Dänisch-schwedische Folk-Noblesse

Dreamers‘ Circus
Rooftop Sessions
(Vertical/Galileo)

Die Musik des dänisch-schwedischen Trios Dreamers‘ Circus ist so zum Niederknien schön, dass man sich fast schämt, dürre Worte dafür finden zu müssen: Geiger Rune Tonsgaard Sørensen kennt man vom Danish String Quartet, hier hat er sich mit dem Zupfinstrumentalist Ale Carr und Tastenmann Nikolaj Busk zusammengeschlossen. Dieses dritte Werk hat das Zeug zum Kammer-Album des Jahres: Die drei verweben in stets ausgefeilten Arrangements ihre skandinavischen Wurzeln, mal still, mal tänzerisch, mit dem spirituellen Ton eines Arvo Pärt und leichten Americana-Verwehungen. Cittern, Violine, Harmonium, Spinnett und Synths ordnen sich zu feinsinniger, melodieseliger Folk-Noblesse.

Die Reihe „Møn Sessions“ stellt bereits im zweiten Jahrgang herausragende Folkkünstler Skandiaviens in Unplugged-Settings vor, dazu gibt es schöne Aufnahmen von der Inselwelt in der Ostsee durch die Jahreszeiten hindurch.

Dreamers‘ Circus: „City Gardens“
Quelle: youtube

Schätze von der Schwarzmeerküste

Das Schwarzmeer ist von alters her ein Schmelztiegel der Kulturen, ein faszinierendes Flechtwerk von Tönen, das bei uns unbekannt ist. Mit ihrem Quintett führt uns die junge Jazz-Sängerin Ayça Miraç in diese Welt und verbindet sie mit dem Hier und Jetzt: Auf ihrem berührenden Debüt Lazjazz (Jazzhaus Records/in-akustik) spannt sie eine einzigartige Klangbrücke zwischen den Jahrhunderten – von den Kulturen der Lasen und Megrelier hinüber zum Bosporus und weiter zu Bill Evans.

Ganz selten geschieht es, dass nach wenigen Takten schon ein so starker Bann für die Ohren entsteht: „E Asiye“ heißt das Eröffnungsstück der Debüt-CD von Ayça Miraç, das uns eine fremdartig geheimnisvolle Melodie schenkt. Sie rührt an tiefere Schichten der Musikgeschichte, wärmt die Seele wie ein vertrautes Gefühl, das uns seit langem abhandengekommen war und nun unverhofft zurückkehrt. Diese Melodie stammt aus dem Kulturschatz der Lasen. Ihn zu bewahren ist zentrales Anliegen der Sängerin.

Ayça, die in Gelsenkirchen aufgewachsen ist, schöpft aus einem reichen Fundus an kulturellen Quellen. Schon ihr Großvater begeisterte sich für klassische türkische Musik und während der regelmäßigen Aufenthalte in Istanbul hört die Enkelin diese Klänge. Hier hat sie ihren Zweitwohnsitz. Ayças Vater ist der bekannte Poet und Schriftsteller Yasar Miraç. Er übt durch seine modalen Klavier-Improvisationen über türkische Melodien schon früh Einfluss auf die musikalische Imaginationskraft der Tochter aus. Viele seiner Gedichte werden vertont, unter anderem von der immens populären Folkgruppe Yeni Türkü.

Die zweite große Klangquelle für Ayça ist das Volk der Lasen – eine Minderheit, die an der östlichen, immer grünen Schwarzmeerküste sowohl auf türkischem, wie auf georgischem Gebiet beheimatet ist. Ayças lasische Mutter ist Gründungsmitglied von Lazebura e.V., dem Verein, der sich zum Erhalt der von der UNESCO als bedroht eingestuften Sprache einsetzt. Ayça besucht lasische Feste und Konzerte, lotet die Vielfalt der Musik dieses Volkes aus. Es war als Minorität im Laufe seiner Geschichte permanenter Unterdrückung ausgesetzt. Sie bemüht sich, das klangvolle Idiom der Schwarzmeer-„Ureinwohner“ zu erlernen. Und sie genießt während ihrer Aufenthalte in der Region diese klangvolle Sprache, die sich durch ihre Lautmalerei wunderbar zur musikalischen Einbettung eignet.

