Reset-Knopf für die Achtziger

Heute vor 40 Jahren erschien Peter Gabriels bahnbrechendes drittes Soloalbum, für mich ein prägendes Werk meiner Jugend. Nach seinem zweiten Album, das von vielen Kritikern als Auslotung des klanglichen Suizids beschrieben wurde, bricht Gabriel, an der westlichen Zivilisation krankend, zu neuen musikalischen Ufern auf. Er beginnt, inspiriert durch afrikanische Rhythmen, seine Musik auf die Basis von schweren, dunklen Patterns zu stellen. Drum-Maschinen und Soundcomputer werden in seiner Arbeit, die immer mehr ethnische Aspekte miteinbezieht, von nun an ein Markenzeichen. Prominenz wie Robert Fripp, Phil Collins, Tony Levin, Kate Bush und David Rhodes unterstützten Gabriel bei den Aufnahmen, produziert hat Steve Lillywhite.

Ich möchte Gabriel selbst mit seinen damaligen Worten sprechen lassen: „Bei meinem dritten Album entschied ich mich, den gesamten Prozess des Songschreibens neu zu überdenken. Bisher näherte ich mich der Musik auf dem Wege der Melodien und Harmonien und füllte den Rest dann später aus. Doch mein Freund Larry Fast (Anmerkung: Gabriels Synth-Bassist) schlug mir vor, mit einem bestimmten Rhythmus anzufangen, so dass das eigentliche Rückgrat der Musik erst später Gestalt annahm.“

Das aufregendste Beispiel dafür ist die Single-Auskopplung „No Self Control“, die er am 15. Mai 1980 in Top of The Pops mit folgendem Auftritt vorstellte:

Peter Gabriel: „No Self Control“ (Top Of The Pops)
Quelle: youtube

Liannes klassischer Vorbote

Die großartige Lianne La Havas wird im Juli nach fünfjähriger Pause ihr drittes Album veröffentlichen. Gerade durfte ich mit ihr über Telefon in London sprechen. Bevor hier Ausführlicheres zum neuen Werk kommt, ein kleiner Vorgeschmack mit großem Besteck: Im Februar spielte sie einige ihrer neuen Songs schon mit dem BBC Symphony Orchestra unter Jules Buckley, „Bittersweet“ gehört zu ihnen. Atemberaubend.

Lianne La Havas with Jules Buckley & The BBC Symphony Orchestra: „Bittersweet“
Quelle: youtube

SWR 2 Musikstunde: Der Atem des Himmels

Foto: Stefan Franzen

Liebe Freund*innen,

Mundschutz und Mindestabstand bestimmen seit März unseren Alltag. Die Sehnsucht nach freiem Durchschnaufen, nach sinnlicher Erkundung der Umwelt steigt. Auch deshalb darf ich euch zu dieser ganz besonderen Musikwoche im Südwestrundfunk einladen.

„Der Atem des Himmels – eine musikalische Geschichte der Düfte“
SWR 2 Kultur, 25. – 29.05.2020, jeweils 09h05 – 10h

„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten. In der Kunst ist die Parfümerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik“, bemerkte einst Jean Cocteau. Zu welchen Liedern, Chansons, Songs, Symphonien oder Opernarien regten die Harze und Kräuter der Antike, die Blüten und Früchte des Mittelmeers, die Hölzer und Gewürze des Orients die musikalische Fantasie an? Welche Werke entstanden als Widmung an duftende Persönlichkeiten wie die Königin von Saba, Kleopatra, Louis XIV oder Coco Chanel? Und umgekehrt gefragt: Wie duften Puccinis Cio Cio San oder Tschaikowskys „Pique Dame“, welche Aromen verströmt ein Flamenco oder ein Tango in der Vorstellung der Parfumeure? Um all diese nie ganz greifbaren, doch gerade deshalb immer schillernden, synästhetischen Abenteuer zwischen Nase und Ohren geht es in dieser Musikwoche, über 5000 Jahre hinweg, über fast alle Erdteile, von Babylon bis nach Buenos Aires, von den Pharaonen bis zu Kate Bush.

