Tastenleuchten statt Melancholie

Júlio Resende
Fado Jazz
(ACT/edel)

Fado, der Nationalgesang der Portugiesen als jazzige Instrumentalform? Gesungener Weltschmerz ohne Stimme? Klingt absurd. Ist es aber überhaupt nicht, hört man dem Pianisten Júlio Resende zu. Fado Jazz braucht nur wenige Takte des elegant im Fünfertakts dahertänzelnden Openers „Vira Mais Cinco“, und man ist Resendes Lesart des Genres verfallen. Die klassische Pianotrio-Besetzung (Resende mit André Rosinha und Alexandre Frazão) ist aufgestockt durch die guitarra portuguesa, auf der Bruno Chaveiro aber erstaunlicherweise nicht mit dem Zaunpfahl winkt: Sie tüncht kein eindimensionales Fado-Kolorit, sondern improvisiert in bluesigen Dialogen mit dem Klavier („Lira“) oder liefert den federnden Groove im ausgelassenen „Fado Das Sete Cotovias“.

Ganz selten, wie etwa in „Este Piano Não Te Esquece“, lehnt sich Resende in die erdschwere Wehmut des Fado hinein. Und im ruhigen Pulsschlag von „All The Things…“ dominiert hymnisches Tastenleuchten zu den Besenstrichen des Schlagzeugs über die Melancholie. Resende neigt vielmehr oft der Dur-Seite des Repertoires zu. Durch quirligen Anschlag und verschmitzte Wendungen wie im „Fado Blues“ verleiht er der Saudade fast eine muntere Leichtigkeit, die auch mal nahezu brasilianisch anmuten kann. Dass im Finale dann in Gestalt der angesagten jungen Fadista Lina doch noch eine Vokalistin auftaucht, wäre da gar nicht mehr nötig gewesen.

© Stefan Franzen

Júlio Resende: „Vira Mais Cinco“
Quelle: youtube

Der Klang von Katzenhaut

Mitsune
Hazama
(Eigenverlag, mitsune.de)

Musik aus Japan hat es irgendwie nie so richtig in die Global Pop-Szene geschafft. Umso erfreulicher, dass nun ein Quintett – mit Frauentrio im Kern – aus Berlin fernöstliche Traditionen mit einer völlig unerwarteten zeitgenössischen Perspektive kombiniert. Ihre Herkunft ist multinational (Japan, Australien, Griechenland, Deutschland), sie haben seit ihrer Gründung 2018 bereits Europa und Japan in Furore versetzt und stehen nun mit ihrer zweiten Scheibe Hazama in den Startblöcken. Im Fokus steht die dreisaitige mit Schlangen-, Katzen- oder Hundehaut bespannte Shamisen, eine Kastenspießlaute, die eine Weiterentwicklung der chinesischen Sanxian ist und vor mehr als 400 Jahren nach Japan kam. Historisch war die Shamisen vor allem in verschiedenen Formen des Erzähl- und Puppentheaters gefragt und gilt auch als das Instrument der Geishas.

Von diesem Kontext wird es von Shomi Kawaguchi, Tina Kopp und Youka Snell gelöst: Geradezu muskelbepackt, zeitweise ein wenig „punkig“ sind die Arrangements, in denen die kernigen Zupf-Riffs vorwärtstreiben. Darüber legen die drei einen manchmal kraftgeladen exklamierenden, mal augenzwinkernd mit süßlichen Jazzharmonien spielenden Chor. Gebackt werden die Frauen von einer kleinen Rhythmusgruppe aus Bass und Schlagzeug, der sich auch mal zum geräuschhaften, perkussiven „Erlebnispark“ auswachsen kann. Mal groovt es richtig („Kaigara Bushi“), mal wird martialisch galoppiert („Maru“), zart wird es im Intro der Adaption des Kirschblütenliedes „Sakura“. Gelegentlich treten Gastmusiker an Cello, Flöte, Qanun oder Bassgitarre hinzu. Und plötzlich schlüpft die japanische Laute auch mal mit einem Banjo unters Bluegrass-Mäntelchen oder tanzt einen Tango. Die Entdeckung des Winters überhaupt!

