Folksoulige Vielfalt

„Ich bin in einer Baptistenkirche groß geworden, und die Ausrichtung der Musik über das Ego hinaus steckt auch heute noch in meiner Musik“, sagt Lydia Persaud (sprich: pör-sod). „Das kannst du ruhig ‚spirituell‘ nennen.“ In Torontos Szene ist die junge Sängerin eine vielgefragte Stimme, kein Wunder, hat sie sich nach ihrer Jazzausbildung an der Humber School über die vergangenen Jahre doch in jedem Genre ausprobiert und bewährt: Country-esker, kompakter Satzgesang mit dem Frauentrio The O’Pears, Soul- und Pop-Powerballaden mit der Coverband Dwayne Gretzky, intime Jazzfarben auf der frühen EP Lost And Found.

Jetzt erscheint ihr erster Longplayer Let Me Show You. „Alle meine Projekte haben mich zu diesem Album geführt“, so Persaud. „Es stecken das Storytelling und die Harmoniegesänge des Folk drin, den ich erst relativ spät kennenlernte, obwohl es hier in Kanada für dieses Genre einen großen Industriezweig gibt, der immer noch wächst. Aber meine Songs haben auch den emotionalen und stilistischen Drive von R&B und Soul, mit dem ich von klein auf in Berührung war. Ich würde es also Folksoul nennen.“ Für die Ausformung ihres Songwritings nennt sie als prägenden Einfluss unter anderem Rufus Wainwright: Den „stream of consciousness“ seiner Erzählkunst bewundert sie, und ihre Version von Wainwrights „Poses“ berührt mit ihrer brillanten Phrasierung und ihrem großen dramaturgischen Atem tief.

Lydia Persaud: „Poses“
Quelle: youtube

Für Let Me Show You ist Persaud beim Schreiben vom Piano auf die Bariton-Ukulele umgestiegen. Das hat bewirkt, dass die harmonische Dichte ihrer älteren Jazzkompositionen sich auf der neuen CD in eine Leichtigkeit gelöst hat, an der auch die unverschämt locker groovenden Band-Kollegen aus ihrer Heimatstadt großen Anteil haben. In etlichen Stücken geht es um Liebesmelancholie, wie im angenehm verträumten Titelstück. Doch bei aller Relaxtheit des Sounds geht Persaud in ihren Lyrics auch härtere Themen an: Etwa in „No Answer“, wo es um den schwierigen Umgang Kanadas mit den Verbrechen an den Indigenen geht. Sie sitzt tief, die Enttäuschung über Präsident Justin Trudeau, der trotz seiner Bewusstheit für die kulturelle Diversität Kanadas dem Pipeline-Bau durch ein Gebiet der First Nations zustimmte. Persaud, die einen guyanischen Vater und eine ukrainische Mutter hat, solidarisiert sich mit denen, die für die Vielfalt der Gesellschaft sorgen, sei es durch ihre Gene oder ihre Überzeugungen.

„In meinem Blut ist dieses Erbe, aber in meiner Musik nicht. Ich bin ein Produkt Kanadas, und meine wichtigste Erfahrung ist es, wie ich als woman of color hier zu meiner Identität fand.“ Herkunft und Geschlecht ließen sich nicht ignorieren, sagt sie, aber sie seien eben auch nicht alles. Persaud ,die im CD-Booklet ausdrücklich ihre LGBT-Community grüßt, hat der Buntheit und Weiblichkeit Kanadas mit der Singleauskopplung „Honey Child“ eine schöne Hymne geschrieben: „Der Song ist eine Ermutigung, sich selbst zu lieben – egal, was für einen Körper du hast und welche Hautfarbe.“

© Stefan Franzen

Lydia Persaud: „Well Wasted“
Quelle: youtube

Engagierte Bounciness (#10 – Canada 150)

Alysha Brilla (Ontario)
aktuelles Album: Human ( SunnyJam Records)

Mitten in einem Schneesturm treffe ich in der Zwillingsstadt Kitchener-Waterloo südlich von Toronto ein. Ein besonders kurioses Beispiel für Kanadas Einwanderergeschichte: Bis in die 1920er hieß der Ort aufgrund der vielen Deutschstämmigen Berlin. Dabei wäre München passender: Im Zentrum der Stadt thront ein Laden, in dem sich Dirndl und Bierkrüge erstehen lassen, und eine riesige Mehrzweckhalle kündet vom alljährlich stattfindenden Oktoberfest, angeblich das zweitgrößte der Welt.

