Der Schlüssel im Schnee

Martha Wainwright
Love Will Be Reborn
(Cooking Vinyl/Sony)

Die Wainwrights und Montreal, das ist eine Geschichte mit etlichen spannenden Kapiteln. Mit dem knarzig-zynischen Sänger Loudon Wainwright fing das in den Sechzigern an. Er heiratete Kate McGarrigle, die mit ihrer Schwester Anne franko-kanadisches Songwriting nicht nur in Folkkreisen bekannt machte. Und heute ist Kate und Loudons Sohn Rufus ein internationaler Star. Viel weniger bekannt ist bei uns seine Schwester Martha, unverdient: Denn Martha hat von ihrem Vater die bitterfeine Ironie, und von der Mutter diese ganz besondere Stimmkraft geerbt, die eindrucksvoll zwischen schneidender Resolutheit und ungeschönter Larmoyanz pendelt. Auf ihrem sechsten Album entlädt sich diese Kraft in einem Reigen kathartischer Songs.

„Dieses Leben zu leben, ist wie die Arbeit in einer Mine“, singt Wainwright im Song „Being Right“, und in „Rainbow“ sehnt sie sich nach der Leichtigkeit eines Regenbogens, der für Sekunden aufschillert und dann sterben darf. Toxisches Beziehungsende, Scheidung, Verlust von Liebe, Verlust auch eines Kindes im Sorgerechtstreit, all diese Umbrüche, zumeist selbst erfahren, formen Love Will Be Reborn. Wainwright ist dafür von New York in ihre Heimatstadt Montreal zurückgekehrt. Dort heißt ihr neuer Rückzugsort Café Ursa, eine Szenekneipe, die sie im Künstlerviertel Mile End eröffnet hat, nachdem sie das ganze Gebäude Immobilienspekulanten vor der Nase weggeschnappt hat. Der Keller diente ihr und Bandmusikern aus Toronto als Studio.

Schwankte der Vorgänger Goodnight City etwas ziellos zwischen Balladen und Punk, ist das neue Opus – gerade all der Verletzungen wegen – kraftvoller, geradezu trotzig geworden. Wainwright startet mit einer von E-Gitarre getragenen Liebeserklärung an den Rock’n Roll, der „dieses fürchterliche Leben lebenswert“ mache, schreit dann geradezu in höchsten Lagen ihr Ankämpfen gegen das Älterwerden in einer Art Country-Drama heraus. Die letzten, offenbar auch gewalttätigen Tage einer Beziehung arbeitet sie in „Body And Soul“ auf, und da wandelt sie sich zu einer so gequälten Furie, dass es einem das Herz zerreißt. In zärtlicher Verzweiflung, unendlich langsam entfaltet sie die Schmerzen einer Mutter, die allein im Haus zurückbleibt. Mit beiden Söhnen spielt sie im Videoclip zum Titelsong eine Mischung aus Artus- und Siegfried-Sage samt Plastikdrachen nach. Der verlorene Schlüssel zum Liebesglück, heißt es da, liegt tief im Schnee begraben, doch das Herz wird ihn im Frühling wiederfinden. Hymnisch und positiv ist dieser Song.

Nicht unbegründet, denn in „Hole In My Heart“ wird sie tatsächlich von neuer Liebe berichten, zu einem treibenden Arrangement, das sich in atemloser Glückseligkeit nach oben schraubt. Der außergewöhnlichste Moment aber am Ende: „Malaise De Falaise“, ein sprachspielerisches Bild für Höhenangst, ist eine schlafwandelnde Popballade über Pianotriolen, getextet in der für Montreal typischen Zweisprachigkeit: Zu Stimmverfremdungen, die richtig beunruhigend klingen, singt Wainwright: „Nachts klettere ich an den Klippen des Unwohlseins hinauf, regennass, ich zünde die Kanonen, zerreiße die Ketten.“ Starke Bilder einer starken Frau, die mit diesem Werk vielleicht ein wenig aus dem Schatten von Bruderherz Rufus treten könnte.

© Stefan Franzen

Martha Wainwright: „Malaise De Falaise“
Quelle: youtube

Soulfood vom St. Lorenz-Strom

The Brooks
Any Day Now
(Underdog Records/Broken Silence)

In diesen Tagen kann man wärmendes Seelenfutter gut brauchen, und das kommt ausgerechnet aus einer etwas kühlen Region, der kanadischen Provinz Québec. Dass der Ahornstaat beim Soul und Funk oberster Güte immer wieder für Überraschungen sorgt, ist nichts Neues, doch unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre ragt die neue Scheibe der seit acht Jahren existierenden Montréaler Truppe The Brooks nochmal heraus. Warum behaupte ich das so dreist?