© Stefan Franzen

Mitsune: „Maru“
Quelle: youtube

Die Stimme der 1000 Filme


Wer in seinem Leben auch nur flüchtig die Bollywood-Kultur gestreift hat, wird sicherlich ihre Stimme gehört haben: Zusammen mit ihrer Schwester Asha Bhosle war Lata Mangeshkar viele Jahrzehnte die dominierende Vokalistin in Indiens Filmindustrie, wirkte in den Soundtracks von über 1000 Filmen mit und lieh jeder bekannten Schauspielerin ihre Gesangsstimme. Am 6. Februar ist sie im Alter von 92 Jahren im Mumbai gestorben.

Ausgestattet mit einem klassischen Training begann Mangehskar bereits in den ersten Jahren von Indiens Unabhängigkeit, ihr erster Hit stammte 1949 aus dem Film „Mahal“. Zu den Highlights aus ihrem immensen Katalog zählen Soundtracks für Filme, die teils auch über Indiens Grenzen hinweg ein Begriff sind: „Barsaat“ (1949), „Mother India“ (1957), „Pakeezah“ (1972) oder „Veer-Zaara“ (2004). Besonders beliebt wurden ihre romantischen Duette mit dem Sänger Muhammad Rafi.

Durch ihre hohe, strahlende Stimmlage war Lata Mangeshkar auch bis ins Alter fähig, junge Akteurinnen glaubhaft zu synchronisieren. Bis heute versuchen Bollywood-Sängerinnen, Lata Mangeshkars Stil zu imitieren. Der heute führende Filmkomponist AR Rahman, der oft mit ihr zusammenarbeitete, sagte in einem Nachruf: „Lata ist nicht nur eine Sängerin und eine Ikone. Ich denke, ein Teil ihrer Seele ist Indien.
Diese Leere zu füllen, wird sehr schwierig sein für uns.“

Lata Mangeshkar & Mohammad Rafi: „Pyaar De Bhulekhe“
Quelle: youtube

Liebesbrief an die Welt


Die Berner Bassistin und Bandleaderin Eva Kesselring, die sich als Künstlerin Eva Kess nennt, hat mitten in Zeiten des Social Distancing ein Kunststück fertiggebracht: In den Winterthurer Hard Studios spielte sie mit 14 Musikern innerhalb von drei Tagen ein Large Ensemble-Album ein. Die Botschaft dieses Albums ist einfach, die Musik aber spannend und komplex. Mit Eva Kess habe ich über den „Inter-Musical Love Letter“ für die Sendung Jazz & World aktuell auf SRF 2 gesprochen. Ausstrahlung ist am Dienstag, den 08.02. ab 20h, Wiederholung am 11.02. ab 21h. Die Sendung ist im Live-Stream zu hören, in der Schweiz auch im Podcast danach.

Eva Kess: „Inbetween Worlds“
Quelle: youtube

Wundbrand und Tröstung

Lady Blackbird
Black Acid Soul
(Foundation Music/BMG)

Zwei Akkorde, pendelnd wie ein sanft angestoßenes Glockenwerk. Darüber glitzernde Tröpfchen der Improvisation, ein ruhig schreitender Bass darunter. Das Klavier scheint aus einem riesigen Saal herauszutönen. Und dann: diese großartige Stimme, rau und doch besänftigend, man will sich in sie hineinbetten. „Wenn du ganz verloren bist, verfinstert und geschunden, wenn dein Herz unter Anklage steht, dann werde ich das für dich in Ordnung bringen. I will fix it for you.“ Die dunkle Stimme in diesem Trostlied für Erwachsene, das auf dem „Peace Piece“ des Pianisten Bill Evans beruht, gehört Marley Munroe aus L.A. Unter dem Pseudonym Lady Blackbird erwirbt sie sich gerade den Ruf als eine der aufregendsten Newcomerinnen im Vokalfach.