Für Ayça steht nach ihrer Schulzeit fest, dass sie ihre große Gesangsleidenschaft zum Lebensinhalt machen möchte. Das Jazzstudium am holländischen ArtEZ Conservatorium steht auf einem breiten Sockel, bezieht auch Bossa Nova und klassische Lieder mit ein, etwa von Schubert oder Debussy. Hoch motiviert färbt Ayça Miraç ihr Repertoire auch zunehmend mit lasischen und türkischen Farben.

In mehreren Schritten kristallisiert sich ihre mutige Vision heraus: das Vokabular des Jazz mit dem Schatz der Schwarzmeerküste in einer modernen Klangsprache zu verknüpfen. Diese Vision benennt sie mit einem genauso griffigen wie schlüssigen Attribut: „Lazjazz“. Beistand bekommt sie von Wayne Shorter persönlich: „Erforsche die Barrieren deines Verstandes und hab‘ keine Angst vor deinem eigenen Potenzial“, gibt er ihr bei einer intensiven Begegnung mit auf den Weg.

Wesentlich für die Umsetzung ist Bassist Philipp Grußendorf, den sie bereits während ihrer holländischen Jahre kennenlernt. Zusammen tasten sich die beiden auf diesem neuen Parkett vor, entwerfen erste Arrangements. Grußendorf bringt einen Bekannten, den brasilianischen Pianisten Henrique Gomide in die entstehende Band mit, und in Markus Rieck findet Ayça Miraç einen feinfühligen Schlagzeuger, der dem Klang ihrer Stimme respektvoll entgegenkommt. Schließlich verleiht das Violinspiel von Daphne Oltheten der Textur eine obertonreiche Färbung. Neun faszinierende Songs sind das Resultat dieses gelungenen Wagnisses: Die einzigartige Tonsprache aus Nahost-Roots, US-Jazz und ein wenig Latin-Flair bündeln die fünf Musiker zu einer elektrisierenden Dramaturgie mit Ayça Miraçs klaren Stimme stets im Zentrum.

Ayça Miraç: „E Aisye“
Quelle: youtube

Gleich im Opener „E Asiye“ zeigt sich, wie die Sängerin es versteht, eine alte lasische Melodie symbiotisch in einen Jazzkontext einzufügen. Subtil fängt sie in den Quartparallelen zwischen Stimme und Geige die traditionelle Zweistimmigkeit ein – diese alte Polyphonie ist heute noch bei denjenigen Lasen lebendig, die an der georgischen Grenze wohnen. Ebenfalls in einem lasischen Dialekt steht „Avlaskani Cuneli“ aus dem Repertoire des früh verstorbenen Sängers Kazım Koyuncu. Im vorwärtstreibenden Fünfertakt mündet Folkloristisch-Tänzerisches in eine Pianoimprovisation Gomides.

Beide lasischen Lieder sind ein Schaukasten für die sanfte und doch so souveräne Empfindsamkeit der Stimme Ayças. Ein Ausflug zu den Megreliern, den nördlichen Nachbarn der Lasen beglückt in „Va Giorko Ma“: Vocals, gestrichener Bass und Geige erzeugen mit pointierten Pianotupfern eine hymnische, fast archaische Feierlichkeit. Doch die mit dem Lasischen verwandte Sprache besteht auch im modernen Kontext, wenn in „Veengara“ Parallelen an Popballaden aufblitzen.

Zweifach begibt sich Ayça Miraç in den türkischen Kulturraum: „Trabzon Sarkısı“, ihre lyrische und leichtfüßige Widmung an die sagenhafte Schwarzmeermetropole ist eine Eigenkomposition, mit der sie ein Gedicht ihres Vaters in impressionistische Stimmungen kleidet. Die Geige lehnt sich in ihren Parallelgängen hier an den Kreistanz Horon an, der traditionell in der Schwarzmeerregion durch die Kemençe begleitet wird. Mit der urbanen Ballade „Üsküdar’a Giderken“ hätte sich so manche Sängerin aufs Glatteis begeben können: Die getragene Liebeserklärung an den Istanbuler Stadtteil existiert im ganzen Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches in unzähligen Varianten. Mit seiner Version umschifft das Quintett die Klippen der Klischees, indem es den Evergreen clever mit Fragmenten eines sephardischen Liedes kontrastiert und ein quirligeres Tempo wählt. Das zweite Stück aus Ayça Miraç’ Feder ist „Dream Of Ilham“, eine träumerische, sanftmütige Hommage an ihren Kater Ilham. Sein arabischer Name („Inspiration“) scheint hier alles andere als Zufall.

