Soulfood vom St. Lorenz-Strom

The Brooks
Any Day Now
(Underdog Records/Broken Silence)

In diesen Tagen kann man wärmendes Seelenfutter gut brauchen, und das kommt ausgerechnet aus einer etwas kühlen Region, der kanadischen Provinz Québec. Dass der Ahornstaat beim Soul und Funk oberster Güte immer wieder für Überraschungen sorgt, ist nichts Neues, doch unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre ragt die neue Scheibe der seit acht Jahren existierenden Montréaler Truppe The Brooks nochmal heraus. Warum behaupte ich das so dreist?

Hier ein paar Argumente: Any Day Now schlägt einen überwältigenden dramaturgischen Spannungsbogen, eingerahmt in ein  großorchestrales Präludium und Finale, die beide in Klangfarben zwischen flirrenden Holzbläsern, Harfen, Blechblasfanfaren und Synthesizer-Melodien nur so funkeln. Dazwischen entfaltet sich ein funky Kosmos, der so ziemlich alle Kapitel der Soul- und R&B-Historie der letzten fünfzig Jahre würdigt. In „Drinking“ und „Zender“ führen die Québecois Tugenden von George Clinton und D’Angelo zusammen, angeheizt von einer fantastischen Horn Section, die schließlich fast zur Marching Band wird. „Moonbeam“ lässt wieder das Symphonische aufleuchten, mit einem Schimmern, das an die Arrangements aus Curtis Mayfields früher Solozeit erinnert, doch die Synthese zwischen Orchester und Band wird erst in „Headband“ zur Perfektion gebracht.

„Gameplay“ schwenkt in die rockigere Seite des Funk ein, „So Turned“ On“ fügt mit sexy-sonniger Melodik tatsächlich einen Schuss guten Britpop der Achtziger ins Gebräu hinzu. Doch der Stilpalette ist noch nicht genug: „The Crown“ gipfelt in einem Afrobeat-Hexenkessel, während „Turn Up The Sound“ eine gekonnte Kreuzung aus James Brown und Sly & Robbie ist. Das sich mit all diesen verschiedenen Ingredienzien doch ein homogenes Puzzle in den Ohren des Hörers ordnet, ist das Erstaunlichste an diesem Werk. Montréal, mon amour, kann ich da nur einmal mehr sagen!

The Brooks: „Turn Up The Sound“
Quelle: youtube

 

Shake Djibouti

Foto: © Janto Djassi

Groupe RTD
The Dancing Devils Of Djibouti
(Ostinato Records/Groove Attack)

Das kleine ostafrikanische Djibouti hat sich bislang der musikalischen Entdeckung durch den Westen entzogen. Nun kommt die aktuelle Staatsband des Landes, Groupe RTD, zu internationalen Ehren – mit der Musik, die sie nach Dienstschluss spielt. Der senegaldeutsche Produzent Janto Djassi hat mir die Geschichte ihrer Entdeckung erzählt.

Es ist jedem Besitzer eines Plattenspielers schon mal passiert: Man spielt eine Scheibe mit der falschen Geschwindigkeit ab und merkt das in der Regel nach einigen Sekunden. Als der Autor dieser Zeilen allerdings die Doppel-LP The Dancing Devils Of Djibouti auflegt, schweifen geisterhafte Vokalmelismen zu sirrenden Synths durch den Raum, die von einem tonnenschwer schaukelnden Offbeat mit garstigen E-Gitarren und swingendem Sax abgelöst werden: Musik wie aus einer anderen Welt, die man eigentlich gar nicht auf 45 Umdrehungen korrigieren will. Aber selbst nach dem Umlegen des Riemens verlieren die Klänge wenig von ihrem Faszinosum.