Hier ein paar Argumente: Any Day Now schlägt einen überwältigenden dramaturgischen Spannungsbogen, eingerahmt in ein  großorchestrales Präludium und Finale, die beide in Klangfarben zwischen flirrenden Holzbläsern, Harfen, Blechblasfanfaren und Synthesizer-Melodien nur so funkeln. Dazwischen entfaltet sich ein funky Kosmos, der so ziemlich alle Kapitel der Soul- und R&B-Historie der letzten fünfzig Jahre würdigt. In „Drinking“ und „Zender“ führen die Québecois Tugenden von George Clinton und D’Angelo zusammen, angeheizt von einer fantastischen Horn Section, die schließlich fast zur Marching Band wird. „Moonbeam“ lässt wieder das Symphonische aufleuchten, mit einem Schimmern, das an die Arrangements aus Curtis Mayfields früher Solozeit erinnert, doch die Synthese zwischen Orchester und Band wird erst in „Headband“ zur Perfektion gebracht.

„Gameplay“ schwenkt in die rockigere Seite des Funk ein, „So Turned“ On“ fügt mit sexy-sonniger Melodik tatsächlich einen Schuss guten Britpop der Achtziger ins Gebräu hinzu. Doch der Stilpalette ist noch nicht genug: „The Crown“ gipfelt in einem Afrobeat-Hexenkessel, während „Turn Up The Sound“ eine gekonnte Kreuzung aus James Brown und Sly & Robbie ist. Das sich mit all diesen verschiedenen Ingredienzien doch ein homogenes Puzzle in den Ohren des Hörers ordnet, ist das Erstaunlichste an diesem Werk. Montréal, mon amour, kann ich da nur einmal mehr sagen!

The Brooks: „Turn Up The Sound“
Quelle: youtube

 

Kanadischer Freiheitsflug

Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich aus Kanada zurückgekehrt, von einer Reise, die mich durch alle musikalischen Facetten des Ostens im Ahornstaat geführt hat. Seitdem bekomme ich immer wieder Tipps zu neuen tönenden Trends zugeschickt, insbesondere aus dem Songwriting-Bereich. Heute möchte ich euch Sébastien Lacombe vorstellen. Lacombe hat seine Homebase in Montréal und wuchs dort zweisprachig auf, zu seinen Vorbildern gehört auch ein Leonard Cohen. Die bilingualen Songwriter Montréals zählen zu den spannendesten Persönlichkeiten, die die Stadt hervorbringt. Die Vielschichtigkeit, manchmal auch Zerrissenheit ihrer Arbeit zwischen den beiden sprachlichen Welten führt zu einmaligen Text- und Klangresultaten. Sebastien Lacombe war seit 2005 auf vier Alben in französischer Zunge unterwegs. Jetzt ist er aufs Englische eingeschwenkt.

Sein neues Werk, das im Herbst erscheinen wird, nennt sich Fly, und das zentrale Thema dieses Werks ist die Freiheit, „die Freiheit, das zu sein, was wir wollen, über unsere Träume hinauszuwachsen, die Freiheit, zu lieben, trotz aller Tücken und gebrochener Herzen“, schreibt Sébastien. Die Produktion für das Label B-12 hat mein lieber Freund Erik West Millette als Coproduzent unterstützt, der Globetrotter in Sachen Eisenbahn, die Arrangements stammen ebenfalls von einem Musiker seines Umfelds, von Olaf Gundel. Die Songs auf Fly, so Sébastien weiter, sollen helfen in den Nachwehen eines schweren Sturms zur Erneuerung zu finden – nichts könnte besser in diese Wochen und Monaten passen. Ich stelle euch die Vorab-Single aus dem Album vor, „Gold In Your Soul“.

https://www.sebastienlacombefly.com/
https://www.sebastienlacombe.com/

Sébastien Lacombe: „Gold In Your Soul“
Quelle: youtube

Dünnhäutiges Tagebuch

Patrick Watson
Wave
(Domino Records/Goodtogo)

Wie ändert sich der persönliche Klang eines Musikers, wenn ihm in schneller Abfolge viele Dinge genommen werden? Wenn ihn unerwartet eine Monsterwelle überspült, der er nicht standhalten kann? Wenn ihm sein Leben plötzlich nicht mehr wie sein eigenes vorkommt? Tod der Mutter, Trennung von der Partnerin, Abschied musikalischer Weggefährten: Das passierte Patrick Watson. Weniger aus dem Schmerz heraus, eher mit ihm, schuf er ein berührendes Album mit Songs so dünnhäutig wie Pergament, so zerbrechlich wie Porzellan.