Schließlich geht die Reise hinüber nach Amerika: Mit „Turn Out The Stars“ greift Ayça ein intensives Stück ihres Lieblingspianisten Bill Evans auf, verlangsamt zu einer intensiven Ballade, die sie auch als stilsichere und gefühlvolle Standard-Interpretin zeigt. Die CD endet auf brasilianischem Boden: Das bewegende „Menina Da Lua“ von Renato Motha, ist ein Trost spendendes Lied. Philipp Grußendorf brachte den sanften Closing Track von seinen brasilianischen Erkundungen in Südamerika mit. Der Titel vom Mondmädchen verweist zudem auf Ayça selbst. Auch ihr Name bedeutet „leuchtend wie der Mond“.

Ayça Miraçs Lazjazz fügt den kreativen Dialogen zwischen europäischem Jazz und dem Schatz traditioneller Klänge des Ostens ein spannendes Kapitel hinzu. Und ihre Stimme strahlt als helles Gestirn, das am Vokalhimmel gerade erst aufgeht.

© Stefan Franzen

live: 26.9. Köln, Urania Theater / 2.10. Gelsenkirchen, Die Flora

Ayça Miraç: „Avlaskani Cuneli“
Quelle: youtube

 

Schatzkiste #35: Tanzboden für Spike Lee

Cornelius Brothers and Sister Rose
Cornelius Brothers and Sister Rose
(United Artists Records, 1972)

Von Zeit zu Zeit passiert es, dass ich Soulperlen durch Filme kennenlerne. In den letzten Wochen war das zwei Mal der Fall – deshalb gibt es nach langer Zeit mal wieder Einträge in der Schatzkisten-Sparte. Spike Lee hat für „Blackkklansman“, ganz nebenbei der wohl wichtigste Film des Jahres, nicht nur Terence Blanchard als Soundtrack-Komponisten verpflichtet, er hat auch tief in der Soulhistorie gekramt. Zutage gefördert hat er den Gospelsong „Mary, Don’t You Weep“ von niemand Geringerem als Prince, die den Abspann begleitet (und die morgen auf dem posthumen Piano & A Microphone 1983-Album enthalten ist. Und während einer Tanz-Szene, voll mit der typischen „Soul Train“-Choreographie der frühen Siebziger, hört man „Too Late To Turn Back Now“, das Titelstück von Eddie Corneliusens Formation.

Die Brüder und ihre rosige Schwester sind nicht verwandt mit dem unvergleichlichen „Soul Train“-Moderator Don Cornelius, sondern stammen aus dem sonnigen Florida ,von wo sie aus 1972 mit dieser einen Platte loszogen, um nicht nur die R&B-Charts, sondern die Popwelt zu erobern. Nummer 2 in den Billboard-Notierungen der Staaten, Nummer 1 gar in Kanada. Und ich muss zugeben: Die Maj7-schwangeren Harmonien, gepaart mit glückseligen Streicheraufschwüngen und tighten Vokalschichtungen kriegt man einfach nicht mehr aus dem Kopf – umso mehr, da sich dieses Schema auf dem ganzen Longplayer doch ein paar Mal wiederholt.

Cornelius Brothers and Sister Rose: „Too Late To Turn Back Now“
Quelle: youtube

Holler love across the nation III – Today I Sing The Blues

Vielleicht kennt ihr das Gefühl: Ihr wacht morgens auf und merkt sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Die Sonne fällt schon durch die Ritzen Jalousien, die Vögel singen, fröhliche Stimmen dringen von draußen ins Zimmer. Es könnte so ein perfekter Sonntagmorgen sein, wie sie einem nur einmal im Jahr oder noch seltener geschenkt werden. Aber nein, da liegt ein Spuk über dem noch abgedunkelten Zimmer, bleischwer sind die Glieder, als würde einen ein Gewicht tonnenschwer aufs Bett pressen, und im Bauch liegt ein ganzer Schiffsfriedhof mit rostigen Wracks. „Without a word of warning”, ganz ohne Vorwarnung ist da eine unheimliche Präsenz zu spüren, ein Spuk, und plötzlich wird dieser Spuk auch greifbar. Es ist der Blues.