Dahinter steckt eine Band mit dem furztrockenen Namen Groupe Radiodiffusion-Télévision Djibouti, kurz Groupe RTD. „Das ist die nationale Radioband, die in ihrem Alltag auf Staatsempfängen und im präsidialen Palast spielt. Da ist dann oft auch Propagandamusik, Nationalistisches dabei“, sagt Janto Djassi, Koproduzent der Aufnahmen. „Was wir aufgenommen haben, ist aber die Musik, die sie nach Feierabend spielen, die sie aus ihrer Kindheit kennen und re-interpretieren. Das zweite Gesicht der Band.“ Der Hamburger Musiker, Foto- und Videograf Djassi stieß über seinen Freund Nicolas Sheikholeslami, der sich mit somalischer Musik beschäftigt hatte, zum Label Ostinato des Inders Vik Sohonie. Zunächst realisierten sie die vielfach beachteten Reissue-Kompilationen „Sweet As Broken Dates“ und „Two Niles To Sing A Melody“ in Somalilands Hauptstadt Hargeysa und dem Sudan. In Djibouti wurden ihre ursprünglichen Pläne dann über den Haufen geworfen.

„Während wir das Archiv des Radios digitalisierten, hatte der Direktor für uns ein kleines Konzert im Studio vorbereitet. Wir waren sofort hin und weg von der Energie, die von dieser Band auf uns zukam!“ Schnell reifte das Vorhaben, statt Archivarisches zu veröffentlichen, neue Aufnahmen mit der seit 2013 bestehenden neunköpfigen Groupe RTD zu machen, ermöglicht durch eigens eingeflogene Technik. Die Band um die junge, einer Talentshow entstammende Sängerin Asma Omar und den Sax-Grandseigneur Mohamed Abdi Alto spielt einen knackig groovenden Tanzband-Sound, der sich aus vielen Quellen speist, denn die zehn Tracks spiegeln die geographische Position Djiboutis, das erst seit 1977 von Somalia unabhängig ist, als Knotenpunkt am Roten Meer wider.

„Es gab schon immer Handels- und Kulturverbindungen zwischen Indien, dem arabischen Raum und Ostafrika“, sagt Djassi. „Somalier leben in der Ogaden-Region Äthiopiens, Äthiopier in Somalia.“ Und so hört man in den Stücken neben den heimischen Rhythmen vom Tadjoura-Golf auch immer alten Somali-Pop, die schaukelnden Takte des Sudan, äthiopische Skalen, arabische Ornamentik und einen Hauch Bollywood mitschwingen. Vermeintliche Reggae-Einflüsse sind nicht jamaikanisch zu verorten, sagt Djassi, der charakteristische Offbeat sei aus Äthiopien herübergeweht. Und: „Da die amerikanische Musikindustrie über Radio und Platten auch dort alles penetriert hat, steckt natürlich auch James Brown-Funk und Jazz drin. Der RTD-Saxophonist Mohamed Abdi Alto war immer ein großer Fan von Charlie Parker und Harlem Jazz.“

Djiboutis Führung war bis dato eher darauf bedacht, den Zugang zum kulturellen Erbe nicht gerade Jedem zu ermöglichen. Seine Regierung, die bei uns unter „Diktatur“ firmieren würde, wird nach Djassis Einschätzung von weiten Teilen der Bevölkerung getragen. Dass er überhaupt ins sich abschottende Djibouti reisen durfte, hat er einem Bonus zu verdanken: „Ich bin Senegaldeutscher, und Vik ist in Thailand lebender Inder, wir entsprechen also nicht dem Bild des weißen Mannes, der irgendwo hinkommt und sich dann wieder vom Acker macht, nachdem er Ressourcen extrahiert hat.“

Zentrale Philosophie von Ostinato Records ist es tatsächlich, bei der Arbeit vor Ort auch etwas dazulassen, in diesem Fall eine Bandmaschine und Digitalisierungs-Tools. Und dazu gehört auch, anstatt altes Vinyl auszuschlachten, ungeklärte Fragen der Urheberrechte inklusive, künftig mehr kontemporäre Musik aufzunehmen, die den lebenden Musikern vor Ort als Sprungbrett dienen soll. RTD wollen, so Covid-19 beherrschbar wird, bald in Europa auf Tour kommen. „Wir möchten das Narrativ vom armen Afrika, Krieg, Mord- und Totschlag und somalischen Piraten korrigieren. Die Machtillusionen des Westens zurechtrücken.“

© Stefan Franzen, veröffentlicht in Jazz thing #136

Groupe RTD: „Buuraha U Dheer“
Quelle: youtube

Tanz am Geysir

Es ist soweit: Der erste Vorbote aus Yumi Itos im November auch physisch erscheinenden Album Stardust Crystals kommt in Form der Single „Little Things“ mit dazugehörigem Video. Darin huldigt sie unverkennbar ihrer großen Liebe Island, und die Klänge gehen eine wunderbare Synthese mit der Natur ein. Well done, Yumi!