Schon immer war Watson einer der sensibelsten Musiker von Montréal. Die wohl kreativste Songwriter-Metropole Nordamerikas hat über die Jahrzehnte so große Geister wie Leonard Cohen, Lhasa de Sela oder Rufus Wainwright hervorgebracht. Am St. Lawrence-Strom herrscht ein besonderes Werkstatt-Flair, hier schichtet man mit Vorliebe Pop, Klassik, Weltmusik, Chanson und psychedelischen Rock, und auch Watson ist ein Meister dieser Sprache, die Genres sprengt. Klassisch am Piano ausgebildet und mit einem starken Hang zum Cineastischen bildete er seine Klangwelt ab der Jahrtausendwende mit einem Quartett heraus, das die unterschiedlichsten Einflüsse von Kammermusik bis Hardrock vereint. Das Magnum Opus lieferte die Band 2006 mit Close To Paradise, baute eine großartige Dramaturgie aus epischen Stücken um seine stets brüchige Falsettstimme. Es ist ein Meilenstein der kanadischen Musikgeschichte, dessen Konzeptwucht Watson danach nie mehr angestrebt hat. Sein aktuelles Werk erreicht künstlerische Höhe mit einer ganz anderen Sprache.

Schicksalsschläge als notwendiger Motor für neue Inspiration – das kann zynisch klingen. Doch auf „Wave“ trifft diese Formel ohnehin nur bedingt zu. Das Werk tönt nicht nach der von Journalisten gebetsmühlenhaft herbeizitierten Katharsis, es ist ein Leidensalbum. Man hört, dass es dem 40-Jährigen nicht gut geht. Da singt einer, der gerade erst vom Krankenlager der Seele aufgestanden ist und wieder zaghaft die ersten Schritte versucht. Gegenüber den ausgefeilten Texturen früherer Alben muten diese zehn Miniaturen simpel gestrickt an. Einfach, aber nicht banal: Denn im Schmerz wohnt immer Würde und Menschlichkeit. Oft instrumentiert Watson nur mit verhalltem Piano, mit Tönen in hoher Lage, die kurz auffunkeln, wie Lichtreflexe, die beim Durchbruch der Sonne auf der sonst düsteren Meeresoberfläche tanzen. Oder mit ein paar lapidaren Gitarrentupfern und Streicherseufzern, wie in „Dream For Dreaming“, wo er darum bittet, jemand möge ihn doch aus diesem einsamen Traum herausreißen.

Patrick Watson: „Dream For Dreaming“
Quelle: youtube

Gelegentlich schleicht sich auch Geräuschhaftes in die Songs, garstige Keyboardriffs, schreiende Stimmen, übersteuerte Synthesizereffekte. Das ist kein wohliges, selbstgefälliges Baden in Niedergeschlagenheit. Im Titelstück, das aus gleißenden Keyboards mal ausnahmsweise fast zu Rockbombast à la Sigur Rós anschwillt, spürt man die Kraft der Welle, die ihn so wegspült, dass die Textfetzen seiner Falsettstimme fast nicht mehr verständlich sind. Latino-Flair kommt bei der „Melody Noir“ ins Spiel: „Ich habe ein Loch in meinem Innern, das ist so groß wie deine Berührung, und jedes Mal, wenn ich versuche, es zu füllen, wird es größer“, singt er mit fast körperloser Diktion, und die Geliebte verflüchtigt sich dabei zum Windhauch, zur schönsten Melodie, die er je gesungen hat. In die Bruststimme zu gehen, das würde die Melancholie dieses Albums aushebeln, und als Watson es endlich einmal wagt, merkt man, welch unendliche Kraft es ihn kostet.

Die Gelassenheit des hymnischen Finalwalzers „Here Comes The River“ spendet eine kleine Dosis Trost für alle Hörer*innen, die wie Watson in der Talsohle festkleben. Wenn du den Kopf nicht über Wasser halten kannst, musst du dich der Welle beugen, der Strömung hingeben, sagt der Text. Und dann wird es vermutlich weitergehen, irgendwie.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 02.11.2019

Patrick Watson: „Here Comes The River“
Quelle: youtube

Ein Studio-Konzert, in dem Patrick Watson seine ganze Platte spielt, hat CBC hier kürzlich verfügbar gemacht.