1. Von Myrrhe, Weihrauch und Balsam – die Wohlgerüche des Altertums (25.05.)

2. Tausendundein Aroma – die Düfte des Orients und Asiens (26.05.)
3. Vanille, Zimt, Orange und Jasmin – von den Tropen ins Mittelmeer (27.05.)
4. Könige, Romantiker und Synästheten – Streifzüge durch Europas Dufthistorie (28.05.)
5. Von Coco Chanel bis Kate Bush – Parfums der Neuzeit (29.05.)

Danke: der Osmothèque in Versailles für das Duftseminar, meiner Mutter Marlies Franzen für ihre biblischen Recherchen und meinem Vater Herbert Franzen für seine Gedichtübertragungen von Charles Baudelaire.

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/der-atem-des-himmels-eine-musikalische-geschichte-der-duefte-1-swr2-musikstunde-2020-05-25-100.html

Die Sendungen sind nach der Ausstrahlung eine Woche lang in der SWR-Mediathek abrufbar.

Yma Sumac: „La Flor De Canela“
Quelle: youtube

Der Electro-Griot ist gegangen


Im Zusammenhang mit seinem Namen fiel oft die Bezeichnung Electro-Griot: Der Guineer Mory Kanté war nicht nur einer der ersten, die afrikanische Musik elektrifizierten, er war überhaupt einer der ersten Stars des Ethno-Pop, der in den späten 1980ern dazu beitrug, dass die Musikindustrie das Prädikat „Worldmusic“ erfand. Am 22.5. ist der Pionier mit 70 Jahren in Conakry gestorben.

1950 wird Kanté in eine Griotfamilie hineingeboren. Vom Großvater wird er im Spiel auf dem Balafon und im Gesang unterwiesen, doch er will mehr, als die uralte Linie seiner Vorfahren weiterführen. In Malis Hauptstadt Bamako besucht er die Kunstschule und trifft auf die legendenumwitterte Super Rail Band, die im Bahnhofsbuffet von Bamako Anfang der 1970er für ermattete Reisende aufspielt und sich zu einer der großen Supergroups des frühen Afropops entwickelt. Zweiter Frontsänger der Rail Band ist der junge Salif Keita, dem Mory Kanté schließlich den Job wegschnappt. Bis Ende der Siebziger prägt er den Vokalsound der Eisenbahn-Truppe. Dann zieht es ihn nach Abidjan an die Elfenbeinküste, damals das Zentrum der Musikproduktion auf dem schwarzen Kontinent. Dort erweitert er sein Spektrum sowohl ins traditionelle als auch ins moderne Fach: Er lernt, auf der 21-saitigen Stegharfe Kora zu spielen und lässt in die alten Lieder Funk, Pop und Rock einfließen. Dieser neue Sound auf seinen ersten Platten macht ihn in Afrika zum Star.

1984 wagt er den Sprung nach Frankreich. In Paris entstehen seine Meilenstein-Alben, À Paris und 10 Cola Nuts, schließlich Akwaba Beach mit dem Hit „Yéké Yéké“, dem man weltweit im Sommer 1988 nicht entgehen kann. An diesen Riesenhit kann Kanté nie mehr anknüpfen. Zunächst versucht er es weiter mit knalligem Afropop, 2004 rückt er dann vom Mainstream deutlich ab, lässt die alten Instrumente naturbelassener zur Geltung kommen. Traditionelle Klänge mit tanzbarem Popsound zusammenzuführen, das ist die Synthese seiner späten Jahre, etwa auf dem Album La Guinéene. Mory Kanté war seit vielen Jahren krank und wurde immer wieder in Frankreich behandelt. Auch er ist indirekt ein Corona-Opfer: Für die notwendigen ärztlichen Maßnahmen durfte er aus Afrika nicht mehr ausreisen.

Mory Kanté: „On Diarama Foulbe“
Quelle: youtube

Forest Music

Foto: Stefan Franzen

Wie das Mitglied der kanadischen Band Arcarde Fire bin ich derzeit täglich im Wald unterwegs.  Der Song stammt von seinem kürzlich erschienenen Werk Quiet River of Dust Vol.2: That Side of The River (ANTI-/Indigo): ein schöner Soundtrack zum Genießen des Maigrüns.
Wenn ihr auch im Wald unterwegs seid: Bitte bleibt auf den augeschilderten Wegen, übernachtet nicht im Naturschutzgebiet und – falls ihr Biker seid – bitte fahrt nicht auf Wegen, die keine durchgängige Breite von mindestens 2 Metern haben.