Yumi Ito: „Little Things“
Quelle: youtube

Entgrenzter Schumann

Foto: Gregor Hohenberg

Johanna Summer
Fuge trifft Fuge, Denzlingen
17.10.2020

Eine Trias der Künste lässt Goran Kojic in seinem Ladengeschäft aufeinander wirken: Coronen-Stelen von Michael Bögle und Bilder von Anke Rösner umgeben den zentral platzierten Flügel, an den der Fliesenlegermeister und Pianist seit 2019 regelmäßig Musiker bittet. Nach acht Konzerten ist die passend betitelte Reihe „Fuge trifft Fuge“ bestens eingeführt, wird auch in Corona-Zeiten gut angenommen. An solchen Abenden wie diesem, an denen er seine beiden Passionen Handwerk und Klang in warmer Wohnzimmeratmosphäre vor Publikum zusammenführen kann, gehe ihm das Herz auf, sagt Kojic, der erkennbar für seine Sache brennt. Und es ist ihm mit Johanna Summer gelungen, eine Starpianistin der jungen deutschen Szene nach Denzlingen zu locken, um ihr neues Schumann-Soloprogramm zu präsentieren.

Sich im Beethoven-Jahr um Robert Schumann zu kümmern – schon fast eine kleine Rebellion. Doch die Zeit dafür war reif, so Summer im Vorgespräch. Was die unweit vom Geburtsort des Komponisten, Zwickau, aufgewachsene Plauenerin fasziniert: Seine Stücke aus den „Kinderszenen“ und dem „Album für die Jugend“ sind wie Abbilder eines Zustandes, kaum haben sie begonnen, sind sie schon wieder vorbei. Und so seien sie für eine fantasievolle Adaption, ein entgrenztes Fortspinnen viel eher geeignet als etwa eine Bach-Fuge oder eine Beethoven-Sonate.

Ein unendliches, aufregendes Spielfeld für die Mittzwanzigerin, die vom klassischen Unterricht ins Jazz-Studium einbog. Dabei legt sie das althergebrachte Schema von Thema und anschließender Improvisation ad acta: Zwei meist gegensätzliche Charaktere aus den Schumann-Alben verklammert sie an einer sehr langen Leine. Es ist, als flöge der Hörer in eine dichte Klangwolke aus freien, flüchtigen Schumann-Radikalen, die sich vorübergehend zu ihren bekannten Molekülen ordnen.

Etwa in „Glückes genug“ und „Erster Verlust“. Die fallende Melodiebewegung füllt Summer mit Swing-Feeling, parfümiert sie mit Blue Notes, bis unvermittelt, aber doch organisch erwachsen, das Originalthema dasteht. Das Doppel aus dem „Haschemann“ und dem „Ritter vom Steckenpferd“ gestaltet sie mit querständigen Ostinati, baut daraus einen wippenden Groove, lässt einen fast abrupten Schluss zu. Summers Impro-Strecken haben sowohl „jazzy“ Anmutungen, greifen aber genauso beherzt in den virtuosen Werkzeugkasten spätromantischer Konzertkadenzen. Am verblüffendsten gelingt ihr der Spagat zwischen „Knecht Ruprecht“ und der „Träumerei“, zwei hassgeliebte Ohrwürmer jeden Klavierschülers: Die täppischen Sechzehntelfiguren des Nikolaus-Gehilfen wandelt sie zu dräuend monströsen Blockakkorden, mit packender Physis lotet sie den Bassraum aus. Und dann hält man den Atem an, wie sich die immer zartere Melancholie vorarbeitet, das „Träumerei“-Thema schließlich von aquatisch schimmernden Linien umflossen wird. Großer Applaus für fantastische Stil-Verfugungen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 19.10.2020

fuge-trifft-fuge.de
nächste Termine: Thomas Bauser, 1.11., Rainer Böhm, 6.12.

