem Instrument zu widmen. Erst jetzt beginnt eine Öffnung des Instruments für die Spielperspektive von Frauen, und die in England lebende Syrerin Maya Youssef hat wesentlichen Anteil daran, dass die Sphäre der Kanun nun auch eine weibliche wird.

Vor vier Jahren erregte sie zum ersten Mal Aufmerksamkeit mit ihrem Debütalbum „Syrian Dreams“: Auf dem Erstlingswerk präsentierte sie die Kanun in einem kammermusikalischen Kontext mit Cello und Perkussion. Ein zugleich virtuoses wie wehmütiges Album, das auch der musikalischen Bewältigung des Krieges in Syrien diente. Maya Youssefs Überzeugung ist es, dass Musik Wunden heilen, Traumata lösen kann. Seit dem Beginn des Krieges in Syrien ist Maya Youssef nicht nur Interpretin, sondern auch Komponistin, die Wut und Verzweiflung brachte sie dazu, selbst schöpferisch zu werden. „Musik ist in Kriegszeiten ein wesentliches Mittel, mit dem Gefühl von Verlust und Trauer, dem Leid und der Zerstörung eines Landes umzugehen.“ Diese Überzeugung äußert sie nicht nur mündlich oder auf dem Papier: Dafür bürgen ihre Konzerte und ihre Theaterarbeit mit geflüchteten syrischen Kindern.

Mit Finding Home setzt Maya Youssef ihre Friedensarbeit in Tönen um: „Die Musik bewegt sich auf diesem Album durch Verlust und Verwandlung hindurch, erreicht schließlich einen Ort der Hoffnung“, schreibt sie im Beiheft. Heimat bedeutet für sie – in Zeiten der weltweiten Fluchtbewegung und Kriegshandlungen – nicht unbedingt ein geographisches, vielmehr ein spirituelles wie emotionales Zuhause, ein – auch imaginärer – Ort des Friedens, der Sanftheit. Menschen können ein Zuhause vermitteln genau wie die Natur. Dies immer eingedenk dessen, dass ein syrisches Zuhause, wie es Millionen von Menschen kannten, nicht mehr wiederkehrt, eine Heimat, von der sie sich nicht einmal verabschieden konnte. Und das gleiche lässt sich nun auch von Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen sagen, weshalb Finding Home eine doppelte schmerzliche Aktualität besitzt.

Eine erweiterte Kammerbesetzung dient Maya Youssef, diese Thematik musikalisch aufzufangen. Mit dabei sind der italienische Jazzbassist Michele Montolli, der von Weltmusik bis Avantgarde in vielen Formationen erprobt ist. Das Terrain des britischen Pianisten Al MacSween fächert sich vom Latin-Genre bis nach Indien auf. Ähnlich vielfältig von Klassik über Jazz bis World unterwegs ist die Cellistin Shirley Smart, Perkussionistin Elizabeth Nott weitet ihr Spektrum bis hinein in den Film und die Theaterarbeit.

Erfahrungen von Schmerz gestaltet Youssef auf ganz verschiedene Art aus: Das Foto einer Mutter, die ihr Kind durch den Bombenhagel trägt, transformiert sie in eine würdevolle, sangliche und wiegende Improvisation, die fast wispernde Geigen begleiten. Berührend, wie sie die Abwesenheit der eigenen Mutter dann mit „In My Mother’s Sweet Embrace“ auffängt, wo eine ruhig schreitende Melodie von einem Bogen aus melancholischem, melismatischem Gesang umspannt wird. In „Jasmine Bayati“ drückt sie ihre Sehnsucht nach der Heimatstadt Damaskus, deren Symbolpflanze der Jasmin ist, in tänzerischer Ausgelassenheit aus. Der Groove wird hier auch durch eine soulig pumpende Orgel vorangetrieben. In die ruhige Melodie von „Silver Lining“ hat sie die dunkle Zeit des Lockdowns gegossen: Die kurzen, „tropfenden“ Motive fließen schließlich in eine Improvisationsstrecke, die in der wirbelnden Rasanz am Ende für ein Aufbäumen neuen Lebenswillens steht.