Richard Reed Parry: „In A Moment“
Quelle: youtube

Versuch über Mahlers Metaphysik I


Foto: Stefan Franzen

Es gibt Menschen, die mit Vorliebe ihre Reisen rund um Besuche von Gräbern berühmter Persönlichkeiten organisieren. Zwar habe ich 2019 Jahr bereits ausgiebig den Père Lachaise in Paris besucht, dabei ging es mir aber um die winterlich-melancholische Atmosphäre im Ganzen, weniger darum, zu Jim Morrison oder Oscar Wilde zu pilgern. Über letzteren, bzw. seine letzte Ruhestätte stolperte ich eher zufällig, das Grab des Doors-Chef habe ich gar nicht gefunden, weil ich es auch nicht gesucht habe. Viel lieber sind mir Begegnungen mit lebenden Künstlern – doch der, der mir in der klassischen Musik am meisten bedeutet, weilt nun mal heute seit 109 Jahren nicht mehr unter uns. Und so fand ich mich drei Monate nach dem Gang über den Père Lachaise, in ganz anderer Begleitwitterung auf dem Friedhof des Grinzinger Friedhofs bei Wien, um Gustav Mahler zumindest an seiner Gedenkstätte meine Aufwartung zu machen.

Die Laute, die ich an Mahlers Grab hörte: ein Buchfink, eine Goldammer (ein Goldhähnchen?) und ein Kuckuck. Jener Vogel, der schon im Erwachen der Natur zu Beginn von Mahlers symphonischem Schaffen erklingt. Und leider auch: ein Laubbläser, eine der größten akustischen Seuchen unserer Zeit. Was hätte Mahler zu diesem Ungetüm gesagt?

Schon wenige Wochen, bevor ich an Mahlers Grab stand, wurde mir, vor meinem 51. Geburtstag bewusst, dass ich jetzt älter bin, als Mahler es je war. Für mich war das eine fast erschreckende Erkenntnis. Denn Mahler starb mit den letzten Dingen auf den Lippen, mit seinen Spätwerken machte er einen Spaltbreit die Tür ins Jenseits auf. Musikalisch „sah“ er Dinge, die nie zuvor jemand gesehen hatte. Hätte er weitergelebt, hätte sich die Tür für ihn vielleicht so weit geöffnet, dass er  – und wir – es nicht ertragen hätten. 51 ist heute kein Alter, in dem man sich schon mit den letzten Dingen beschäftigt? Oder doch?

Man könnte das in einer Art Paradoxie formulieren: Mahler liebte das Leben so sehr, dass er immer über den Tod schrieb, ja, schreiben musste. Dieses Schreiben über den Tod, der stetig präsente metaphysische Ton, äußerte sich in seinem früheren Schaffen, vor allem in der 2. Symphonie noch völlig anders als in der Triade seiner letzten Werke.

Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ (1892-97) ist mit festem Glauben auf das Jenseits gerichtet. Man kann dieses Wort „Ausrichtung“ ganz konkret verstehen: Tod und Auferstehung hat Mahler programmatisch, chronologisch, ja, sogar räumlich auskomponiert, die Metaphysik wird hier fast haptisch erfahrbar. Der junge Komponist, er war während des Schaffens 28-34 Jahre alt, vertonte die christliche Vorstellung von Grablegung, dem Öffnen der Gräber, dem Gang durch einen Tunnel bis ins himmlische Reich – die christliche Mystik übte Faszination auf ihn aus, doch das Jüngste Gericht löste er auf in eine Chor-Apotheose von umfassender Liebe. Warum er konvertierte, darüber streiten sich heute noch die Biographen. Möglicherweise aus praktischen Gründen, da er als Jude nicht Direktor der Wiener Hofoper werden konnte. Doch gleichzeitig fühlte er sich zu jener frühen Lebensphase vielleicht dem christlichen Glauben durchaus verbunden, auch wenn ihm die Idee von der Unsterblichkeit künstlerischen Schaffens, die das Individuum erst zu einem solchen macht (hier war er geprägt durch Gustav Theodor Fechner und Hermann Lotze), immer über allen konfessionellen Glaubenssätzen stand.