Johanna Summer: „Knecht Ruprecht – Träumerei“
Quelle: youtube

Side tracks #29: Bluesig-minimalistischer Jam

J.J. Cale
Okie
(Shelter Records, 1974)

Ich kann mich erinnern, dass mich das Instrumental „Okie“ aus J.J. Cales gleichnamigem Album jeden Sonntagabend zur Weißglut brachte, als ich ca. zehn bis zwölf Jahre alt war. SWF 3-Moderator Frank Laufenberg, dem ich bis heute für die Erschließung von Popmusikgeschichte dankbar bin, hatte das Stück als Erkennungsmelodie für seine Top Ten in der Sendung Pop Shop ausgesucht. Ich fand es als vorpubertärer Hörer überflüssig, unzugänglich, unmelodiös – und mich nervte, dass mir das Stück im Weg stand, bevor endlich die spannenden Neuzugänge vorgestellt wurden!

Aber wie es so ist mit der akustischen Erinnerung: Das Stück hatte sich über die Jahrzehnte so in meine Synapsen eingelagert, dass ich es im Geiste sofort Ton für Ton der Gitarrenlinie mitsingen konnte, als ich es neulich durch Zufall mal wieder hörte. Damals wusste ich weder, dass das Stück von J.J. Cale ist, noch dass es von einer LP mit einem schönen Eisenbahn-Bild stammt. Rückblickend muss ich sagen: Nicht nur perfekte Auswahl als Erkennungsmelodie, auch losgelöst aus dieser Funktion ein grandios bluesig-minimalistischer Jam. Ich glaube, ich werde gleich mal versuchen, das Kleinod auf meiner Gretsch zu spielen.

JJ Cale: „Okie“
Quelle: youtube

Der Staub trifft seine wahre Liebe

Er galt als der größte Sänger des Iran des 20. Jahrhunderts, manche sagen, er besaß die größte Stimme, die das Land je hervorgebracht hatte: Am vergangenen Donnerstag ist Mohammad Reza Shajarian nach fünfzehnjährigem Kampf gegen den Krebs im Alter von 80 Jahren gestorben. Um seine Stimme kam niemand herum, der sich mit klassischer persischer Musik befasste. Kein anderer Vokalist im Iran hatte eine so technisch ausgefeilte, melismatische Gesangeskunst entwickelt und zugleich einen so schmerzlich-intensiven Ausdruck erreicht, sowohl in der Vertonung Jahrhunderte alter und zeitgenössischer Poesie als auch in der Interpretation des Korangesangs.

Shajarian stammte aus der nordwestiranischen Stadt Maschhad und begann seine musikalische Laufbahn mit dem Singen von Suren, unterwiesen vom Vater. Danach eignete er sich unter einem ganzen Spektrum von Meistern den Radif, den Kanon der persischen Klassik, an und machte bereits mit knapp zwanzig Jahren erste Aufnahmen für den Rundfunk. Er konzertierte weltweit mit Ensembles, in denen die besten Musiker des Landes spielten, unter ihnen etwa der Spießgeigenvirtuose Kayhan Kalhor oder der Lautenist Hossein Alizadeh. Unter den vielen herausragenden Aufnahmen ist seine Hafez-Vertonung „Bidad“ mit dem Santur-Spieler Parviz Meshkatian besonders bewegend:

Mohammad Reza Shajarian & Parviz Meshkatian: „Bidad“
Quelle: youtube

Shajarian hielt sich auch aus der Politik nicht heraus: Vor 41 Jahren schlug er sich auf die Seite der Schah-Gegner und unterstützte die Revolution, auch weil er unter dem Schah eine musikalische Verflachung und den Verfall der traditionellen und klassischen Musik erlebte. In jüngerer Zeit war er ein prominenter Befürworter der Protestbewegung gegen Präsident Ahmadinejad. Als der die Protestierenden als „Staub und Müll“ bezeichnete, konterte Shajarian: „Ich bin die Stimme des Staubs und des Mülls und werde es immer sein.“ Er untersagte es dem iranischen Staatsradio fortan, seine Musik zu spielen und rief mit seinem Song „Zaban e Atash o Ahan“ (Sprache aus Feuer und Eisen) 2009 zum friedlichen Zukunftsdialog auf. Daraufhin durfte er nur noch im Ausland konzertieren, erst später kehrte er als Lehrer an die Universität von Teheran zurück.