Rasch fällt auf, dass Maya Youssef sich von einer Tonsprache gelöst hat, die nur „orientalisch“ zu verorten wäre. Die neun Kompositionen schweben in freier Imagination, die sich aus arabischen Quellen genauso speist wie aus einer westlichen Jazzsphäre. Letztere hat auch einen Hang zum Populären. Und so gerät – an wenigen Stellen – diese Sprache auch einmal in repetitive, gefällige Muster, wie etwa „An Invitation To A Dream“, das durch feingliedrige, flächige Gemälde der Libanesin Malerin Huguette Caland inspiriert wurde. Liedhaft und kreisend spielt Youssef in „Walk With Me“ mit dem Dialog zwischen Kanun und Streichquartett. Und „My Homeland“, ein Loblied auf Syrien, das zugleich eine Klage ist, hat mit seiner einprägsamen Lamento-Basslinie im Piano fast das Potenzial zu einer Popballade.

Mitunter am überzeugendsten sind die Passagen, in denen sich Maya Youssef tatsächlich auf traditionelle arabische Formen beruft, diese aber neu auskleidet: „Samai Of Trees“ etwa hat sie im strengen Zehnachtel-Takt geschrieben. Mit Cello, Bass und Rahmentrommel tanzt die Kanun fast schwerelos und lichtvoll in überschwänglicher melodischer Virtuosität. Der größte Wurf gelingt Maya Youssef und ihrem Ensemble schließlich in „Soul Fever“, wiederum angeregt durch ein Kunstwerk: Samira Abbasys „Unravelling“, eine Kohlezeichnung, die eine königliche, auf die ägyptische Diva Oum Kalthoum verweisende Frauenfigur porträtiert, liefert ihr den Stoff für das dramatisch sich steigernde, von feurig-erotischer Spannung getragene „Soul Fever“.

Von Krieg und Entwurzelung zu einem anderen Heimatgefühl, von Pandemie und Lockdown zu neuer Lebenskraft: Finding Home ist eine streckenweise kathartische Reise in ein unsicheres Morgen voller Herausforderungen. Aufrüttelnd und erschütternd, aber auch besänftigend und Trost spendend.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara

Maya Youssef: „Samai Of Trees“
Quelle: youtube

Funk vom Staatsfeind

Cimafunk (Foto: Stefan Franzen)

Cimafunk / La Yegros
Rosenfelspark Lörrach
26.07.2022

Globale Oase, Weltmusik-Wabe des Stimmen-Festivals: Der Rosenfelspark hat seine Pforten geöffnet. Doch diese Sehnsucht nach der einen Welt, die sich immer auch im Kennenlernen von Musik aus fernen Ländern abbildete, wie passt sie in den dritten pandemischen Sommer, in dem auch noch Krieg und Dürre die ach so liebgewonnenen Utopien austrocknen?

Offensichtlich lebt sie, trotz aller Hiobs-Meldungen. Denn für einen Dienstagabend ist der Park beachtlich und Generationen übergreifend gefüllt, und es kommt schnell ausgelassene Schwof-Atmosphäre auf, als Musiker mit bunten Federn und Bändern die Bühne betreten. Durch wehmütige Akkordeonlinien und das zehnsaitige zirpende Charango bläht sich ein krachig-erdiger Rhythmus. Mit Stubenfliegenbrille wogt Mariana Yegros heran, magenta-lila-giftgrün in Leggins, Tüll und Teufelsschwänzchen, eine Trash-Gewandung von der Karneval-Resterampe. Was von nun an so off-beatig schlurft und schiebt, ist die Cumbia, einst an der karibischen Küste Kolumbiens Paartanz, längst Lingua Franca der Música Latina schlechthin, von Mexiko City bis Buenos Aires. Dort ist La Yegros Platzhirschin des Genres, und sie zeigt uns auch, warum.