Die Nachbarstadt Waterloo dagegen ist in der Hand von Studenten. Nur mit Mühe finde ich in den Schneeverwehungen ein kleines vegetarisches Restaurant, wo ich mit Alysha Brilla verabredet bin. Sie hat mich zum Interview hierher eingeladen, denn sie will, dass ich ihre Heimatstadt kennenlerne. Mit beschlagener Brille stolpere ich die enge Treppe hinauf und stehe erst einmal in einem Plattenladen: Vollgestopft mit Vinyl-Raritäten bis unter die Dachschräge. Alysha aber sitzt unten bei einer heißen Suppe. Biographisch und musikalisch ist sie eine Art Bilderbuchmodell für die kanadische Diversität: die Mutter weiße Christin, der Vater indo-tansanischer Muslim.

Ich möchte mit deinem gemischten Hintergrund starten: Wie waren als Kind und Jugendliche deine Erfahrungen als Tochter einer Kanadierin und eines Indo-Tansaniers? Fühltest du dich als Außenseiterin?

Alysha Brilla: Ich fühlte mich mit meinem gemischten Erbe schon ein bisschen als Außenseiter, als ich jünger war, denn ich kannte nicht viele Leute, die auch diesen Background hatten. Klar, die Leute aus der Karibik durch ihre Vorfahren, aber ich kannte nicht viele, deren Mum aus einem und deren Dad aus einem anderen Land kamen. Das hat dazu geführt, dass ich viel über die Bedeutung von Identität nachgedacht habe. Meine Eltern hatten ja auch verschiedene Religionen: Meine Mutter wuchs als Christin auf, mein Großvater war ein Geistlicher, wohingegen mein Vater ein Schiit ist. Manchmal gingen wir zur Kirche, manchmal zum Jamatkhana-Gotteshaus, manchmal waren wir sehr westlich angezogen, wenn wir zur Jamatkhana gingen dagegen indische Kleidung. Und auf der Basis dieses gemischten Hintergrunds gab es immer viele politische Diskussionen in meinem Elternhaus. Weiterlesen

Wanderer durchs Grasland (#9 – Canada 150)

Poor Nameless Boy (Saskatchewan)
aktuelles Album: Bravery (Chronograph Records)

Auf meiner Reise durch Kanada habe ich mich insgeheim immer wieder gefragt, welche Sorte Musik der typisch kanadische Musiker macht, was den typischen Kanadier überhaupt auszeichnet. Ich war schon wieder zurück in Europa, als ich in Basel Joel Henderson traf, der so ein paar Klischees erfüllen könnte – von wegen Holzfällerhemd, Bart, Landbursche aus der Prärie. Doch im Gespräch wurde mir schnell klar, dass das mit den Stereotypen im Kopf schnell ad acta gelegt werden muss. Warum Henderson sich als Künstler Poor Nameless Boy nennt, aus welchen Quellen er für sein Songwriting schöpft, und welche Gedanken er sich zur aktuellen politischen Situation in Kanada und zum 150. Geburtstag des Landes macht, lest ihr hier im 9. Teil meiner Serie.


Joel, du bist in Saskatchewan aufgewachsen, eine Provinz, die von der Weite der Landschaft, der Prärie geprägt ist. Wie wirkit sich das auf dein Songwriting aus?

Henderson: Songwriter haben ja eine Antenne dafür, was um sie herum passiert. Und in Saskatchewan ist da eine Stille, du siehst den weiten Himmel. Besonders da, wo ich herkomme, gibt es nicht viel Wälder oder Bäume, du musst gezielt nach ihnen suchen. Wo ich herkomme, da gibt es einfach nur Landwirtschaft, Menschen und manchmal Städte.

Es wird ja auch unglaublich kalt dort. Ist der Winter deine kreative Zeit?