Schon in der 3. Symphonie wandte er sich im Finale ab vom christlichen Gott hin zur allumfassenden Liebe, die sowohl himmlische wie auch irdische Züge trägt, ein alles durchwirkendes Prinzip, das – entgegen der Deutung etlicher Mahlerforscher – für mich allerdings nicht nur gütig und verzeihend wirkt, sondern auch von den Schmerzen berichtet, die einem eben diese Liebe zufügen kann. Wie ein Rätsel steht dann die Apotheose der Vierten vor den Hörern: Nach der gewaltigen, 90minütigen Geschichte des Universums von der Entstehung der Natur bis zum Feinstofflichen, die die Dritte war, erhebt hier ein Sopran nach einer fast klassizistischen Symphonie seine Stimme, um vom himmlischen Leben zu erzählen. Das Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ malt mit bukolischen, ausgelassenen Bildern, wie die Heiligen in süßem Saus und Braus leben und für ihr Bankett nicht zögern, Tiere zu schlachten. Wie auf Erden, so im Himmel, könnte man sagen, ein naives Sittengemälde aus der Sicht eines Kindes. Es scheint, als ob Mahler, ohne seinen abgründigen und grotesken Humor abzulegen, Urlaub genommen hat von den Fragen nach den letzten Dingen. Als ob er diese kindliche Antwort zwischenschaltet, weil er selbst noch keine „erwachsene“ gefunden hat.

In den drei Spätwerken, die zwischen 1907 und 1910 entstanden, ist von diesem festen Glauben nichts mehr übrig. Man kann das biographisch festmachen, Mahler hatte in der Zwischenzeit viele Schicksalsschläge erlebt. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, dem in dieser stetigen Beklemmung die Tochter wegstirbt, der vielleicht schon ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, und der unter permanenter Arbeitsüberlastung an der Hofoper leidet, die nur durch kurze Sommerpausen unterbrochen wird. In diesen Pausen bringt er sein Innerstes zu Papier, lässt er in der Abgeschiedenheit eines Komponierhäuserls seinen Seelenregungen freien Lauf. Doch ich meine, dass allein durch das musikalische Material – und im „Lied von der Erde“ helfen einem ja auch die Texte – seine veränderte Metaphysik offenbar wird.

Nein, Mahler macht es einem nicht einfach, das Hören seiner Spätwerke ist harte Arbeit fürs Gemüt. Denn er bietet keine einfachen Lösungen mehr an. Das „Urlicht“ der 2. Symphonie, es scheint im „Lied“, in der Neunten und der Zehnten unruhig zu flackern, das Urvertrauen ist dahin. Er schüttet sein fragendes Herz aus, und das ist voller metaphysischer Konflikte. Wir reisen mit ihm einmal mehr durch abgrundtiefe Verzweiflung, durch Ekel vor der Dummheit, durch Erschauern vor dem Tod und schließlich nicht hinein in eine Lösung, sondern in einen Abschied, der einer ins Ungewisse ist. Die Reise von Bowman in den Monolithen von Stanley Kubricks „2001“, sie fand Jahrzehnte früher schon in Mahlers späten Symphonien statt, doch – und das ist ein weiteres Mahlersches Dilemma – er konnte sie für sich nur innerhalb der tonalen Sprache ausdrücken. Selbst diese – musikimmanente – Verzweiflung – hört man den Werken an. Anhand dieser drei Werke bewahrheitet sich, was Bruno Walter über den Unterschied zwischen Bruckner und Mahler gesagt hat, am direktesten: Bruckner widmete sein ganzes Leben Gott, Mahler der Suche nach ihm.

© Stefan Franzen

Fortsetzung folgt.

