Engagierte Bounciness (#10 – Canada 150)

Alysha Brilla (Ontario)
aktuelles Album: Human ( SunnyJam Records)

Mitten in einem Schneesturm treffe ich in der Zwillingsstadt Kitchener-Waterloo südlich von Toronto ein. Ein besonders kurioses Beispiel für Kanadas Einwanderergeschichte: Bis in die 1920er hieß der Ort aufgrund der vielen Deutschstämmigen Berlin. Dabei wäre München passender: Im Zentrum der Stadt thront ein Laden, in dem sich Dirndl und Bierkrüge erstehen lassen, und eine riesige Mehrzweckhalle kündet vom alljährlich stattfindenden Oktoberfest, angeblich das zweitgrößte der Welt.

Die Nachbarstadt Waterloo dagegen ist in der Hand von Studenten. Nur mit Mühe finde ich in den Schneeverwehungen ein kleines vegetarisches Restaurant, wo ich mit Alysha Brilla verabredet bin. Sie hat mich zum Interview hierher eingeladen, denn sie will, dass ich ihre Heimatstadt kennenlerne. Mit beschlagener Brille stolpere ich die enge Treppe hinauf und stehe erst einmal in einem Plattenladen: Vollgestopft mit Vinyl-Raritäten bis unter die Dachschräge. Alysha aber sitzt unten bei einer heißen Suppe. Biographisch und musikalisch ist sie eine Art Bilderbuchmodell für die kanadische Diversität: die Mutter weiße Christin, der Vater indo-tansanischer Muslim.

Ich möchte mit deinem gemischten Hintergrund starten: Wie waren als Kind und Jugendliche deine Erfahrungen als Tochter einer Kanadierin und eines Indo-Tansaniers? Fühltest du dich als Außenseiterin?

Alysha Brilla: Ich fühlte mich mit meinem gemischten Erbe schon ein bisschen als Außenseiter, als ich jünger war, denn ich kannte nicht viele Leute, die auch diesen Background hatten. Klar, die Leute aus der Karibik durch ihre Vorfahren, aber ich kannte nicht viele, deren Mum aus einem und deren Dad aus einem anderen Land kamen. Das hat dazu geführt, dass ich viel über die Bedeutung von Identität nachgedacht habe. Meine Eltern hatten ja auch verschiedene Religionen: Meine Mutter wuchs als Christin auf, mein Großvater war ein Geistlicher, wohingegen mein Vater ein Schiit ist. Manchmal gingen wir zur Kirche, manchmal zum Jamatkhana-Gotteshaus, manchmal waren wir sehr westlich angezogen, wenn wir zur Jamatkhana gingen dagegen indische Kleidung. Und auf der Basis dieses gemischten Hintergrunds gab es immer viele politische Diskussionen in meinem Elternhaus. Weiterlesen

Im Kleid der Nacht

Sílvia Pérez Cruz
Vestida De Nit
(Universal Spain)

Über den romanischen Kulturraum hinaus hat ihr Name kaum eine Bedeutung. Vielleicht ist das ein Beweis dafür, wie wenig Europa immer noch zusammengewachsen ist. Wie sonst könnte es möglich sein, dass man wenige Hundert Kilometer von ihrer Heimat wenig bis nichts von ihr weiß, wo die Katalanin doch – und da lege ich mich fest – über eine Stimme verfügt, die rückblickend vom Jahre 2100 zu einer der schönsten des Jahrhunderts gehören wird.

Bevor ich überhaupt über ihre Biographie oder ihre neue Platte spreche, möchte ich zwei ihrer Versionen des mexikanischen Klassikers „Cucurrucucú Paloma“ voranstellen. Klar, dass sie von der Lesart Caetano Velosos aus dem Film „Hable Con Ella“ inspiriert sind, doch in der unmittelbaren Fokussierung auf das Duospiel geht die Katalanin noch weiter. Es reicht, sich einen der beiden Clips anzuschauen, in jedem steckt eigentlich alles, was musikalische Zwiesprache überhaupt ausmacht.

Sílvia Pérez Cruz & Raül Fernández Miró: „Cucurrucucú Paloma“
Quelle: youtube

Sílvia Pérez Cruz & Mario Mas: „Cucurrucucú Paloma“
Quelle: youtube

Sílvia Pérez Cruz wird 1983 in Palafrugell geboren und erhält zunächst klassischen Gesangs- und Saxophonunterricht. Sie ist doppelt musikalisch vorgeprägt: Ihr Vater ist der galicische Sänger Cástor Pérez, ihre Mutter die Poetin, Komponistin und Sängerin Glória Cruz. Die erste Band, mit der sie in Erscheinung tritt, ist das Frauenquartett Las Migas, das sie bereits während ihrer Studienzeit in Barcelona mitbegründet und mit dem sie sich vor allem auf dem Flamenco-Parkett erprobt. Es folgen verschiedenste Experimente, etwa ein Teamwork mit dem Hang-Spieler Ravid Goldschmidt oder eine Platte mit der spanischen Popband Immigrasons.