Bei ihr verschmilzt die Cumbia mit verwandten Tänzen wie dem nordargentinischen Chamamé zu einer packenden Synthese aus staubiger Dorfkirmes und neonschwangerem Großstadt-Club. Ihr beileibe nicht immer lupenreiner Gesang ist genauso marktschreierisch wie melancholisch, es stecken Rap-Passagen drin wie auch süffige Melodien. Andenflöten pusten, traurigen Vögeln ähnlich, ihre Weisen. Mit silbriger Patina scheppert die kleine Quetschkommode. Und die dumpfe Zylindertrommel Bombo wettstreitet mit dem Programming aus dem Keyboard, das satt farzende Bässe rausdrückt. Dazu bewegt man sich in behäbigen Moves, die das Publikum schnell versteht, und die auch noch bei irre hohen Temperaturen zu bewältigen wären. Glückliche Gesichter beim Armeschwenken und Hüftewiegen.

Mit sanftem Wiegen und Schlurfen ist es dann bei Erik Alejandro Iglesias Rodríguez vorbei. Der 31-jährige mit dem markanten Flat-Top ist das Leuchtfeuer der neuen Musik Kubas schlechthin, er steckt Son und Salsa mit dem Funk des Staatsfeindes USA unter eine Decke und beruft sich im Künstlernamen Cimafunk auf die Cimarrones, Sklaven, die sich durch Flucht der kolonialen Barbarei entzogen. Ein Freigeist, der mentale und stilistische Fesseln abgeschüttelt hat, sein Black Empowerment aber nicht zum offen politischen, vielmehr zum physischen Manifest macht. Das zeigt sich auf der Bühne wirkmächtig, gewaltig Zunder in der Hütte ist bei der achtköpfigen Band, vom ersten Takt an.

Bass und Rhythmusgitarre liefern ohne Wimpernzucken die perfekte synkopische Verzahnung. Flexible Eleganz gewinnt das Fundament durch Bongo und Conga, und immer wieder schmieren von den Tasten aus die typischen Ostinati der Música Cubana das Getriebe dieser dampfenden Funk-Lokomotive. Dass die Bläsersektion auf Trompete verzichtet, schattiert den Sound weg von der Brillanz der gewohnten Salsa-Combos hinein ins Dunkle. Nicht nur die heimlichen Stars sind Ilarivis Garcia Despaigne an Posaune und Katerin Ferrer Llerena an Saxophon (im George Clinton-Look mit fetter Sonnenbrille und quietschbunten Flechtsträhnen), auch choristisch und choreographisch eingespannt. Und da! Despaigne stellt mit einer scharfzüngigen vokalen Anmache den Chef plötzlich mal in den Schatten.

Aber klar, auch wenn er öfter mal das Spotlight freigeben mag für Soli seiner Mitstreiter, stetiges Epizentrum dieses Bebens ist Rodríguez dann doch selbst. Schnell ist sein Vintage-Shirt Geschichte, im Schweiße seines Oberkörpers, notorisch mit den Beinen zappelnd und beckenschwingend zelebriert er einen aufgekratzten, knackig-nasalen Gesang, durchbrochen von wildem lautmalerischem Silben-Stakkato. James Brown? Ein lahmer Hund dagegen. Nahtlos und rasend schaltet die Band zwischen den Songs, die oft von körperlichen Freuden künden: In „Rompélo“ („Hör auf dein Fleisch, wenn es schreit!“) schleicht sich ein Hauch Studio 54-Discoschwüle hinein, „El Regala’o Se Acabó“ kreiert über dem Slap-Bass einen drängenden Sog, der auch wirklich Jede und Jeden im Publikum mitnimmt.

Am Ende umtanzt man den Star zum Hit „Me Voy“ auf der Bühne: „Wenn du mit mir nach Hause kommst und es willst, dann gebe ich dir den Chuchu.“ Nochmal kehren die „Cimafunker“ zurück, um fast so etwas wie eine Ballade anzustimmen, über der Akkordfolge von „I Will Survive“. Werden wir klug genug sein, um zu überleben? Wenn ja, muss Cimafunk unbedingt auf die ewige Party-Playlist eines neuen Utopia.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 28.07.2022

Kleinzellig und panafrikanisch


Drei Sommertipps aus der Kreativschmiede junger senegalesischer und ghanaischer Künstler*innen.