Henderson: Ja, ich denke, das ist der Fall. Der Winter bringt deine nachdenkliche Seite zum Vorschein. Du willst es warm haben, am Feuer sitzen, dann willst du schreiben und zu singen anfangen, es ist ruhiger. Wenn es neun Uhr abends ist und draußen bitterkalt, dann willst du etwas Poetisches, Schönes schaffen.

Welche musikalischen Einflüsse hattest du als deine Karriere anfing? Waren das eher Leute aus deiner Umgebung oder auch aus dem Ausland?

Henderson: Die Faszination für Songwriter habe ich erst vor fünf, sechs Jahren entwickelt. Ich wuchs vielmehr auf mit der Musik der Fünfziger und Sechziger, das war der Einfluss meines Vaters. Während meiner Studien habe ich dann aber alles gehört von R&B über Rap bis zu Punk. Ich habe alles aufgesogen. Mit 20 habe ich angefangen, eigene Songs zu schreiben, und erst da kam ich dann eher in Berührung mit kanadischen Songwritern. Heute kommt der größte Einfluss, den ich habe, von den Menschen, die ich treffe, Musiker, mit denen ich die Bühne teile, denn ich sehe dann live was sie tun, nicht nur wie sie spielen, sondern auch wie sie mit dem Publikum umgehen.

Eine sehr offensichtliche Frage: Warum trittst du nicht unter deinem richtigen Namen auf?

Henderson: Der Name entstand, weil ich nach einem anderen letzten Namen suchte. In Saskatchewan erinnern sich noch viele Leute daran, wie sie mit meinem Dad in einer Band spielten, und auch mein Bruder ist sehr aktiv in der Musikszene, auch meine Onkel und andere Familienmitglieder. Der Name „Henderson“ hat also schon eine Vergangenheit. Zu der Zeit habe ich die Musik noch nicht so ernst genommen, ich wollte einfach einen Namen. Und weil ich mir keinen neuen ausdenken konnte, sagte mein Vater im Witz zu mir: „Hey, poor nameless boy!“ Aber ich ging nach Hause und merkte, ja, das ist der Name, der mir gefällt und der auch meine Musik widerspiegelt. Auch heute noch. Weiterlesen

Vintage-Ladies aus Akadien (#2 – Canada 150)

hay babies
Les Hay Babies (Nouveau-Brunswick)
aktuelles Album: La Quatrième Dimension (Simone Records)

Die atlantische Provinz Nouveau-Brunswick ist Kanadas einzige Region mit offizieller Zweisprachigkeit. Das Englische und das Französische siedeln hier so eng beieinander, dass sie eine abenteuerliche Mischsprache, das Chiac gebildet haben. Davon machen auch drei junge Damen in ihren Texten ausgiebig Gebrauch. Die Hay Babies (Julie Aubé, Katrine Noel und Vivienne Roy) sind das aktuelle Aushängeschild einer akadischen Kultur, die sich nicht auf Traditionen festklopfen lässt, den Bonvivant-Aspekt der französischstämmigen Bewohner aber umso mehr feiert. Julie Aubé und Katrine Noel habe ich auf dem Festival Montréal en lumière getroffen, wo sie mir auch von ihrem besonderen Verhältnis zum Premier Justin Trudeau erzählt haben.

Eine offensichtliche Frage zu Beginn: Was bedeutet das „hay“ in eurem Namen?

Katrine Noel: Wir haben als 18-jährige Freundinnen angefangen, Musik zu machen, viel gejamt, Songs geschrieben, wir waren mit Feuereifer dabei. Dann haben wir einen ersten Auftritt bekommen, haben ein Foto für die Ankündigung gemacht, hatten aber noch keinen Namen. Wir waren einfach drei Mädchen, die Folk gespielt haben. Wir haben uns alle möglichen Namen ausgedacht, und Les Hay Babies hat die Zustimmung von allen drei bekommen. Eine richtige Bedeutung hat das nicht, aber es passt zu dem Folk und Country, den wir damals gespielt haben, und wir waren damals halt einfach noch Babies.

Les Hay Babies: „Fil De Téléphone“
Quelle: youtube

Jetzt gibt es einen hörbaren Stilwechsel in eurem Sound. Habt ihr das von langer Hand geplant oder ist das zufällig passiert? Weiterlesen