Hallräume aus São Paulo

Tim Bernardes
Mil Coisas Invisíveis
(Psychic Hotline/Cargo)

Brasilien war in den späten 1960ern Vorreiter einer psychedelisch gefärbten Popsprache. Gerade die junge Szene São Paulos führt diese Tradition heute fort. Schon beim Betrachten des Covers von Mil Coisas Invisíveis (1000 unsichtbare Dinge) wird klar, dass der Songwriter Tim Bernardes aus der Zeit gefallen ist. Optisch genau wie akustisch: Sein Retro-Sound funkelt in leuchtenden Hymnen, die geschwängert sind von sonnigem Streicherflirren (“Fases”). Weiche Knackbässe sind ein unverzichtbares Mittel und Schwebeharmonien, die dem Kopf von Beach Boy Brian Wilson entsprungen sein könnten.

Dazu leben viele der Songs von einer Tiefendynamik, die man im Zeitalter des permanenten Lautstärke-Limits kaum mehr gewohnt ist. Ein fein ausdifferenzierter Atem strömt da, der auch lange Sologesangs-Passagen zu Gitarre oder Piano zulässt. Stücke wie “Meus 26” und “Olha” sind Meisterwerke, die an Scott Walker und Terry Callier zugleich erinnern. Eine fantastische Wide Screen-Soundarchitektur, die immer wieder in folkige Nischen zurückfällt (“Velha Amiga”). Und das alles krönt Bernardes durch seine oft mit der Grenze zum Falsett kokettierende Stimme. Ein Kandidat auf die Platte des Jahres?

© Stefan Franzen

Tim Bernardes:“Mistificar“
Quelle: youtube

Afro-Zukunft aus Südfrankreich

Kolinga
Legacy
(Underdog Records)

Die dunklen Piano-Akkorde im Intro gemahnen fast an Nina Simone, ein würdiger Auftakt für ein grandioses Werk: Das Sextett Kolinga um die franko-kongolesische Sängerin Rebecca M’Boungou erzählt auf Legacy von Weltbürgerschaft. Die Sprache, die M’Boungou und das Band-Mastermind Arnaud Estor dafür wählen, nährt sich aus kongolesischer Rumba, die dream-poppig untergraben wird. Aus Roots Reggae, der einen Neo Soul-Einschub bekommt. Aus Flirts mit französischem Electro-Pop, spaceigem Gitarrenrock und einer Reverenz an Jacksons “Off The Wall”, die sich aus einem schmelzenden Soukous herausmogelt: Michael auf der Tanzfläche in Brazzaville! Und plötzlich leuchten überirdische Soul-Chorsätze zur predigenden Orgel (“Fire”). Jedes Stück eine kleine und große Welt für sich in diesem im besten Sinne globalisierten Sound. Und eine Afro-Musik der Zukunft, die ganz ohne das hässliche Prädikate “urban” auskommt.

© Stefan Franzen

Kolinga: „Mateya Disko“
Quelle: youtube

Yma Sumac 100


Ich werde nie vergessen, wie irgendwann in den späten 1990ern ein stadtbekannter Schauspieler in meinen Plattenladen kam und mich fragte: „Haben Sie etwas von Yma Sumac?“ Mir war der Name zwar vertraut, aber mit ihrer Musik hatte ich mich nie auseinandergesetzt. Im Regal konnte ich auch leider nur eine Greatest Hits-Kollektion finden, die mein Kunde trotzdem freudig erwarb. Und dann fragte er mich: „Wissen Sie, ob Yma Sumac noch lebt?“ Da musste ich nun wirklich passen, und in der Frühzeit des Internet war über ihr Weiter- oder Ableben kein Aufschluss zu bekommen.

Vielleicht zwei Wochen später kam mein Kunde freudestrahlend in den Laden zurück: „Yma Sumac lebt!“ verkündete er, als ginge es um eine Auferstehung eines nahen Verwandten. Und er erzählte mir aus ihrer Lebensgeschichte. Wenn sich jemand so für sie begeistert, dachte ich mir, muss ich mich auch mal in das Werk dieser glamourösen Frau reinhören, die heute Geburtstag hat (oder am 13.9., da unterscheiden sich die Dokumente).

Yma Sumac (ima shumaq in Quechua: „wie schön!“) hatte ein Hollywood-reifes Leben. Die „Nachtigall der Anden“ mit der Fünfoktaven-Stimme führte ihre Abstammung auf den letzten Inka-Herrscher Atahualpa zurück, was wohl nicht den genealogischen Tatsachen entspricht. In der Jugend sang sie Andenfolklore und war in der Tanzgruppe ihres späteren Ehemannes Moisés Vivanco unterwegs. 1950 entdeckte sie der US-amerikanische Produzent Les Baxter und machte sie zu einer der ersten Protagonistinnen des Exotica-Genres mit den Album Voice Of The Xtabay und Legend Of The Sun Virgin.

