Wundbrand und Tröstung

Lady Blackbird
Black Acid Soul
(Foundation Music/BMG)

Zwei Akkorde, pendelnd wie ein sanft angestoßenes Glockenwerk. Darüber glitzernde Tröpfchen der Improvisation, ein ruhig schreitender Bass darunter. Das Klavier scheint aus einem riesigen Saal herauszutönen. Und dann: diese großartige Stimme, rau und doch besänftigend, man will sich in sie hineinbetten. „Wenn du ganz verloren bist, verfinstert und geschunden, wenn dein Herz unter Anklage steht, dann werde ich das für dich in Ordnung bringen. I will fix it for you.“ Die dunkle Stimme in diesem Trostlied für Erwachsene, das auf dem „Peace Piece“ des Pianisten Bill Evans beruht, gehört Marley Munroe aus L.A. Unter dem Pseudonym Lady Blackbird erwirbt sie sich gerade den Ruf als eine der aufregendsten Newcomerinnen im Vokalfach.

Als sie den jetzigen Namen noch nicht trug und in New York wirkte, durchlebte Munroe eine andere Klangwelt. Ihre Musik tönte knallig und überproduziert, R&B-Stangenware mit Drum-Maschinen, E-Gitarren und schwülen Strings, sie inszenierte sich als Vamp, auch gerne mal mit SM-Maske. Zuvor hatte sie in Nashville christliche Musik gemacht, getreu ihren Wurzeln im Gospelgesang. Der Schwenk kam durch die Begegnung mit dem Produzenten Chris Seefried, mit dem sie in den Sunset Sound Studios von Hollywood eine völlig neue Philosophie erarbeitete. Und die hieß: radikale Reduktion. Ein Steinway-Flügel im Hallraum, eine auf Sparflamme zischende Orgel und der faserige Hauch des Mellotrons (für alle verantwortlich: Deron Johnson), sowie der souveräne, virile Bass von Jon Flaugher: Kaum mehr braucht es. Wenige Male wird ein abgespecktes Schlagzeug bemüht, spartanische Gitarrentöne, einmal die Trompete von New Orleans-Größe Trombone Shorty. Denn so bleibt die Lady mit ihrer Stimme im Spotlight, mal tröstlich im Pianissimo, oft aber verletzt und fiebrig. Und in den exaltierten Passagen wie ein akustischer Wundbrand, der sich in die Seele der Hörenden fräst.

Lady Blackbird fasst ihren Liedzyklus unter dem Titel Black Acid Soul, der weniger ein Stilbegriff als eine Haltung ist. „Diese Aufnahme wurde zur Welt gebracht in L.A., aber getragen wird sie vom weltweiten Geist der untergründigen schwarzen Musik“, schreibt sie in den Liner Notes der CD. Trotz dem Mangel an Eigenkompositionen ist Black Acid Soul kein Cover-Album. Denn das kleine Team erfindet all die reinterpretierten Songs neu, destilliert aus ihnen die Essenz des Zeitlosen. Mehr noch: Es kommt einem vor, als seien die Originale, 50, 60 Jahre alt, bisher nur halb geöffnete Blüten gewesen, die sich erst jetzt ganz entfalten. Da ist erst einmal das namensgebende Stück „Blackbird“: Nina Simone hat es 1963 bereits gesungen, a cappella, als schmerzliches Porträt der schwarzen Frau in einem rassistischen Amerika, die sich in die Freiheit nicht emporschwingen kann. Zwar hat Munroe es vor dem George Floyd-Trauma eingesungen, aber unfreiwillig wird es bei ihr jetzt zum Soundtrack für den Rückfall Amerikas. Die finale Textzeile ein Aufschrei, wie eine Verurteilung: „You Ain’t Never Gonna Fly!“

In den Southern Soul-Nummern „It’s Not That Easy“ und „Ruler Of My Heart“ (ursprünglich von Reuben Bell und Irma Thomas) verzichtet sie auf Bläser oder Chöre und schraubt nur mit ihrer Solo-Stimme das Klage-Potenzial enorm hoch. Ähnliche Konzentration der Mittel in „Collage“: Für das Original spannte die James Gang aus Ohio noch gleißende Streicher ein, Lady Blackbird gestaltet es mit raffinierten vokalen Overdubs und ein paar peitschenden Beckenschlägen dramatisch aus. Und Tim Hardins Ballade „It’ll Never Happen Again“, einst eine recht verträumte Folkballade, reinkarniert hier in großen Soul-Phrasierungen als verzweifelte Hymne des Entliebens. Wie sich hier der Geist einer Ära erneuert, die sich von Sam Cooke bis zum Psychedelic Rock zieht, erfasst man beim Hören ganz intuitiv. Oder besser: Man wird erfasst von diesem Geist, eingehüllt. Denn Black Acid Soul macht süchtig.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 1.2.2022 