Der Blues lungert wie ein trauriges Gespenst herum, saft- und kraftlos kreiselt er von einer Ecke zur anderen, versperrt dir den Ausgang, nimmt dir die Kraft, die Decke zurückzuschlagen. Und das Gemeine ist: Du weißt nicht mal, warum er da ist, du weißt nicht, warum du dich traurig und einsam fühlst. Unerklärlich, ungreifbar, ohne Namen – so ist am Anfang dieser Blues, den Aretha schon 1960, 18 Jahren besungen hat, in einem Song des Chicagoers Curtis Reginald Lewis. Vor Aretha haben wenige diesen Song aufgegriffen, die Sängerin Helen Humes hat ihn 1948 etwas hilflos, wie ein bekümmertes Mädchen versucht, und sie springt auch ziemlich staksig zwischen Dur und Moll herum, fast ohne die schönen Blue Notes, diese Trübungen, die es ja gerade im Blues braucht.

Wenn Aretha das Wort “Blues” singt, dann zieht sie das “U” ins Unerträgliche, und dieses “U”, es fährt in die Eingeweide, mitten in den Schiffsfriedhof im Bauch, weil es eben ein Viertelton neben dem Ton liegt, der da eigentlich hingehört. Und sie beschreibt, mit einer Kette von gepeinigten blauen Noten, wie er sich da breit macht im Raum, der ganze “roooooom” wird zum “bluuuuuues”. Sie rätselt über ihre Traurigkeit, und wenn sie „sad“ singt, in fragender Zurückhaltung, dann ist es, als ob sie dieses „sad feeling“ untersuchen würde, von dem sie noch gar nicht weiß, woher es kommt. Denn das Gespenst, vielleicht steckt es in dieser ewig nörgelnden E-Gitarre, die keine Ruhe geben will, es ist nur ein Vorbote.

Da klingelt das Telefon, und ihr Baby ruft an: „Es ist aus mit uns!“ Und plötzlich wechselt die Musik in einen Durakkord, ausgerechnet jetzt. Das kann nur bittere Ironie sein, schockartige, aber auch süße Resignation nach dem Motto: Ach ja, mal wieder ein Typ, der sich vom Acker macht. Gestern noch ein Liebeslied auf den Lippen, heute: der Blues. Dich hab‘ ich nicht eingeladen, aber die geschlossene Tür kümmert dich ja eh nicht. Anders als Helen Humes nimmt Aretha jetzt, wo sie weiß, mit wem sie’s zu tun hat, es mit dem Blues auf, sagt ihm auf den Kopf zu: Dich kenne ich schon. Ja, sie heißt den Blues auf diesem grandios in die Länge gezogenen „today“ willkommen, wird eins mit ihm, absorbiert ihn mit all der gebotenen Melancholie, denn sie weiß, nur so wird sie mit ihm fertig. Und sie tut das mit all der Kunstfertigkeit der Phrasierungen, mit all der fast zynischen Verzweiflung.

„Funny”, fast lustig findet sie es, wie die Liebe sie wieder ausgebootet hat, von einem Tag auf den anderen, „lovers“ ist das erste Wort, das sie nicht etwa zärtlich unter die Lupe nimmt, sondern es regelrecht trotzig herausbellt in der Erinnerung an gestern. Und sie schwankt zwischen Zynismus und Wut, entscheidet sich schließlich für die letztere, und gerät ganz außer sich, ist gar nicht mehr niedergeschmettert, klettert rauf zu zwei markerschütternden Schreien. „Warum bin immer ich die Verliererin in JEDEM, in JEDEM Liebesspiel?” Und am Ende, irgendwo zwischen diesen beiden mächtigen “Oh’s” einer verletzten Löwin ist sie eins mit ihrem Schmerz, hat ihn gebändigt, verschlungen – und kein Zweifel: Sie wird ihn besiegen.