Als sie den jetzigen Namen noch nicht trug und in New York wirkte, durchlebte Munroe eine andere Klangwelt. Ihre Musik tönte knallig und überproduziert, R&B-Stangenware mit Drum-Maschinen, E-Gitarren und schwülen Strings, sie inszenierte sich als Vamp, auch gerne mal mit SM-Maske. Zuvor hatte sie in Nashville christliche Musik gemacht, getreu ihren Wurzeln im Gospelgesang. Der Schwenk kam durch die Begegnung mit dem Produzenten Chris Seefried, mit dem sie in den Sunset Sound Studios von Hollywood eine völlig neue Philosophie erarbeitete. Und die hieß: radikale Reduktion. Ein Steinway-Flügel im Hallraum, eine auf Sparflamme zischende Orgel und der faserige Hauch des Mellotrons (für alle verantwortlich: Deron Johnson), sowie der souveräne, virile Bass von Jon Flaugher: Kaum mehr braucht es. Wenige Male wird ein abgespecktes Schlagzeug bemüht, spartanische Gitarrentöne, einmal die Trompete von New Orleans-Größe Trombone Shorty. Denn so bleibt die Lady mit ihrer Stimme im Spotlight, mal tröstlich im Pianissimo, oft aber verletzt und fiebrig. Und in den exaltierten Passagen wie ein akustischer Wundbrand, der sich in die Seele der Hörenden fräst.

Lady Blackbird fasst ihren Liedzyklus unter dem Titel Black Acid Soul, der weniger ein Stilbegriff als eine Haltung ist. „Diese Aufnahme wurde zur Welt gebracht in L.A., aber getragen wird sie vom weltweiten Geist der untergründigen schwarzen Musik“, schreibt sie in den Liner Notes der CD. Trotz dem Mangel an Eigenkompositionen ist Black Acid Soul kein Cover-Album. Denn das kleine Team erfindet all die reinterpretierten Songs neu, destilliert aus ihnen die Essenz des Zeitlosen. Mehr noch: Es kommt einem vor, als seien die Originale, 50, 60 Jahre alt, bisher nur halb geöffnete Blüten gewesen, die sich erst jetzt ganz entfalten. Da ist erst einmal das namensgebende Stück „Blackbird“: Nina Simone hat es 1963 bereits gesungen, a cappella, als schmerzliches Porträt der schwarzen Frau in einem rassistischen Amerika, die sich in die Freiheit nicht emporschwingen kann. Zwar hat Munroe es vor dem George Floyd-Trauma eingesungen, aber unfreiwillig wird es bei ihr jetzt zum Soundtrack für den Rückfall Amerikas. Die finale Textzeile ein Aufschrei, wie eine Verurteilung: „You Ain’t Never Gonna Fly!“

In den Southern Soul-Nummern „It’s Not That Easy“ und „Ruler Of My Heart“ (ursprünglich von Reuben Bell und Irma Thomas) verzichtet sie auf Bläser oder Chöre und schraubt nur mit ihrer Solo-Stimme das Klage-Potenzial enorm hoch. Ähnliche Konzentration der Mittel in „Collage“: Für das Original spannte die James Gang aus Ohio noch gleißende Streicher ein, Lady Blackbird gestaltet es mit raffinierten vokalen Overdubs und ein paar peitschenden Beckenschlägen dramatisch aus. Und Tim Hardins Ballade „It’ll Never Happen Again“, einst eine recht verträumte Folkballade, reinkarniert hier in großen Soul-Phrasierungen als verzweifelte Hymne des Entliebens. Wie sich hier der Geist einer Ära erneuert, die sich von Sam Cooke bis zum Psychedelic Rock zieht, erfasst man beim Hören ganz intuitiv. Oder besser: Man wird erfasst von diesem Geist, eingehüllt. Denn Black Acid Soul macht süchtig.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 1.2.2022 

Lady Blackbird: „It’ll Never Happen Again“
Quelle: youtube