Auf den Erfolgen der Fünfziger gründet auch ihr weltweiter Ruhm. Ihre Songs waren manchmal in farbenprächtige, avantgardistische Orchesterarrangements eingebettet, manchmal in Mambo- oder Chachacha-Settings. Sumac schaffte es an der Seite von Charlton Heston 1954 auch auf die Leinwand („Secret Of The Incas“). In den 1970ern schwenkte sie auf Rock ein und wurde eine Ikone der LGBTQ-Bewegung, aber auch Musiklieferantin eines Smartphone-Werbespots. Ihre Verdienste um die weltweite Popularität der lateinamerikanischen Musik sind heute nicht unumstritten, in Peru gilt ihre Arbeit als klischeehafte Zeichnung des musikalischen Erbes.

Neuerdings kommt die Unvergleichliche zu neuen Ehren: Das Madrider Label Ella Rugen hat eine Serie von Wiederveröffentlichungen aus ihrem Werk begonnen. Jalo Nuñez del Prado, peruanischer Musikproduzent und Gründer von Ellas Rugen, hat die Reissues mit Sumacs Meilenstein Legend Of The Sun Virgin von 1952 gestartet. Er will nicht bei Sumac stehen bleiben: Geplant ist, auch andere legendäre lateinamerikanische Sängerinnen zu beleuchten, etwa Sumacs Landsfrau Lucha Reyes, die Kubanerin Olga Guillot, Estelita del Llano aus Venezuela, Mexikos María Victoria Cervantes und Las Tres Marías aus Ecuador.

Yma Sumac: „Hymn of The Sun Virgin“
Quelle: youtube

Liebesrausch am See

Ondes Martenot im KKL Luzern

„Turangalîla“-Symphonie (Olivier Messiaen)
Lucerne Festival, KKL Luzern
06.09.2022
Wiener Philharmoniker, Esa-Pekka Salonen, Bertrand Chamayou, Cécile Lartigau

Beim gewaltigen Fis-Dur-Schlussakkord geht Esa-Pekka Salonen nach 80 Minuten doch noch fast in die Knie, um die Wiener Philharmoniker zu einem gigantischen „Schwellkörper“ zu bündeln. Er, der vorher so beherrscht agierte, kraftvoll ordnete, sich nie zu gestischer Ekstase am Pult hinreißen ließ. Und das bei dieser Musik, in der nicht weniger als höchstes, aber immer auch bedrohtes Liebesglück verhandelt wird, und in ihm die Vereinigung mit dem Kosmischen.

Wie komponiert man so etwas? Der Franzose Olivier Messiaen entschied sich in seiner zehnsätzigen Turangalîla-Symphonie (1946-48) für das denkbar größte Besteck, das die eher kleine Bühne des KKL, Hauptschauplatz des Lucerne Festivals, gerade noch so fassen kann: ein ausuferndes Perkussionsarsenal, immenser Bläser- und Streicherapparat, Soloklavier und die ominösen Ondes Martenot, Tastenzauber der Elektro-Pionierjahre. Bei Messiaen finden fürs klangliche Abbild dieser kosmischen Liebe neben Wagners „Tristan und Isolde“ indische Metrik und balinesischer Gamelan Eingang in die Architektur, strukturbildend, nicht als Zierwerk. Trotzdem: Man muss das alles nicht unbedingt wissen, um sich von der sinnlichen Opulenz gefangen nehmen zu lassen. Denn beim Südfranzosen sind – wie auch in den explizit liturgischen Werken – metaphysische Verzückung und erotisch leuchtende Fülle eins.


Die Wiener legen unter Salonen einen Akzent auf den Kampf, der hier mit den dunklen Mächten in harter Arbeit ausgefochten werden muss. Blockartig herausgemeißelt die dräuenden Blechfanfaren und die harschen Schläge der Trommelabteilung dort, schwelgerisch gleißend die Streicher hier. Kommt da, inmitten der „Sensualité“ des „Chant d’Amour“, in einem kammermusikalischen Trio der berühmte Wiener Streicherklang zum Vorschein? Dazwischen zahnradartig, fast unerbittlich metallen, das stilisierte Gamelan-Ensemble mit seinen Uhrwerk-Rhythmen. Dann wiederum das Scherzo: Hier swingt es fast mit „jazzigen“ Kontrabässen.