(he)artstrings #12: Heilige Welle

alejandra-ribera-swAlejandra Ribera
„St. Augustine“ (Alejandra Ribera)
(aus: La Boca, 2014)

Als ich den Song das erste Mal hörte, dachte ich, St.Augustine wäre eine verschlüsselte Widmung an einen Platz in Montréal. Etwa so, wie auch Kate & Anna McGarrigles „Complainte pour Ste. Cathérine“ der Rue St. Cathérine gewidmet ist, in der gleichen Stadt (siehe (he)artstrings #8). Aber dann traf ich die Autorin, und die rückte das mit folgenden Worten zurecht:

„Ich las die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus, zu einer Zeit, in der ich mich sehr verloren und niedergeschlagen fühlte. Ich suchte nach einem Weg, wie ich mir selbst vergeben könnte, und was ich am allernötigsten brauchte, das war Glaube. Wenn ich schreibe: ‚Heiliger Augustinus, ich beneide dich, du hattest immer die Emerald City, nach der du streben konntest‘, dann kam das aus dem Bedürfnis heraus, in irgendeiner Hinsicht Sicherheit, Geborgenheit zu spüren, auch wenn es nur eine imaginäre Burg im Himmel sein sollte.“

„St. Augustine“ ist einer der langsamsten Songs, die ich kenne. Die Klage über die Verlorenheit  kommt wie eine Countryballade in äußerster Zeitlupe daher, als wäre nicht nur die Zielrichtung im Leben, sondern überhaupt auch die Zeit abhanden gekommen. Kanadier scheinen für das Innige und das Langsame eine Ader zu haben: Manche werden sich noch erinnern, wie die Cowboy Junkies Ende der 1980er mal als die leiseste Band der Welt gepriesen wurden. Alejandra Ribera schlägt den Rekord in diesem Song vielleicht.

Zurückgeholt wird der Hörer aus dem Nirwana durch einen fantastischen Einfall: Ein Tonartenwechsel verbindet sich mit einem dräuenden Emporschrauben einer Klangwelle aus Knackgitarre, Blechbläsern und Riberas Stimme, die beim Zurückschwappen dann wiederum in eine andere Tonart geht. Ganz so wie die verschiedenen Geräusche, die ein anrollender Brecher und die Rückströmung machen. Stellt euch mal an den Strand, und ihr habt ab sofort dabei immer die Stelle aus „St. Augustine“ im Ohr. Alejandra dazu nochmals selbst:

„Es gibt Momente, in denen du Musik, die tatsächlichen Noten und Arrangements wie eine buddhistische Weisheit einsetzen kannst. Du nimmst die Botschaft und destillierst sie, so wie sie nicht erklärt, sondern nur gefühlt werden kann. Da musst du lange drüber brüten. Für mich ist dieser Teil mit den Blechbläsern wie eine Unterströmung einer Welle, die dich von hinten erfasst, dich hochhebt und dich mitnimmt. Vielleicht gerätst du unter die Welle, vielleicht schaffst du es, oben zu bleiben. Aber die ganze Sache bleibt immer in Bewegung. Ob du also in einem Zustand von Freude oder von Traurigkeit bist, er wird nie permanent sein. Wo immer du auch bist, Schätzchen, in fünf Minuten wirst du nicht mehr da sein.“

Dass Alejandra Ribera den Heiligen Augustinus als den ersten Autor quasi autobiographischer Bekenntnisse anruft, hat gerade bei ihr als Kanadierin noch einen doppelten Boden: Ihre Landsfrau Joni Mitchell ist immer wieder als die erste „confessional songwriter“ bezeichnet worden, hat vor fast 50 Jahren diese Tradition begründet, obwohl sie das Wort „confessional“ wegen seiner Nähe zur katholischen Kirche hasste und auch die Lehren von Augustinus mit ihrer Verankerung in den Begriffen Sünde und Scham verabscheute. „Confessional wrtiting“, so Mitchell, müsse immer über das Autobiographische ins Allgemeine hinauswirken, um einen Song stark zu machen.  In diesem Sinne ist „St.Augustine“ die Reflektion eines Zustandes, den wir alle kennen. Man ist gefangen in einer absoluten Niedergeschlagenheit, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint, bis einen völlig unerwartet etwas aus der Lethargie hebt und irgendwo anders hin trägt, ohne dass man die neue Zielrichtung schon kennen würde.

Unten der Link zu einer Live-Version, ich rate darüber hinaus zum Hören der Studioeinspielung vom Album La Boca, in der die Wirkung der „Welle“ noch um einiges imposanter ist.

Alejandra Ribera: „St. Augustine“
Quelle: youtube

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