Neun Jahre später, auf der LP Soul 69 ist Aretha noch souveräner im Umgang mit dem Gespenst geworden, geht den Blues noch kühner an. Zieht das „Why“ ins Unermessliche, kniet sich in den tiefsten Lagen in das böse Wort „through“, mit dem ihr Lover das Ende besiegelt, fährt Karussell mit den „Everys“, schmachtet nochmal mit hörbarem Stöhnen nach dem „honey“. Erdreistet sich, die Liebe selbst geradezu furchteinflößend anzufauchen: Was soll das? Du kannst noch so viel geben, du wirst immer verlieren. Ja, sie zelebriert den Blues und bezwingt ihn dadurch noch eindrucksvoller. Aber es ist schon fast kein Ringen mehr, sie hat ihn von Anfang an in der Hand. Und dann das ganze Orchester hinter ihr: Ich weiß nicht. Die swingenden Saxophone, die den Ernst der Angelegenheit nicht so richtig erkennen wollen, die Trompeten, die in diesem Duell nur Störfeuer abgeben.

Diese Sache zwischen dem Blues und dir, das ist etwas, das sollte in der Kammer ausgetragen werden. Schrei ihn raus, bemächtige dich dieser Trauer, aber tu es in deinen eigenen vier Wänden. „Royalty does not weep in the street, hat die Radiomoderatorin Mildred Gaddis bei Arethas Trauerfeier gesagt. Und bei diesem Song passt das besonders: Wo die Königin ihren Schmerz nicht offen zur Schau stellt, mit einer Bigband im Rücken, sondern mit der Ray Bryant Combo im stillen Kämmerlein bleibt, da wirkt dieses Ziehen und Zerren noch viel ehrlicher, viel intensiver. Mit diesem Überfall endet Arethas erste Platte, und man ist fast versucht zu sagen: Was kann jetzt noch kommen?

© Stefan Franzen

Aretha Franklin: „Today I Sing The Blues“ (1960)
Quelle: youtube

Der wahre Kasbah-Rocker

Wieder muss der viel zu frühe Tod eines Großen vermeldet werden: Im Alter von 59 Jahren ist am Mittwoch der franko-algerische Sänger und Songwriter Rachid Taha an einem Herzanfall gestorben. Als die Weltmusik noch nicht mal am Horizont erschien, paarte er bereits algerisches Erbe mit Rock’n‘Roll. Rachid Taha, in der Nähe des algerischen Oran 1958 geboren, kommt als Kind bereits mit der Familie nach Frankreich und entwickelt sich als junger Mann zum Querkopf, der gegen die Ressentiments gegenüber den „Beurs“, den maghrebinischen Einwanderern, aufbegehrt. In Lyon arbeitet er in einer Fabrik und koppelt abends als DJ im eigenen Club die Lieder der ägyptischen Diva Oum Kalthoum mit Kraftwerk und Led Zeppelin. „Carte De Séjour“, Aufenthaltserlaubnis, heißt ironischerweise seine erste Band, die 1986 einen Hit mit „Douce France“ haben. Da ist schon der Produzent Steve Hillage auf den jungen Wilden Rachid Taha aufmerksam geworden, er wird über zwanzig Jahre mit ihm arbeiten.

Taha führt einen neuen Sound in die arabische Musik ein: Keine Herzschmerz-Klischees mehr, auch keine Farben des Rai, wie die beliebteste Popmusik in Algerien heißt – seine Kompassnadel ist auf englischen Rock und Punk ausgerichtet. Sein Solo-Durchbruch erfolgt mit dem sehr elektronischen, von House und Techno-Ästhetik geprägten Album „Olé Olé“ 1995. Schon das Titelbild ist eine Provokation: Taha lässt sich als blonder und blauäugiger Popper porträtieren. Doch freilich vergisst der Algerier nie seine Herkunft: Auf seinen beiden „Diwân“-Alben breitet er, mit viel traditionellem Instrumentarium, seine Liebe zu arabischen Schlagersängern vergangener Jahrzehnte aus, covert den Mega-Hit „Ya Rayah“ mit seiner ihm eigenen Schnoddrigkeit und viel Reibeisen in der Stimme. Parallel dazu geht er eine Kollaboration mit den beiden Rai-Granden Khaled und Faudel ein, was auf der Platte und im Film „1, 2, 3 Soleil“ dokumentiert ist.

Wie gesellschaftskritisch er während seiner gesamten Karriere geblieben ist, lässt sich beispielsweise auf dem Meisterwerk “Tékitoi“ ablauschen, auf dem er eine apokalyptische Vision einer Gesellschaft am selbstverschuldeten Abgrund entwirft. „Ich träumte davon, von meinen Albträumen zu singen“, lautet sein lakonischer Kommentar zu diesem Werk. Und inmitten der Songs siedelt seine Version von „Rock The Kasbah“, die, zumindest Taha zufolge ohnehin nicht von The Clash, sondern aus seiner eigenen Feder stammt – er habe Joe Strummer, dem Leader der Punkband, schon in frühen Jahren ein Demo des Songs zugesteckt. Der Maghreb und Frankreich haben einen ihrer scharfzüngigsten Songwriter verloren.