Mit dem Bassisten Javier Colina taucht sie intensiv in eine Jazzerfahrung ein, bevor 2012 ihre erste Soloplatte unter dem Titel 11 De Novembre, Geburts- und Todestag ihres Vaters, erscheint. Das Debüt ist ein intimes Tagebuch mit teilweise Hörspielcharakter: Regenrauschen, Fahrradgeräusche und Samples aus „Moon River“ sind hineingewoben in die ausschließlichen Eigenkompositionen, leise Klanggedichte mit Gitarren, Englischhorn, Blechbläsern und Streichern. Familienmitglieder steuern Chöre bei, ein Loblied auf die Mutter, Schwester und Oma wird zum Samba. Ihrer berührenden Sopranstimme hört man den Schmerz über den Verlust des viel zu früh verstorbenen Vaters noch an. Produziert hat der Gitarrist Raül Fernández Miró (Refree), der auf dem Folgewerk Granada auch Duopartner wird.

Hier schlagen die beiden, durchaus in einer Indie-Folk-Philosophie, einen Spagat, der von Schumann-Liedern über Piafs Liebeshymne und einer psychedelischen Nummer aus dem Tropikalismus Brasiliens bis zur glühenden Vertonung von Féderico Garcia Lorca in „Pequeño Vals Vienés“ reicht – stets in einer nackten, aufs Skelett reduzierten Textur, die auch mal in harsche Stromgitarrenattacken münden kann. Wenig später geht Pérez Cruz unter die Schauspielerinnen, übernimmt die Hauptrolle in „Cerca De Tu Casa“, einem unter die Haut gehenden Sozialdrama über die Schicksale jener Spanier, deren Existenz durch die Immobilienblase vernichtet wird – den Soundtrack (Domus) schreibt sie gleich mit.

Und nun Vestida De Nit, ihre atemberaubende Visitenkarte für die klassische Sphäre. Mit dem Streichquintett um den Cellisten Joan Antoni Pich arbeitete Pérez Cruz seit mehr als drei Jahren auf großen Bühnen zwischen Cádiz und San Sebastian, bis sie sich nun zur Studioeinspielung entschloss. Das Repertoire umfasst etliche Lieder, die sie bereits in anderen Fassungen über Jahre erprobt hat, doch in diesem Kontext, Arrangements von vier verschiedenen Musikern, entfalten sie ungekannten Glanz und ein ausgearbeitetes Relief. Die „Tonada de Luna Lleva“, ursprünglich ein lyrischer Sehnsuchtsgesang an den Mond des venezolanischen Volkssängers Simón Díaz, wird hier in große Serenadendramaturgie gekleidet. „Loca“ zieht mit seinen Stimmenschichtungen über dem simplen Akkordwechsel in einen Vokalstrudel hinein, unentrinnbar und voll glühender Verzweiflung, und „Mechita“ lebt von pfiffigen Dialogen zwischen tänzerischer Stimme und Pizzicati der Instrumente.

Pérez Cruz‘ Affinität zum lusophonen Kulturraum zeigt sich in dem Wagnis, einen Amália Rodrigues-Fado zu covern, völlig freigeräumt von divenhaftem Pathos. Und ein fast spirituelles Geleit für ihren Vater, ebenfalls auf Portugiesisch, ist die Neufassung ihres „Não Sei“, das die Streicher introspektiv verfeinern. Mit „Ai, Ai, Ai“ veredelt sie Latinpop à la Shakira, und die bolivianisch-brasilianische „Lambada“ , Welthit der späten Achtziger, bekommt eine ganz andere Färbung, die die melancholische Grundsubstanz herausmeißelt.

Selbst das seit Leonard Cohens Tod ad absurdum genudelte „Hallellujah“ lässt sich hier wieder gut hören, gekrönt von einem Arrangement, das subtile Anleihen bei Dvořák und Ravel nimmt. Der emotionale Kern der ganzen Scheibe ist allerdings das Titelstück: Vor mehr als dreißig Jahren haben es Sílvias Eltern zusammen geschrieben, eine Habanera, die mit zarten Naturbildern von zimtbestreuten ruhigen Buchten und Wiegen aus Muschelschalen erzählt. Eine Gratwanderung, hier nicht in Kitsch abzurutschen – doch Pérez Cruz überhöht diese Lyrik zu einer zeitlosen Nostalgie, die zu Tränen rührt.