Panafrikanisch gleitet der Senegalese Alune Wade durch die zwölf Titel auf Sultan (yellowbird enja/edel). Paradebeispiel dafür, wie schillernd kleinzellig in einem einzigen Stück Wandlungen vollzogen warden ist “Donso”: ein Sahel-Groove, der mit erst trabendem, dann galoppierendem Large Ensemble mit herrlichem Laid Back-Klavier, reichem Blech und aufgekratzter Nomadenflöte ausgestaltet wird. Auch ansonsten Opulenz: Arabische Sphärenmusik (“L’Ombre De L’Âme”), ein schwerer Wüstenfunk (“Nasty Sands”), jazzig vebrämter Wolof-Rap “(Uthiopic”), eine schmelzende Ballade in “Dalaka” oder äthiopische Skalen “(Lullaby For Sultan”). Und all das taktweise fantasievoll und ganz ohne Poser-Gehabe: ein Meisterwerk.

Alune Wade: „Nasty Sands“
Quelle: youtube

Die trockenen Sounds des ghanaischen Nordens, die den süffigeren des Südens entgegenstehen, bekommen immer mehr internationale Aufmerksamkeit: Dazu dürfte auch Linda Ayupuka mit ihrem Album God Created Everything (Mais Um) beitragen. Diese Sounds, angesiedelt zwischen Afro-Gospel und den Traditionen der FraFra-Ethnie, stützen sich hier kräftig auf Auto Tune und Synth-Programming. Trotzdem sind die Melodien so aufgekratzt melismatisch, die Drums so lebendig pumpend, Ayupukas Stimme so charakterstark erdig, dass sich die Produktion nie klebrig anfühlt.

Linda Ayupuka: „Yine Faamam“
Quelle: youtube

Mit richtig großem Besteck hantiert die anglo-ghanaische Formation Isaac Birituro & The Rail Abandon auf ihrem zweiten Album Small Small (Wah Wah 45s): Hier fließen im opulenten Bigband-Bett Afrobeat und Highlife mit den eher der Mandinke-Kultur zuzurechnenden Balafon-Patterns und pentatonischen Frauenchören zusammen. Clever auch, wie großartige Percussion-Layers mit popmusik-kompatiblem Strophengesang zusammenfinden (“Ta Soo Maa Yele”), oder wie über dunkel schattierten Beats verträumte Vokal- und Violinimpros herumschwirren (“Told You So”). Gastauftritte von Dele Sosimi und Queen Ayesha würzen das satte Gebräu.

© Stefan Franzen

Isaac Birituro & The Rail Abandon: „Ta Soo Maa Yele“
Quelle: youtube

JE Berendt 100


Es ist der 19. Oktober 1985 in der Baar-Sporthalle Donaueschingen. Ich sitze mit leichtem Kopfweh auf den Rängen und blicke hinunter auf eine noch leere Bühne. Die Leiterin des Musik-Leistungskurses hat uns zu den Musiktagen gelotst, wo wir in den letzten 24 Stunden etwa eine Uraufführung des „Oberlippentanzes“ für Piccolo-Trompete von Karlheinz Stockhausen oder den kompletten mehrstündigen Scardanelli-Zyklus für Orchester, Chor und Solo-Flöte (Aurèle Nicolet) aus der Feder von Heinz Holliger erlebt haben. In letzterem musste ich direkt neben den großen Abnahmemikros der Live-Übertragung im SWF immer wieder so laut lachen, dass man es im Äther landauf landab sicher gehört hat (stimmt – wie ich später bei einer Wiederholung der Sendung feststellen muss). Unterdrücken hilft nichts, man kennt das ja: Wenn ein Lachkrampf im öffentlichen Raum – in diesem Falle gar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – stattfindet, macht es alles nur umso schlimmer. Zu meiner Rechtfertigung füge ich an: Ein Kaugummi kauender Orchesterkontrabassist, schreiende Chordamen und ein Soloflötist, der Töne von sich gibt, die man einem gewissen Örtchen zuordnen kann (so zumindest meine damaligen Empfindungen), sind für einen 17-Jährigen große Herausforderungen an die Resilienz des Ernstes. Für mein Banausentum werde ich – und nicht ich allein! -von meiner Lehrerin gerügt. Zurecht.