Welche Symbolfunktion Shajarian für die verschiedensten Altersgruppen hatte, hat sich jetzt gezeigt, als nach seinem Tod Hunderte von Fans trotz Pandemie vor dem Hospital zusammenkamen und seine metaphernreiche Lyrik sangen: „Vogel der Freiheit, sing für mich, erneuere meinen Kummer. Oh Allmächtiger, wandle unsere Nacht der Dunkelheit zur Morgendämmerung.“ Shajarians Sohn Homayun, ebenfalls ein Sänger, kommentierte den Tod seines Vaters mit der berührenden Zeile: „Der Staub unter den Füßen der Menschen ist nach Hause geflogen, um seine wahre Liebe zu treffen.“

© Stefan Franzen

Mohammad Reza Shajarian: „Morgh-e Sahar“
Quelle: youtube

 

Barde mit Biss

Als mein bester Kumpel Oli und ich 1990 zum ersten Mal nach Irland interrailten, besuchten wir auch das Ballyshannon Folk Festival. Im dortigen Programm fiel uns ein grandioser Songwriter auf, der das Zelt in einer Einmannshow zu nächtlicher Stunde rockte. Seine Lieder, bissig und doch sehr berührend (wie etwa der Ohrwurm „I Feel It In My Bones“!), blieben im Kopf – während der ganzen weiteren Interrailtour und noch viele Jahre danach. Crystal Ball Gazing war damals sein Album der Stunde, mit vielen Hits wie „Limbo People“, „Grafton Street“ und „The Strangeness Of It All“. Viel zu früh ist diese Urkraft irischer Songschmiede-Kunst nun gegangen. Rest In Power, Kieran Halpin.

Kieran Halpin & Chris Jones: „The Strangeness Of It All“ (live 2003)
Quelle: youtube

Ein Mekka im Markgräferland – zum Tod von Matthias Wagner

Ensemble Albaycín, Orientalische Sommerakademie 2018, St. Cyriak Sulzburg (Foto: Stefan Franzen)

Er hat die musikalische Hochkultur der ganzen arabischen Welt in die Region gebracht: Seit 2010 gaben sich bei seiner Orientalischen Sommerakademie Meister von Algier bis Aleppo die Klinke in die Hand. Nach schwerer Krankheit ist Matthias Wagner nun gestorben.

Eigentlich war Wagner Instrumentenbauer, und durch seine Arbeit in arabischen Ländern kam er in regen Kontakt mit den größten Solisten auf der Laute Oud. Als die negativen Schlagzeilen über arabische Länder bei uns überhandnahmen, reifte die Idee für seine Orientalische Sommerakademie, mit der er die wahre Seite dieser Kultur zeigen wollte. Matthias Wagner lud namhafte arabische Musiker in seinen Wohnort Badenweiler ein und fuhr von Beginn an zweigleisig: Er bot ihnen eine Konzertbühne, schuf zugleich die Möglichkeit, dass sie ihre Kenntnisse an hiesige Schüler vermittelten – auf der Oud, der Flöte Ney, dem Hackbrett Kanun, der Spießgeige Djose, im Gesang oder der reichen orientalischen Perkussions-Familie.

Ab 2014 fand die Sommerakademie ihren festen Platz in Sulzburg und erlangte schnell internationalen Ruf. Dabei war es Wagner immer ein Anliegen, die Kunstmusik Algeriens, Tunesiens, Syriens, Ägyptens und des Irak mit der abendländischen Klassik in Dialog treten zu lassen, genau wie die verschiedenen Weltreligionen: Arabische Musik in einer Synagoge oder einer christlichen Kirche – allein das hatte schon Symbolwert. Das Resultat waren musikalisch erstklassige und berührende Abendkonzerte in der Synagoge und St. Cyriak, die lange im Gedächtnis blieben.

Mit einem kleinen Team stemmte Wagner bis 2018 die Mammutaufgabe mit großem Engagement, reicher Fachkenntnis und in sehr warmherziger, bescheidener Art. Sein Festivalmotto „Die Menschen sind die Feinde dessen, was sie nicht kennen“ ist aktueller denn je. Wer sein Vermächtnis weiterführen wird, ist noch unklar. Mit ihm geht einer der großen Vermittler unserer Region zwischen Orient und Okzident.