Sílvia Pérez Cruz ist in der Kategorie der größten Stimmen Iberiens anzusiedeln, schon jetzt, mit 34, vereinigt sie die Facetten einer Maria del Mar Bonet, einer Mariza, einer Lola Flores – und ich schreibe das im Bewusstsein, dass all diese Vergleiche hinken. Sie vereint die kulturellen Spektren und Sprachen von Lissabon bis Barcelona, plus Seitenpfade ins Latino-Gefilde, mit einer Gefühlsintensität, die nur ganz wenige Sängerinnen unserer Zeit erreichen. Mit ihrem Sopran kann sie mediterrane Sonnenkraft, südamerikanische Ausgelassenheit und die Archaik Jahrhunderte alter Arabesken bündeln. Ein Kritiker kommentierte, er würde sich gerne in eine Ameise in ihrem Haar verwandeln, um immer ihre Stimme hören zu können. Man muss es ja nicht übertreiben. Es genügte schon, ein größeres Publikum entdeckte sie endlich auch in unseren Breiten.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Vestida De Nit“ (live in San Sebastian)
Quelle: YouTube


Silvia Perez Cruz live in unserer „Nähe“:
30.5. Teatre Fortuny, Reus/Catalunya
13.7. Festival Les Suds, Arles/F
weitere Termine auf silviaperezcruz.com

Wanderer durchs Grasland (#9 – Canada 150)

Poor Nameless Boy (Saskatchewan)
aktuelles Album: Bravery (Chronograph Records)

Auf meiner Reise durch Kanada habe ich mich insgeheim immer wieder gefragt, welche Sorte Musik der typisch kanadische Musiker macht, was den typischen Kanadier überhaupt auszeichnet. Ich war schon wieder zurück in Europa, als ich in Basel Joel Henderson traf, der so ein paar Klischees erfüllen könnte – von wegen Holzfällerhemd, Bart, Landbursche aus der Prärie. Doch im Gespräch wurde mir schnell klar, dass das mit den Stereotypen im Kopf schnell ad acta gelegt werden muss. Warum Henderson sich als Künstler Poor Nameless Boy nennt, aus welchen Quellen er für sein Songwriting schöpft, und welche Gedanken er sich zur aktuellen politischen Situation in Kanada und zum 150. Geburtstag des Landes macht, lest ihr hier im 9. Teil meiner Serie.


Joel, du bist in Saskatchewan aufgewachsen, eine Provinz, die von der Weite der Landschaft, der Prärie geprägt ist. Wie wirkit sich das auf dein Songwriting aus?

Henderson: Songwriter haben ja eine Antenne dafür, was um sie herum passiert. Und in Saskatchewan ist da eine Stille, du siehst den weiten Himmel. Besonders da, wo ich herkomme, gibt es nicht viel Wälder oder Bäume, du musst gezielt nach ihnen suchen. Wo ich herkomme, da gibt es einfach nur Landwirtschaft, Menschen und manchmal Städte.

Es wird ja auch unglaublich kalt dort. Ist der Winter deine kreative Zeit?

Henderson: Ja, ich denke, das ist der Fall. Der Winter bringt deine nachdenkliche Seite zum Vorschein. Du willst es warm haben, am Feuer sitzen, dann willst du schreiben und zu singen anfangen, es ist ruhiger. Wenn es neun Uhr abends ist und draußen bitterkalt, dann willst du etwas Poetisches, Schönes schaffen.

Welche musikalischen Einflüsse hattest du als deine Karriere anfing? Waren das eher Leute aus deiner Umgebung oder auch aus dem Ausland?

Henderson: Die Faszination für Songwriter habe ich erst vor fünf, sechs Jahren entwickelt. Ich wuchs vielmehr auf mit der Musik der Fünfziger und Sechziger, das war der Einfluss meines Vaters. Während meiner Studien habe ich dann aber alles gehört von R&B über Rap bis zu Punk. Ich habe alles aufgesogen. Mit 20 habe ich angefangen, eigene Songs zu schreiben, und erst da kam ich dann eher in Berührung mit kanadischen Songwritern. Heute kommt der größte Einfluss, den ich habe, von den Menschen, die ich treffe, Musiker, mit denen ich die Bühne teile, denn ich sehe dann live was sie tun, nicht nur wie sie spielen, sondern auch wie sie mit dem Publikum umgehen.

Eine sehr offensichtliche Frage: Warum trittst du nicht unter deinem richtigen Namen auf?