Jetzt aber eine ganz andere Atmo als im steifen Konzertkritiker- und Musikwissenschaftler-Environment der Stadthalle. Eine heterogener Haufen von Musikern aus aller Welt schlendert auf die Bühne, fast aus jedem Erdteil sind welche dabei. „World Music Meeting“ heißt das, was hier die Donaueschinger Musiktage in den nächsten Stunden merklich auflockern wird, und ein Mann hat das zusammengestellt und organisiert, der heute 100 Jahre alt würde: Joachim Ernst Berendt. Was ich an diesem Abend hören darf, wird mit wegweisend für meinen weiteren Weg:

Das Brüderpaar Pandit Prakash und Vikash Maharaj aus Benares an Sarod und Tabla macht mich mit dem Raga-System bekannt, der Perkussionist Dom Um Romão bringt mich erstmals überhaupt mit brasilianischer Musik in Berührung, Luis Di Matteo am Bandoneón führt mir vor Ohren, wie anders ein Akkordeon jenseits des Atlantiks klingen kann. Posaune, Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug, Vibraphon und Steel Drum gruppieren sich außerdem in dieses Worldjazz-Ensemble. Später werden Auszüge dieses Abends als Live-Mitschnitt veröffentlicht, mit dem Titel To Hear The World In A Grain Of Sand (s.u.) – die Welt in einem Sandkorn hören, dieses Bild ist Berendt durch und durch, ich mag es auch heute noch. Vor der Pause explodiert das gemeinsame Musizieren in einem rasanten Stück, für das die beiden Inder das musikalische Thema vorgeben. Ich bin zwar nicht in einem exaltierten, anderen Geisteszustand, es ist kein überwältigendes Erweckungserlebnis: Der freigeistige Jazz-Aspekt überfordert mich damals noch ein wenig. Aber dieses Konzert ist ein Startpunkt.

Dom Um Romão: „The Angels“
Quelle: youtube

Von da an begegnete mir Joachim Ernst Berendt immer wieder, in Schriften, im Radio, auf Vorträgen. Und einmal auch als andächtiger Zuhörer bei einer der ersten Aufführungen von Rüdiger Oppermanns „Silberfluss“ in Baden-Baden. Um ihn noch als Jazzpapst der frühen Stunde in Aktion zu erleben, bin ich zu spät geboren. Aber ich werde über die zweite Hälfte der Achtziger Ohrenzeuge seiner Nada Brahma-Darlegungen und seiner „Das Dritte Ohr“-Soiréen, die mir die Welt als Klang erschließen, mich in die Philosophien asiatischer Kulturkreise und in Meditation einführen, mir ihre Bezüge zur modernen Physik aufzeigen. Die Vorstellung des tönenden Universums, einer höheren Ordnung, die auf Intervallen aufbaut, fasziniert mich bis heute, auch wenn ich sie so bedingungslos wie damals nicht mehr hinnehmen kann. Doch jedes Mal, wenn ich an den nächtlichen Sternenhimmel schaue und einen Planeten entdecke, habe ich noch die von Berendt herausgegebenen „Urtöne“ im Ohr – ob ich es will oder nicht.

Mein problematisches Verhältnis zur Neuen Musik hat sich seit den denkwürdigen Donaueschinger Musiktagen 1985 ein wenig verändert,  ist entspannter geworden. Ich muss darüber nicht mehr lachen. Die indische Melodie der Maharaj-Brüder aber habe ich immer noch im Ohr. Dafür, und für viele sich öffnende Tore zwischen Jazz, Weltmusik und spirituellem Aufbruch, vielen Dank, JEB!