Pazifische Rückkehr

Fleet Foxes
Shore
(Anti/Indigo)

Es war ein hübscher Coup, mit dem die Seattler Folkrockband ihr viertes Album veröffentlichte: Pünktlich zur Tagundnachtgleiche am 22. September streamten sie “Shore”, ihr Album zur Pandemie, die Bandleader Robin Pecknold mit dem Rückzug in seine Küche, Plätzchenbacken und die gelegentliche Teilnahme an Black Lives Matter-Demos bewältigte. Und natürlich mit Songschreiben. Paradoxerweise öffnete Corona dem zu nagenden Selbstzweifeln neigenden Pop-Poeten neue musikalische Türen. Denn mehr als alle Fleet Foxes-Alben zuvor, allen voran dem düster-mythischen Vorgänger “Crack-Up”, verströmt “Shore” den lichten Charme des Optimismus.

Die fünfzehn Songs fließen oft in majestätischen Dur-Tonarten: „Jara“ erinnert an die strahlenden, verhallten Hymnen der Byrds, „Featherweight“ kleidet sich mit leicht verstimmten Schrammelgitarren als verträumter Schlafzimmer-Folk ein, „Quiet Air“ schichtet Pecknolds Stimme zu einem fast sakralen Chor. Mit „Maestranza“ besitzt das Album eine muskulös trabende Rocknummer, mit „Cradling Mother…“ eine strahlende Apotheose, in der sich der ohnehin voluminöse Bandsound zu Blechbläsern weitet. Und trotz der mächtigen Sounds bleibt „Shore“ intim und empfindsam mit Widmungen an zu früh gegangene Musikerkollegen und an die Laute der Natur, die zwischen den Songs aufscheinen. Ein großer, Weite atmender pazifischer Trip, begleitet durch einen Film von Kersti Jan Werdal mit Bildern von der US-Westküste.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes: „Maestranza“
Quelle: youtube

Ein Meister aus Deutschland

Das Land, in dem ich lebe, feiert 30 Jahre deutsche Einheit. Freuen kann ich mich darüber angesichts der aktuellen politischen Lage nicht. Das Wiedererstarken des Faschismus, dem von den Regierenden zu wenig entgegengesetzt wird und der unmenschliche Umgang mit den Geflüchteten hat ein unerträgliches Ausmaß angenommen.

Unsere Militärausgaben beliefen sich im Jahr auf fast 50 Milliarden Euro, nur sechs Staaten auf der Erde übertreffen diesen Wert, in Europa nur Frankreich (Quellen: https://de.statista.com/). Wer es nicht klaglos hinnehmen möchte, dass mit seinen Steuergeldern Militärausgaben finanziert werden, dem kann ich die Unterstützung des Netzwerk Friedensteuer empfehlen.

Die Hochrüstung des eigenen Landes geht Hand in Hand mit der des Auslands: Gebetsmühlenhaft wird von „Bekämpfung der Fluchtursachen“ geredet, doch eine der wichtigsten Fluchtursachen sind Kriege, die überall auf der Welt mit Waffen aus der Produktion großer deutscher Firmen geführt werden. 2019 habe die Waffenexporte nochmals einen neuen Rekordwert erreicht: erstmals über 8 Milliarden Euro.

Zweifel müssen an unserem Rechtssystem aufkommen, wenn ein Prozess gegen den Kleinwaffenhersteller Heckler & Koch mit Freisprüchen und der Verurteilung einer Sekretärin endet. Der Friedensaktivist Jürgen Grässlin hatte Strafanzeige gegen die Firma gestellt, da sie illegal Gewehre an die mexikanische Polizei geliefert hatte, die damit auch protestierende Studenten erschoss. In Dokus und einem Spielfilm sind diese Vorgänge gut aufgearbeitet.

Der Rapper Chefket hat in seinem Stück „Made In Germany“ das Thema jetzt auch musikalisch in die Öffentlichkeit gerückt. „Ich hoffe, dass die Leute den Song verstehen, ihn teilen und darauf aufmerksam machen, dass wir als Deutsche auch verantwortlich dafür sind, wenn Menschen aus Kriegsgebieten hierher flüchten müssen“, sagt Chefket.

Chefket: „Made In Germany“
Quelle: youtube