Henderson: Der Name entstand, weil ich nach einem anderen letzten Namen suchte. In Saskatchewan erinnern sich noch viele Leute daran, wie sie mit meinem Dad in einer Band spielten, und auch mein Bruder ist sehr aktiv in der Musikszene, auch meine Onkel und andere Familienmitglieder. Der Name „Henderson“ hat also schon eine Vergangenheit. Zu der Zeit habe ich die Musik noch nicht so ernst genommen, ich wollte einfach einen Namen. Und weil ich mir keinen neuen ausdenken konnte, sagte mein Vater im Witz zu mir: „Hey, poor nameless boy!“ Aber ich ging nach Hause und merkte, ja, das ist der Name, der mir gefällt und der auch meine Musik widerspiegelt. Auch heute noch. Weiterlesen

Wassoulou reloaded

Oumou Sangaré
Mogoya
(NoFormat/Al!ve)

Die Königin der Wassoulou-Musik aus dem Süden Malis zeigt sich rundumerneuert: Ein Produktionsteam aus Schweden und Frankreich entging der Mühle der Afropop-Klischees, biedert sich aber auch nicht bei der urbanen Jugendkultur an. Die majestätischen Gesänge mit den charakteristischen Fünftonskalen thronen in der Single “Yere Faga” und im vertrackt-rasanten “Fadjamou” über Afrobeat, für den Tony Allen den Puls liefert. Die traditionelle Buschharfe Kamalengoni wurde clever durch Filter gejagt, verhallte Synthesizer-Effekte, rockige Orgel und Funkgitarren sorgen genauso für ungewöhnliche Details wie die ausgearbeiteten Chorsätze. Textlich ist Sangaré nach wie vor engagiert: Sie warnt vor Selbstmord und der Streuung übler Gerüchte, setzt uns Europäern die Kastenordnung der malischen Gesellschaft auseinander und mokiert sich über eitle Womanizer. Eine starke Rückkehr der Queen nach acht Jahren.

Oumou Sangaré: „Fadjamou“ (live)
Quelle: youtube

Ein Inselvogel in Paris (#8 – Canada 150)


Alejandra Ribera (Ontario)
This Island
(Pheromone Recordings/Rough Trade)

Schauplatz London, Ontario. Die Aeolian Hall ist eines der wenigen historischen Gebäude in der südkanadischen Stadt. Es ist Alejandra Riberas Lieblingssaal, denn er kommt ihr mit seiner theaterhaften Atmosphäre entgegen. Die Konzerte der Kanadierin mit argentinisch-schottischen Genen sind Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Still zieht sie in ihre Gefühlswelt hinein, und hat sie die Zuhörer dann gepackt, überwältigt sie mit überraschenden Ausbrüchen von Intensität. So wie an diesem bitterkalten Märzabend in ihrer Heimat: „Blood Moon Rising“ beginnt als gemächlicher Roadmovie-Walzer, steigert sich am Ende aber mit ungebremster Wucht zur Klage über die Gewehrkugeln, die ein Verflossener in ihrer Brust hinterlassen hat. Riberas Landsleute sind tatsächlich erst einmal erschüttert, wie sich da wisperndes Grollen urplötzlich zum vokalen Vulkanausbruch entwickelt hat. Dann bricht sich der Applaus Bahn. Musik sei für sie Religion, sagt die Sängerin. Und in diesem Sinne auch Heilung.

Die Songs, die Alejandra Ribera ab dem 19.5. bei neuen Liveterminen in Deutschland mit Jean-Sebastien Williams (g) und Cédric Dind-Lavoie (b, p) vorstellt, stammen von This Island. Um diese Lieder zu schreiben siedelte die Kosmopolitin aus Toronto nach einem künstlerischen Intermezzo in Montréal nach Paris über. Nach der Île de Montréal wurde die Île de France zu ihrer Insel. Eine Millionenstadt, in der sie niemand kannte und deren Sprache sie nicht fließend beherrschte, fungierte als Einsiedlerzelle. Durch diese selbstgewählte Klausur nahm ein intimer Zyklus von Liedern Form an, die eher ungewöhnliche Themen haben: Eine Rede Tilda Swintons über das Licht der Rothko-Gemälde als Trost nach dem unerwarteten Tod eines Freundes. Motive aus einem Film von Lasse Hallström als Spiegel einer unmöglichen Liaison. Subtil reflektiert sie in „Undeclared War“ über einen eingewanderten Vater, der Altschulden der Identitätsfindung mit sich herum-trägt, auf die Tochter über-trägt. Und auch die Verzweiflung über das Charlie Hebdo-Attentat, das passierte, als sie gerade frisch in Paris angekommen war, ist dem Album eingebrannt: Das Geheul der Polizeisirenen um sie herum formte Ribera, zusammen mit Bildern aus Virginia Woolfs zu „I Am Orlando“, zu einer fragilen Beschwörung von Wiedergeburt. Hier wird „This Island“ zu „this silent“, so still.