Lady Blackbird: „It’ll Never Happen Again“
Quelle: youtube

Schätze von der Schwarzmeerküste

Das Schwarzmeer ist von alters her ein Schmelztiegel der Kulturen, ein faszinierendes Flechtwerk von Tönen, das bei uns unbekannt ist. Mit ihrem Quintett führt uns die junge Jazz-Sängerin Ayça Miraç in diese Welt und verbindet sie mit dem Hier und Jetzt: Auf ihrem berührenden Debüt Lazjazz (Jazzhaus Records/in-akustik) spannt sie eine einzigartige Klangbrücke zwischen den Jahrhunderten – von den Kulturen der Lasen und Megrelier hinüber zum Bosporus und weiter zu Bill Evans.

Ganz selten geschieht es, dass nach wenigen Takten schon ein so starker Bann für die Ohren entsteht: „E Asiye“ heißt das Eröffnungsstück der Debüt-CD von Ayça Miraç, das uns eine fremdartig geheimnisvolle Melodie schenkt. Sie rührt an tiefere Schichten der Musikgeschichte, wärmt die Seele wie ein vertrautes Gefühl, das uns seit langem abhandengekommen war und nun unverhofft zurückkehrt. Diese Melodie stammt aus dem Kulturschatz der Lasen. Ihn zu bewahren ist zentrales Anliegen der Sängerin.

Ayça, die in Gelsenkirchen aufgewachsen ist, schöpft aus einem reichen Fundus an kulturellen Quellen. Schon ihr Großvater begeisterte sich für klassische türkische Musik und während der regelmäßigen Aufenthalte in Istanbul hört die Enkelin diese Klänge. Hier hat sie ihren Zweitwohnsitz. Ayças Vater ist der bekannte Poet und Schriftsteller Yasar Miraç. Er übt durch seine modalen Klavier-Improvisationen über türkische Melodien schon früh Einfluss auf die musikalische Imaginationskraft der Tochter aus. Viele seiner Gedichte werden vertont, unter anderem von der immens populären Folkgruppe Yeni Türkü.

Die zweite große Klangquelle für Ayça ist das Volk der Lasen – eine Minderheit, die an der östlichen, immer grünen Schwarzmeerküste sowohl auf türkischem, wie auf georgischem Gebiet beheimatet ist. Ayças lasische Mutter ist Gründungsmitglied von Lazebura e.V., dem Verein, der sich zum Erhalt der von der UNESCO als bedroht eingestuften Sprache einsetzt. Ayça besucht lasische Feste und Konzerte, lotet die Vielfalt der Musik dieses Volkes aus. Es war als Minorität im Laufe seiner Geschichte permanenter Unterdrückung ausgesetzt. Sie bemüht sich, das klangvolle Idiom der Schwarzmeer-„Ureinwohner“ zu erlernen. Und sie genießt während ihrer Aufenthalte in der Region diese klangvolle Sprache, die sich durch ihre Lautmalerei wunderbar zur musikalischen Einbettung eignet.

Für Ayça steht nach ihrer Schulzeit fest, dass sie ihre große Gesangsleidenschaft zum Lebensinhalt machen möchte. Das Jazzstudium am holländischen ArtEZ Conservatorium steht auf einem breiten Sockel, bezieht auch Bossa Nova und klassische Lieder mit ein, etwa von Schubert oder Debussy. Hoch motiviert färbt Ayça Miraç ihr Repertoire auch zunehmend mit lasischen und türkischen Farben.

In mehreren Schritten kristallisiert sich ihre mutige Vision heraus: das Vokabular des Jazz mit dem Schatz der Schwarzmeerküste in einer modernen Klangsprache zu verknüpfen. Diese Vision benennt sie mit einem genauso griffigen wie schlüssigen Attribut: „Lazjazz“. Beistand bekommt sie von Wayne Shorter persönlich: „Erforsche die Barrieren deines Verstandes und hab‘ keine Angst vor deinem eigenen Potenzial“, gibt er ihr bei einer intensiven Begegnung mit auf den Weg.