Katalanisches in Fernost

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida
MA. – Live In Tokyo
(Universal Music Spain)

Ihr neues Band-Album Farsa hat die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz wegen der Pandemie in den Herbst verschoben. Stattdessen veröffentlich sie digital nun eine Duo-Arbeit mit dem Landsmann Marco Mezquida am Piano. Vor zwei Jahren hatte ich das Glück, die beiden in Paris zu erleben, deshalb freue ich mich auf dieses Klangsouvenir an den Abend im Café de la Danse, auch wenn dieses hier 20 Monate später im Tokioter Blue Note eingefangen wurde, mit einem allerdings sehr ähnlichen Programm. Nur mit Stimme, Piano und ganz vereinzelt Gitarre ein Repertoire von Música Latina über Jazz und Pop bis zur sakralen Klassik zu bündeln, das kann leicht zum Sammelsurium werden. Nicht bei diesen beiden, die ein homogenes Universum daraus formen.

„MA“ geht auf das japanische Konzept des Raumes und der Stille zwischen zwei Dingen zurück – hier also des Atems zwischen zwei Noten, der Stille zwischen dem Verklingen und der ersten Reaktion der Lauschenden. Davon gibt es in diesem Konzert jede Menge. Wenn es auch noch recht „unauffällig“ mit Liedern aus der Feder von argentinischen und brasilianischen Cantautores eröffnet, geht es recht bald auf ungewöhnliche Pfade: Eine reizende Toy Piano-Miniatur von Radioheads „No Surprises“ und eine fast bluesige, in unterschiedliche Sektionen aufgefächerte Adaption des portugiesischen Volkslieds „Barco Negro“ schaltet das Duo nacheinander, die abgründige mexikanische Melancholiehymne „La Llorona“ wird mit perkussivem Piano vorgetragen. Wie Pérez Cruz‘ Stimme einen Folkklassiker improvisatorisch komplett umkrempeln kann, macht sie mit „The Sound of Silence“ vor, „Siga El Baile“ bringt dann überschäumende Tanzstimmung unters sehr zurückhaltende japanische Publikum. Am verblüffendsten dann das Medley aus Bruckners „Christus Factus Est“, „Lonely Woman“ und My Funny Valentine“: acht Minuten, die religiöse Erhöhung, eruptives Tastengewitter und verletzliche Jazz-Intimität in sich fassen. Das geht schlüssig nur bei solchen zwei Ausnahmetalenten.

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida: „Barco Negro“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #15: Gustav Mahler-Dokumentationen


Für diese Tage war im Amsterdamer Concertgebouw das Gustav Mahler-Festival geplant, bei dem zum 160. Geburtsjahr des Komponisten eine Komplettaufführung seiner symphonischen Werke zu erleben gewesen wäre. Die Mahler Foundation hat hierfür 10 neue Dokumentationen in Auftrag gegeben, die nun online zu sehen sind. Über ausgewählte Symphonieaufführungen aus vergangenen Jahren gibt es daneben auch Beiträge, die sehr kreativ mit der aktuellen Lockdown- und Reisesperre-Situation umgehen. So hat zum Beispiel das junge britische Orchestra For The Earth (OFE) eine virtuelle Aufführung des Rückert-Liedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ eingespielt, die heute Abend zu sehen ist. Das OFE – hier ein ausführlicheres Porträt –  engagiert sich parallel zu seinen musikalischen Aktivitäten für Umweltschutz, und beruft sich dabei auf die intensive Liebe Mahlers zur Natur.

Orchestra For The Earth: I Am Lost To The World
Quelle: youtube

Saint Quarantine #14: Aus dem Sternenstaub


Heute sollte das Jazzfestival in Schaffhausen mit einem Release-Konzert der Schweizer Musikerin Yumi Ito starten. Pandemiebedingt hat sich die Leitung entschieden, die Künstler in einem Digitalformat ihre Konzerte in reduzierter Form präsentieren zu lassen. Yumi Ito wird heute Abend 45 Minuten hier online mit ihrem Set zu hören sein, als Vorgeschmack auf ihr Orchestra-Album
Stardust Crystals. Die eigentliche Veröffentlichung soll nun im September erfolgen, das neue Releasekonzert ist in ihrer Heimatstadt Basel für den 25.9. angesetzt, Infos folgen. Anlässlich des Schaffhausener Sets teile ich hier meinen Artikel aus dem Programmheft, der nach einem Interview mit ihr in Basel entstand.