Riberas neue Songs fressen sich bei aller Leidensthematik aber nicht im einem Jammertal fest: Ihre unerschütterliche Hoffnung auf die Liebe und ihr umwerfender Humor, ganz schottisches Erbe, schwingen oft mit, in diesen Songs zwischen Kammerpop und Alternativ-Folk. Aus den augenzwinkernden Betrachtungen des Comediens Billy Connolly über den Schöpfer aller Dinge hat sie eine Art spirituellen Skiffle gestrickt. „Carry Me“ ,die aktuelle Single, hat sie als leuchtende Folk-Hymne auf Geborgenheit in der Fremde geschrieben, und „Led Me To You“ ist ihre Lesart des Gospel, ein Preisgesang auf alle kostbaren Momente von Hoffnung und Wahrhaftigkeit. In „Soft Place To Land“ schließlich wird ihre hauchende, rauchige Stimme ganz zur Brise, die den kleinen Inselvogel trägt, damit er einen Landeplatz finden kann.

© Stefan Franzen

Hier lässt sich noch einmal das Interview nachlesen, das ich im November 2015 mit der Sängerin geführt habe.

Alejandra Ribera: „Undeclared War“
Quelle: CBC Music


Tourdaten:
19.5. Flensburg, folkBaltica – 20.5. Klanxbüll, folkBaltica – 21.5. Bernau, Siebenklang-Festival – 22.5. Hamburg, Nochtspecher23.5. Oldenburg, Theater Laboratorium – 26.5. Erlangen E-Werk – 27.5. Offenbach, Hafen 2

Mont-sur-réal, ma terre-de-sel (#7 – Canada 150)

Saltland (Québec)
A Common Truth
(Constellation Records/Cargo)

Mit der Musikszene Montréals ist es ähnlich wie mit der ville souterraine der Metropole. Man kann sich darin verlie/r/ben. Je tiefer man in die unermesslichen Räume vordringt, umso hoffnungsloser wird der Fall. Und vielleicht stößt man dort unten irgendwo auf ein „Licht der Gnade“.

Deshalb ist es jetzt Zeit, das Label Constellation Records vorzustellen, das sich am Sankt Lorenz-Strom um experimentelle Klänge kümmert. Den besten Einstieg bietet eine Neuveröffentlichung der Cellistin und Komponistin Rebecca Foon, die unter dem Namen Saltland firmiert – ansonsten kennt man sie aus den Formationen Esmerine und Thee Silver Mt. Zion. A Common Truth ist ihr zweites Solo-Album.

Foto: Hraïr Hratchian

Foon baut aus ihren meditativen Cello-Linien ganze Kammerorchester, einzelne Linien heben sich melancholisch heraus wie die archaische Gesänge aus dem kaukasischen Kulturraum oder auch mal wie eine Pferdegeige aus den Weiten der mongolischen Steppe. Verfremdete Liegetöne erinnern an die Laute von nächtlichen Waldtieren oder altersschwache Teile einer Industrieanlage. Ihre Stimme bettet sich in rund der Hälfte der neuen Stücke hintergründig ein in die Arrangements, in denen außerdem eine Orgel, ein Piano und eine Geige Textur schaffen. Der soghafte Sound wurde von Jace Lasek geschaffen, ein Musiker aus Saskatchewan, der mit seiner Breitwand-Rockband The Besnard Lakes nun auch in Montréal angesiedelt ist (ein Interview mit ihm folgt in meiner Canada 150-Serie).

Eher bitterer, und nicht salziger Beigeschmack: Während Teile von Montréal in den letzten Tagen in den Frühlingsfluten versunken sind, lerne ich, dass Foon den Klimawandel als übergreifendes Thema für dieses Werk gewählt hat. Sie ist Teil des Künstlerkollektivs Pathway To Paris, das sich dem Kampf gegen die globale Erhitzung widmet und dem sich auch Patti Smith und Thom Yorke angeschlossen haben. Dieses Werk wählt nicht den apokalyptisch-zornigen und auch nicht den defätistischen Weg: Vielmehr fliegt Foon mit ihrer Imagination über eine versehrte Erde, kleidet ihre Besorgnis in feine Klangseismik.

Saltland: „Light Of Mercy“
Quelle: vimeo

 

Auslotung der Freiheit

Foto: Pierre Pallez

Unter den Vokalistinnen der jungen Schweizer Jazzszene ist sie eine der vielversprechendsten. Wobei: Das mit dem „Jazz“ sollte man gleich mal mit Vorbehalt aussprechen. Denn für Yumi Ito wird die stilistische Freiheit ganz groß geschrieben: „Schon als Kind habe ich improvisiert, da wusste ich noch gar nicht, dass es Klassik und Jazz und Pop gibt“, erzählt die 26-jährige. „Als Studiengang war der Jazz für mich schließlich der attraktivste, weil er dieses Improvisatorische am meisten fördert.“