Wesentlich für die Umsetzung ist Bassist Philipp Grußendorf, den sie bereits während ihrer holländischen Jahre kennenlernt. Zusammen tasten sich die beiden auf diesem neuen Parkett vor, entwerfen erste Arrangements. Grußendorf bringt einen Bekannten, den brasilianischen Pianisten Henrique Gomide in die entstehende Band mit, und in Markus Rieck findet Ayça Miraç einen feinfühligen Schlagzeuger, der dem Klang ihrer Stimme respektvoll entgegenkommt. Schließlich verleiht das Violinspiel von Daphne Oltheten der Textur eine obertonreiche Färbung. Neun faszinierende Songs sind das Resultat dieses gelungenen Wagnisses: Die einzigartige Tonsprache aus Nahost-Roots, US-Jazz und ein wenig Latin-Flair bündeln die fünf Musiker zu einer elektrisierenden Dramaturgie mit Ayça Miraçs klaren Stimme stets im Zentrum.

Ayça Miraç: „E Aisye“
Quelle: youtube

Gleich im Opener „E Asiye“ zeigt sich, wie die Sängerin es versteht, eine alte lasische Melodie symbiotisch in einen Jazzkontext einzufügen. Subtil fängt sie in den Quartparallelen zwischen Stimme und Geige die traditionelle Zweistimmigkeit ein – diese alte Polyphonie ist heute noch bei denjenigen Lasen lebendig, die an der georgischen Grenze wohnen. Ebenfalls in einem lasischen Dialekt steht „Avlaskani Cuneli“ aus dem Repertoire des früh verstorbenen Sängers Kazım Koyuncu. Im vorwärtstreibenden Fünfertakt mündet Folkloristisch-Tänzerisches in eine Pianoimprovisation Gomides.

Beide lasischen Lieder sind ein Schaukasten für die sanfte und doch so souveräne Empfindsamkeit der Stimme Ayças. Ein Ausflug zu den Megreliern, den nördlichen Nachbarn der Lasen beglückt in „Va Giorko Ma“: Vocals, gestrichener Bass und Geige erzeugen mit pointierten Pianotupfern eine hymnische, fast archaische Feierlichkeit. Doch die mit dem Lasischen verwandte Sprache besteht auch im modernen Kontext, wenn in „Veengara“ Parallelen an Popballaden aufblitzen.

Zweifach begibt sich Ayça Miraç in den türkischen Kulturraum: „Trabzon Sarkısı“, ihre lyrische und leichtfüßige Widmung an die sagenhafte Schwarzmeermetropole ist eine Eigenkomposition, mit der sie ein Gedicht ihres Vaters in impressionistische Stimmungen kleidet. Die Geige lehnt sich in ihren Parallelgängen hier an den Kreistanz Horon an, der traditionell in der Schwarzmeerregion durch die Kemençe begleitet wird. Mit der urbanen Ballade „Üsküdar’a Giderken“ hätte sich so manche Sängerin aufs Glatteis begeben können: Die getragene Liebeserklärung an den Istanbuler Stadtteil existiert im ganzen Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches in unzähligen Varianten. Mit seiner Version umschifft das Quintett die Klippen der Klischees, indem es den Evergreen clever mit Fragmenten eines sephardischen Liedes kontrastiert und ein quirligeres Tempo wählt. Das zweite Stück aus Ayça Miraç’ Feder ist „Dream Of Ilham“, eine träumerische, sanftmütige Hommage an ihren Kater Ilham. Sein arabischer Name („Inspiration“) scheint hier alles andere als Zufall.

Schließlich geht die Reise hinüber nach Amerika: Mit „Turn Out The Stars“ greift Ayça ein intensives Stück ihres Lieblingspianisten Bill Evans auf, verlangsamt zu einer intensiven Ballade, die sie auch als stilsichere und gefühlvolle Standard-Interpretin zeigt. Die CD endet auf brasilianischem Boden: Das bewegende „Menina Da Lua“ von Renato Motha, ist ein Trost spendendes Lied. Philipp Grußendorf brachte den sanften Closing Track von seinen brasilianischen Erkundungen in Südamerika mit. Der Titel vom Mondmädchen verweist zudem auf Ayça selbst. Auch ihr Name bedeutet „leuchtend wie der Mond“.

Ayça Miraçs Lazjazz fügt den kreativen Dialogen zwischen europäischem Jazz und dem Schatz traditioneller Klänge des Ostens ein spannendes Kapitel hinzu. Und ihre Stimme strahlt als helles Gestirn, das am Vokalhimmel gerade erst aufgeht.

© Stefan Franzen

live: 26.9. Köln, Urania Theater / 2.10. Gelsenkirchen, Die Flora

Ayça Miraç: „Avlaskani Cuneli“
Quelle: youtube