© Stefan Franzen

„Hinglaj“ (live at Donaueschinger Musiktage 1985)
Quelle: youtube

Neues Wasser geschöpft

Misagh Joolaee / Sebastian Flaig
Qanat
(Pilgrims Of Sound)

Sehr rege zeigt sich der innovative iranische Stachelgeigen-Spieler: Nach einem Duo- und einem Solo-Album, beide mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert, legt er mit Qanat zügig nach. Mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig verfolgt Misagh Jolaee seinen Weg weiter, die Traditionen der Kamancheh, diesem filigranen, obertonreichen Instrument der persischen Klassik, zu einer Weltsprache zu weiten. Dass er hier eine Menge neuer Bogen- und Zupftechniken, ungewöhnliche Oberton-Effekte und Skalen auslotet, mag dem Fachhörer auffallen. Doch auch ohne spezialisiertes Wissen zieht einen diese CD in den Bann.

Das geschieht durch einen spirituellen Sog, der so feingewoben sein kann wie im schmerzlich dahinfliegenden “Bid-e Majnoun”, wo in jedem einzelnen Bogenstrich nuancierte Gefühlsregungen aus den Saiten gehaucht werden. Aber auch so virtuos wie im Titelstück, das durch eine Melodie aus Khorasan inspiriert wurde und dessen Titel auf das symbolträchtige Bild einer Wasserschöpftechnik in der Wüste verweist. Beschwörende Tiefe mit Vokaleinlage verströmt “Sohud”, nobles Schreiten “Bazgast”. Und in “Torbat” verschmilzt Flaigs perkussive Varianz auf der Bechertrommel Tombak mit der Kamancheh zu einem einzigen polyrhythmisch tanzenden Körper.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung (Ausgabe 15.07.2022)

Misagh Joolaee / Sewbastian Flaig: „Torbat
Quelle: youtube

Hamburger Traum vom Lindenbaum

Mahler grüßt den Lohengrin an der Alster (Still aus dem Film „Gustav Mahler Magic Tour“ im Komponistenquartier Hamburg)


Heute feierte Gustav Mahler seinen 162. Geburtstag, was mir schmerzlich in Erinnerung ruft, dass ich schon längst an meiner losen Folge der „Versuche über Mahlers Metaphysik“ weiterarbeiten wollte. Sie wird hoffentlich bald fortgesetzt.

Um seinen Tag zu ehren heute aber eine Reminiszenz an einen Juni-Besuch im wunderbaren Komponistenquartier in Hamburg, das an die Zeit des Komponisten in der Hansestadt mit zwei liebevoll gestalteten Räumen erinnert. Zwischen 1891 und 1897 hat Mahler an der Elbe gewirkt, reichlich das Radfahren entdeckt, noch reichlicher unter dem Stadtlärm gelitten und versucht, seine legendäre Affäre mit der Starsopranistin Anna von Mildenburg geheim zu halten.

Parallel zu seiner herausfordernden Tätigkeit an der Oper schrieb er vorrangig während der Sommer-Urlaube fern von Hamburg, oft im Steinbacher Komponierhäusl am Attersee. Unter anderem komponierte und revidierte er in jenen Jahren neben der Zweiten und Dritten Symphonie auch zwei seiner Liedzyklen, die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Lieder aus des Knaben Wunderhorn. Für solche Miniaturformen hatte er auch in Hamburg ab und an Zeit.

Im Januar 1896 stellte er die Orchester-Partitur des ersteren Zyklus fertig, den er bereits in den 1880ern für Bariton und Klavier geschrieben hatte. In ihm ist das tief bewegende „Die zwei blauen Augen“ enthalten.  Melodische Querverweise dieses melancholischen, an Schubert-Motive anknüpfenden Liedes, das dann in das feingewobene Dur-Traumbild vom Lindenbaum entrückt wird,  sind im 3. Satz der 1. Symphonie zu finden. Nicht sehr oft hört man die A Cappella-Version des Liedes: Clytus Gottwald hat sie für vier vierstimmige Chöre gesetzt – und holt so noch mal eine ganz andere Substanz aus diesem fast überirdischen Mahler-Moment heraus.

Gustav Mahler: „Die zwei blauen Augen“, arr. Clytus Gottwald
Erato Choir / Dario Ribechi
Quelle: youtube