Bertrand Chamayou, eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang, navigiert am Flügel durch all das souverän, schaltet unmerklich zwischen physischer Wucht der Solokadenzen – sein Tremolo in den höchsten Lagen gleicht dem Prasseln von Nadelstichen – und lyrischem Fluss, etwa in den plaudernden Unisono-Stellen mit der Celesta. Die rhythmische Eigenwelt der stilisierten „Vogelgesänge“ setzt er ganz divers um: Einmal mit aggressiven Gebärden, mit nach oben gereckten Handballen, man denkt hier fast an das Fressen und Gefressenwerden des Dschungelgesetzes. Im „Garten des Liebesschlafs“, diesem schimmernden Ruhepol dagegen mit hypnotischem Gleichmaß. In dieser träumerischen Gegenwelt in der Mitte der Symphonie wähnt man sich in einem opaken Glaspavillon, und die Zerbrechlichkeit hält Salonen durch punktgenaue Disziplin zusammen.

Der SciFi-Klang der Ondes Martenot dagegen stößt nur in ekstatischen Glissandi aus dem Orchesterbad heraus. Cécile Lartigau gelingt es besonders in den Solostellen, geheimnisvoll nachhallende Klanginseln zu schaffen. Welchen Vorteil die KKL-Akustik mit der immer nahen Bühne bietet, zeigt der Höhepunkt: Mit grandiosen Ritardandi führt Salonen zu den Ausbrüchen des abgewandelten „Liebestod“-Themas, hält danach in wagemutigen Generalpausen die Zeit an. Da „wohnten“ die Zuhörenden fast im Klang seliger Verschmelzung.

© Stefan Franzen, in Kurzfassung erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 09.09.2022

Werner Herzog 80

Unter den deutschen Regisseuren steht er bei mir seit Jahrzehnten unangefochten auf Platz 1: Heute wird Werner Herzog 80 Jahre alt. Seine Filme aus der Klaus Kinski-Phase mag ich nicht zuletzt auch wegen der grandiosen Soundtracks. Auch wenn Herzog immer wieder auf schon bestehende Werke der klassischen Musik zurückgegriffen hat, sein Leib- und Magen-Komponist war doch der Krautrocker Florian Fricke mit seiner Band Popol Vuh, die unter anderem die schauerlichen Klänge zu seiner Nosferatu-Verfilmung schufen.

Zwei Jahre früher schon stellte Herzog den viel unbekannteren Streifen Herz Aus Glas fertig – und der Frickesche Soundtrack dazu ist von hymnisch-psychedelischer Durchflutung geprägt, teils auch indisch eingefärbt. Und manchmal tönt es nach einem sehr entspannten frühen Mike Oldfield. Zur Feier des Tages mein Lieblingsstück daraus. Ein adäquates Ständchen für einen der Verrücktesten der Filmgeschichte – bis heute!

Popol Vuh: „Singet, denn der Gesang vertreibt die Wölfe“
Quelle: youtube

Die verletzte Taube

Mit Hans-Christian Ströbele ist gestern einer der letzten glaubhaften Verfechter einer deutschen Friedenspolitik gegangen. Er wird fehlen in einer Zeit von zunehmendem Militarismus, der sich mittlerweile bis in bürgerliche Medien hinein beobachten lässt.

Am heutigen Weltfriedenstag lasse ich die Stimme von Jacques Brel zu Wort kommen. Es ist auffällig, dass gerade die französischen und belgischen Chansonniers immer wieder bilderreich und poetisch Anti-Kriegs-Lyrik geschöpft haben, von Boris Vians „Le Déserteur“ über Yves Montands und Serge Reggianis Vertonungen von Rimbauds „Le Dormeur Du Val“ bis zu Brels „La Colombe“. Der Belgier hat es 1959 eigentlich geschrieben, um seine Verachtung gegen den Algerienkrieg kundzutun, doch die unablässigen Fragen nach dem Warum sind zeitlos, passen auf jegliche kriegerische Auseinandersetzung.

Die unerbittliche Kriegslogik wird in den Marschrhythmen widergespiegelt, die zugleich den Rhythmus eines Zuges nachahmen – ein Zug, der die Kindheit der Soldaten beendet und sie zum Massaker transportiert. Von den leeren Phrasen bei den Beerdigungen der Gefallenen ist die Rede, vom Sieg, der eine Totgeburt ist. Und schließlich von der tränenüberströmten Geliebten, die immer mehr zum Schatten wird für den jungen Rekruten, der mit dem Zug in eine mörderische Schlacht fährt. Die Taube im Wald ist verletzt, sie wird getötet werden.

Jacques Brels „La Colombe“ wurde später auch von Judy Collins und Joan Baez im Charakter von folkigen Dramen aufgegriffen. Die dunkle, martialische Moll-Wucht des Originals aber halte ich dem Thema entsprechend für viel angemessener. Für mich ist dieses Finalstück vom Album La Valse À Mille Temps eines der stärksten Antikriegs-Lieder der Musikgeschichte – es erschüttert bis heute und müsste gerade jetzt wieder viel mehr interpretiert und gespielt werden.

Jacques Brel: La Colombe“
Quelle: youtube