© Stefan Franzen

Rachid Taha: „Ya Rayah“
Quelle: youtube

Holler love across the nation II – Won’t Be Long

aretha franklin - won't be longIn der zweiten Folge meiner Aretha-Hommage gehe ich ganz zurück zum Anfang ihrer Karriere bei Columbia: Vieles hat für die Queen of Soul mit diesem Song angefangen: Er befindet sich als Opener auf ihrem ersten Studioalbum, das sie 1960 mit der Combo des Jazzpianisten Ray Bryant einspielte. Dank intensiver Gospel-Schulung war ihre Stimme mit 18 schon unfassbar weit entwickelt, was Phrasierung und Ausdruck angeht. Alle späteren Columbia-Aufnahmen bis zu ihrem Wechsel zu Atlantic Records Ende 1966 und dem Beginn ihrer Soulkarriere können nur schwerlich mithalten mit diesen frühen Aufnahmen. Bryants Rhythm Section und die Bläser imitieren grandios einen fahrenden Zug, während Aretha selbst am gospelgeladenen Klavier sitzt und von der Ungeduld singt, mit zitternden Knien am Bahnsteig auf ihren Liebling zu warten, der mit der 503 kommen wird.

Ob die Songschreiber J. Leslie McFarland und Aaron Schroeder (die kurz zuvor „Stuck On You“ für Elvis geschrieben hatten) bei der „503“ an einen bestimmten Zug dachten oder die Nummer nur wegen des Reims verwendeten? Hier ist jedenfalls die schönste 503, die ich gefunden habe, eine Lok der Great Northern Railway Company, die in den 1960ern westlich von Chicago verkehrte.

great northern 503

Aretha Franklin: „Won’t be Long“ (1961)
Quelle: youtube

Und es gibt zwei sehr unterschiedliche Live-Aufnahmen von diesem frühen Meisterstück des Eisenbahn-Souls:

Aretha Franklin at Shindig: „Won’t Be Long“
Quelle: youtube
Aretha Franklin live at the Steve Allen Show (1964): „Won’t Be Long“
Quelle: youtube

© Stefan Franzen
der Beitrag erschien auf diesem Blog auch unter Side tracks #10

Side tracks #24: Armer Bähnler, reicher Ballonfahrer


Diamond Platnumz
„I Miss You“
(WCB Records, 2017)

In der Autotune-schwangeren afrikanischen Popmusik unserer Tage lauern immer wieder ein paar schöne Überraschungen. So etwa dieses Kleinod des tansanischen Stars Diamond Platnumz. In einen smoothen Ohrwurm bettet der Hiphop-Musiker, der sich hier eher als Herzschmerz-Barde gibt, seine Geschichte vom armen Bahnarbeiter, der die Angebetete an einen geschniegelten Neureichen verliert, der auch mit einer exklusiven Ballonfahrt protzen kann. Ob es doch noch ein Happy End gibt?

Die Vorstellung gefiel mir, dass der Clip an der Strecke der bereits 1913 vom deutschen Kaiserreich eingeweihten Tanganjika-Bahn gedreht worden ist. Über die 1250 Kilometer zwischen Daressalam und Kigoma rumpeln immer noch Züge. Doch das Video entstand in der Nähe des südafrikanischen Johannesburg – und in jener Region hat die Dampfbahn auch eine prominente Geschichte, wie mal in einer weiteren Folge von Side tracks zu hören sein wird.

Diamond Platnumz: “ I Miss You“
Quelle: youtube

1968 – Ein guter Jahrgang III

Feine Dinge, die dieser Tage 50 werden!

Joyce: Não Muda, Não“ (aus Joyce, 06/1968)
Quelle: youtube
Smokey Robinson & The Miracles: „Special Occasion“ (aus Special Occasion, 26.8.1968)
Quelle: youtube

Fairport Convention: „I Don’t Know Where I Stand“ (aus: Fairport Convention, 06/1968)
Quelle: youtube