Aufgewachsen als Tochter einer polnischen Mutter und eines japanischen Vaters habe sie das Universum Japans habe eher indirekt geprägt, reflektiert sie: „Vielleicht eher in der Art, wie ich denke, die Zielstrebigkeit, mit der ich meine Projekte verfolge. Aber auch die Japonismen im Impressionismus von Debussy finde ich toll, diese Farben.“ Polnische Volksmusik wurde via Chopin eine Wegbegleiterin, und natürlich war die Mutter, selbst klassische Sängerin, ihr erstes großes Vorbild, zu dem sich aber bald Ella Fitzgerald, Bobby McFerrin und Al Jarreau gesellten. „Während meiner Teenagerjahre habe ich viel Punkrock gehört, wollte laut sein mit der Stimme, ein Volumen haben wie eine Soulsängerin.“ Doch durch die Bossa Nova und Vertreterinnen der leisen Töne wurde Yumi Ito klar: Die Stimme lässt sich auch quasi sprechend nutzen, ohne die ganze Zeit Verzierungen machen zu müssen. Es ist diese Souveränität des Verzichts, die in ihrer Arbeit immer wieder durchscheint, neben der anderen Souveränität: der, über die verschiedensten Genres zu verfügen und daraus eine Freiheit zu schöpfen.

Intertwined hieß ihre erste Visitenkarte, ein Debütalbum, voller Standards von Cole Porter bis Pat Metheny. Standards, die sie aber freilich schon auf acht oder neun Minuten dehnte, mit erfindungsreichen Ausflügen ins Latinfach oder Experimentelle bereicherte, inmitten eines gleichberechtigten Quartetts. Aus dieser Band ist ein wichtiges Element geblieben: Pianist Yves Theiler. „Es war für mich sofort klar, dass wir als Duo weitermachen. Denn Yves hat eine sehr eigene Stimme auf dem Klavier, ist zugleich auch Perkussionist in seinem Spiel. Unsere Kompositionen passen gut zueinander, und wenn wir zusammen musizieren, überraschen wir uns immer wieder gegenseitig von Neuem. Mit ihm kann ich aus einer kleinen Idee etwas ganz Großes entwickeln.“

Foto: Sandro Foschi

Ergebnis des Teamworks ist die Duo-CD Ypsilon. Das aufregende Repertoire aus Eigenkompositionen reicht von einer Indiepop-artigen Melodie zu komplett freier Improvisation, von lautmalerischen Experimenten bis zu einem minimalistischen Wiegenlied mit japanischem Titel. Für Yumi Ito verkörpert sich in diesem Projekt ganz konsequent ihr Wunsch nach größtmöglicher musikalischer Freiheit, eine Freiheit, die sie am Jazzcampus bei Lehrern wie Fred Frith, Mark Turner oder Lisette Spinnler auslotet. Hier wird sie in wenigen Monaten auch ihren Masterabschluss machen, und sie ist voll des Lobes über die Basler Institution. „Ich habe vorher im Toni Areal an der Zürcher Hochschule der Künste studiert, dagegen ist es hier heimeliger und ruhiger. Aber alles ist sehr auf internationale Studenten und Dozenten ausgerichtet, es gehen immer mehr Türen Richtung Frankreich und Deutschland auf. Hier kann ich mich auf Komposition und Arranging konzentrieren.“

Was von Yumi Ito zu erwarten sein wird, das hält sie sich offen. Eines ist klar: Die Betitelung „Jazzsängerin“ ist zu eng gefasst, sie sieht sich als „Künstlerin“ – und zieht einen unerwarteten Vergleich aus der Tasche: „Egal aus welcher Ecke man kommt, es ist wichtig, dass man eine Tradition lernt, und dann sein Eigenes entwickelt. In diesem Sinne ist Picasso für mich ein großer Leitfaden.“

© Stefan Franzen

Yumi Ito & Yves Theiler: „Komori Uta“, Live @Mehrspur Zürich“
Quelle: YouTube


nächste Livetermine:
18.05.2017 – Yumi Ito & Yves Theiler, CD-Release Ypsilon @ Offbeat Jazz Festival, Dorfkirche Riehen
23.-25.05.2017 – Arismar do Espirito Santo @ Birdseye Jazzclub, Basel 

26.05.2017 – Alex Ventling Quartet @ Carambolage, Basel
27.05.2017 – Yumi Ito Project @ Kleine Leckerbissen Festival, Luzern

weitere Termine auf: yumiito.ch

 

Höhenflug der Unvernunft

                                                                            Foto: Reto Andreoli

Hildegard Lernt Fliegen & Orchester der Lucerne Festival Alumni
The Big Wig
Musical Theater Basel, 06.05.2017

Auf dem Papier, vor dem Konzert stellte man sich das als richtigen Overkill vor. Da hat man dieses Berner Sextett, das im europäischen Jazz derzeit sicherlich eine der wildesten Unternehmungen darstellt: Die „Hildegard“ mit dem unvergleichlichen Stimmen-Abenteurer Andreas Schaerer, umgeben von fünf Instrumentalisten, die von Free Jazz bis Afrika nahezu auf Zuruf umschalten. Und deren Klangwelt soll sich dann auch noch in ein komplettes Symphonieorchester einbetten?

Nicht ohne Grund nennt Schaerer diesen Clash der beiden Klangkörper „The Big Wig“, übersetzbar als „große Nummer“. Und erinnert sich, welchen Bammel er hatte, als er völlig unvorhergesehen den Auftrag zur Zusammenarbeit mit diesem sechzigköpfigen Monster aus Luzern erhielt. Eine Gratwanderung, pure Unvernunft, so der Berner, schließlich sei die Geschichte des Symphonieorchesters schon geschrieben, was solle man da noch hinzufügen? Bedenkenlose Anarchie hieß die Lösung, der Verfahrensweise eines Frank Zappa verwandt. Vergleiche mit dessen orchestralen Schaffen drängen sich während der unfassbar spannenden Show immer wieder auf, mit dem einen Unterschied: Zappa war nicht solch ein begnadeter Vokalist.

Gleich zu Beginn leiten ein paar schräge Fanfaren in hektische melodische Hakenschläge, die der Sänger mit dem Bläsersatz und den tiefen Streichern im Unisono vollführt. Er kippt hoch ins Falsett, gibt an die Posaune ab (Andreas Tschopp) unter deren New Orleans-haftem Solo sich Holzbläser, Xylophon und Streicherpizzicati tummeln. Mit „Seven Oaks“ ist der Kurs gesteckt, und das „Preludium“ führt tiefer in die instrumentale Detailarbeit hinein: Röhrenglocken und ein weihevoller Choral hauchen Harfengirlanden Leben ein, und die eskortieren eine sehnsüchtig-suchende Gesangesmelodie voll chromatischer Abgründe, koloriert von flirrenden Streichern. Ein jähes Innehalten: Glasige Violinen in höchsten Lagen begegnen Schaerers kristallinen Kastratentönen. Spätestens hier wird klar: Das ist großes Ohrenkino, bis ins Glockenspiel fein ausgeziert.

Im tänzelnden Dreierrhythmus bricht die Band sodann in ein aufgeregtes Schnattern und Quaken aus, das ist der „Zeusler“, ideale Projektionsfläche für Schaerers Akrobatik: Er dialogisiert mit sich selbst, mimt den Rapper, Dandy, Chorknaben in Personalunion, steuert jede noch so feine Halbtonnuance im Affenzahn zielsicher an. Und dann schweigt der große Apparat bis auf die sechs Perkussionisten: Sie verzahnen sich mit Zungenschnalzen, Beatboxing und Nachtvogelpfeifen zu einem fantastischen Szenario zwischen Afrika und Minimal Music. Und nochmals ist eine Steigerung drin, sie heißt treffend „If Two Colosssuses“, eine „lustvolle Zermalmung“ der beiden Parteien. Dirigent Mariano Chiacchiarini vermittelt stets hellwach zwischen Orchester und Band, schließt man die Augen, meint man, vom Konzertsaal tue sich immer wieder in Sekundenschnelle eine Tür zum Jazzkeller auf.

Alles kulminiert schließlich darin, dass Schaerer selbst das Pult erklimmt, grollend die Bläser, fauchend die Streicher anheizt und mit Knabenstimme seine Schützlinge in romantische Verzückung versetzt – die jungen Musiker üben kollektive Improvisation. Dass sich die Hildegard und ihre 60 klassischen Freunde zum Finale noch aufs Opernparkett wagen, mit einer unverkennbaren Reminiszenz an Bizets „Carmen“, gespickt von einem herzblutenden Baritonsax (Benedikt Reising), verwundert dann kaum noch. Pure Unvernunft, ja. Aber den Unvernünftigen, den Gratwanderern, ihnen gehört in der Musik die ganze Welt.

© Stefan Franzen

weitere Livetermine hier!

Side tracks #22: Von Mile End in die Welt (#6 – Canada 150)

Erik West Millette (Québec)
aktuelle Alben: West Trainz / Train Songs (L-Abe)


Ganz am Ende des Künstlerviertels Mile End in Montréal stößt man auf die Avenue Van Horne. Hier ist ein kleiner Park im Gedenken an die 2010 verstorbene Lhasa de Sela eingerichtet, auf einer anderen Freifläche stehen grandiose Schrottskulpturen von Glen Lemesurier, und hinter einer schweren Eisentür verbergen sich die Werkstätten etlicher Künstler. Hier hat auch Erik West Milette sein Headquarter, Chef des West Trainz-Projekt, ich möchte behaupten, des fabelhaftesten musikalischen Eisenbahn-Unternehmens unserer Zeit. Erik empfängt mich am Tor, als Gastgeschenk habe ich eine Ausgabe des deutschen Eisenbahnkuriers zum 125. Geburtstag der Höllentalbahn dabei.  In wenigen Minuten sind wir tief in der Historie der Canadian Pacific Railway drin – und in seiner eigenen Geschichte, die sich von Louisiana bis Québec quer über den nordamerikanischen Kontinent zieht.

Erik, kannst du zu Anfang etwas über deinen musikalischen Werdegang erzählen?

Erik West Millette: Ich bin klassisch ausgebildet, auf dem Kontrabass, dem Cello und in Komposition. Ich habe auch elektroakustische Musik gespielt. Ich habe in Russland studiert, danach einige Meisterklassen in Lübeck besucht. Es war fantastisch, sechs Monate lang in Norddeutschland zu sein. Da ging es hauptsächlich um historische Musik, Bach und andere Organisten. Da war ich zwanzig, später war ich am Rimsky-Korsakoff-Konservatorium, um Prokojieff und Rimsky-Korsakoff zu studieren, auch Meisterklassen auf dem Kontrabass zu machen. Danach habe ich eine Weile in Südfrankreich studiert, bevor ich nach Québec zurückkam, nach Montréal. Ich habe auch Gitarre, Keys und die Hammond B3 gespielt, die liebe ich. Sehr bald finge ich an, selbst Instrumente zu entwerfen, denn ich bin ein Klangforscher und suche nach der Seele des Sounds.

Dein Großvater war Eisenbahner, hat das dein Interesse für das ganze Thema geweckt?

West Millette: Auf jeden Fall. Mein Großvater Leo West hat für die CNR gearbeitet, die Canadian National Railway. Als ich vier Jahre alt war, hat er mich mit allen Leuten in der Kaboose bekannt gemacht, dem letzten Waggon, in dem die Arbeiter mitfahren, auch mit dem Lokomotivführer, und ich war sehr beeindruckt. Das war eine Diesellok, den Geruch fand ich toll. Meine Familie kam über New Orleans, Kansas, Chicago und New York hierher nach Montréal, mein Opa war Afroamerikaner und verliebte sich in eine Upper Class-Lady aus Québec City. Ich habe also immer noch Familie in Louisiana und Florida. Mein Urgroßvater arbeitete außerdem für die Canadian Pacific Railway und parallel war er musical director – vielleicht kam von ihm die Inspiration, die Themen Musik und Eisenbahn zu mischen. Weiterlesen

Gefühlte Muttersprachen

Ein freigeistiges Instrumentalquartett und eine herausragende Männerstimme – das sind die Zutaten für die vielleicht glücklichste Verbindung von Jazz und arabischer Färbung, die sich derzeit in Deutschland finden lässt. Das Quartett Masaa ist auf seinem dritten Album Outspoken zur Meisterschaft gereift: Die Stücke haben nun die Stringenz von Popsongs, und wie Geistesblitze fliegen die Improvisationen zwischen der Stimme des gebürtigen Libanesen Rabih Lahoud und der Trompete von Markus Rust hin und her. Am Piano liefert Clemens Pötzsch vorwärtsdrängende Akkorde und lyrische Passagen, erfindungsreich gestaltet Perkussionist Demian Kappenstein die perkussive Arbeit, auch mit Schrotteilen und Glöckchen. Anlässlich des Release habe ich mit Rabih Lahoud gesprochen.

Rabih, euer drittes Album heißt Outspoken. Dass ihr diesen Titel so formuliert habt, könnte ja implizieren, dass auf den Vorgängern noch eine Vorsicht da war, dass Manches nicht so direkt ausformuliert wurde…

Rabih Lahoud: Der Titel Outspoken signalisiert auf jeden Fall eine Weiterentwicklung von uns als Musikern, und auch von mir selbst als Sänger und Texter. Ich habe selbst das Gefühl, dass das jetzt gerader ist und stärker nach vorne ausgesprochen. Ich habe das im Rückblick wahrgenommen: nach der Einspielung habe ich die älteren Aufnahmen angeschaut, und auf meine Stimme, auf die Art des Zusammenspiels geachtet. Und da hatte ich sofort den Eindruck, dass jetzt alles klarer ist, wie ein Spiegel, der sauber gemacht wurde. Der Titel der CD hat aber auch damit zu tun, dass so viele verschiedene Botschaften durch die unterschiedlichen Sprachen drinstecken: Die Möglichkeit, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das sagen zu können, was einen gerade bewegt. Weiterlesen