„Ich habe am Rheinufer auf einer Wiese gelegen und in den blauen Himmel gestarrt“, erzählt Yumi Ito. „Und da habe ich plötzlich Klänge gehört, hatte die Vision von einem größeren Ensemble, das meine Songs spielt. Doch wie ich da hinkommen sollte: keine Ahnung!“ Der Weg zur Verwirklichung dieser Vision, er war spannend und gewunden. Doch am Ende führte er hinein in dieses gelungene Abenteuer voll eigenwilliger Zwischentöne und kleiner Geschichten mit Unebenheiten, mit Vertiefungen. Die 29-Jährige liebt das, was nicht allzu offensichtlich ist – und mischt daraus eine wunderbare, einzigartige Palette.

Um Yumi Itos Klangphilosophie zu verstehen, hilft es, in ihre künstlerische Biographie einzutauchen: Mit einer polnischen Mutter, Konzert- und Opernsängerin sowie Gesangspädagogin, und einem japanischen Vater, Konzertpianist, könnte die musikalische Laufbahn ja fast vorgezeichnet sein. Die Liedzyklen von Chopin schweifen durchs dreisprachige Elternhaus, in dem auch Fernost nachhaltig zu ihrem Erbe beiträgt: „Japan hat mich vielleicht durch die Art, wie ich denke und wie zielstrebig ich meine Projekte verfolge, geprägt. Das Geordnete, das Repetitive zieht mich an, dieses Minimalistische, das es auch im japanischen Design und bei japanischen Komponisten gibt.“

Doch neben ihren klassischen Pianostunden und dem mütterlichen Gesangstraining interessiert sich die Teenagerin bald für Pop-Vocals, fürs Keyboardspielen, hört Punkrock, sie will eine kräftige, soulige Stimme haben. Aber sie entdeckt auch – durch die Bossa Nova und Sängerinnen wie Gretchen Parlato – dass man die Stimme sprechend nutzen kann, nicht so voluminös singen, keine Verzierungen machen muss. Fürs Studium sucht sie sich den Jazz aus, findet als Leitsterne Ella Fitzgerald, Bobby McFerrin und Al Jarreau, letzterer ist als Juror bei einem Wettbewerb in Montreux begeistert von ihr. Der Jazz, er ist ja nur ein Gefäß, das ihr die größtmöglichen Freiheiten gibt: „Schon als Kind, als ich noch gar nicht wusste, dass es verschiedene Stile gibt, habe ich improvisiert und ich tue es bis heute fast täglich. Mich faszinieren diese Reibungen im Jazz, diese speziellen Akkorde, die ja auch im Impressionismus schon da waren. Aber gleichzeitig ist meine Musik auch viel vom ‚Nicht-Jazz‘ geprägt. Starke, eingängige Melodien sind mir wichtig, und mein Wunsch ist es, beides zu kombinieren, Komplexität mit Eingängigkeit zu verbinden. Es geht mir ganz klar darum, mich zu lösen vom Genre-Denken.“

Und das tut sie „breitbandig“: In Zürich, an der Hochschule der Künste, und in Basel am Jazzcampus lotet sie mit prominenten Lehrer*innen wie Lisette Spinnler, Guillermo Klein, Lucas Niggli und Mark Turner Komposition, Gesang und freie Improvisation aus. Natürlich auch die Standards: Doch die dehnt sie 2016 auf ihrem Debüt „Intertwined“ mit ihrem Quartett schon auf neunminütige, aufregende Gebilde. Und immer mehr – da ist der Hang zu starken Melodien – zeigt sich, dass sie kleine Geschichten aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld in eigenen Songs festhalten und erzählen möchte, sie schreibt sie zunächst am Klavier. „Songs helfen mir, mich zu reflektieren. Ich kann regelrecht süchtig nach einem Song werden, der mir gefällt, höre ihn dann hundertmal“, gibt sie lachend zu. Der Campus mit seinem internationalen Studentenflair direkt am Dreiländereck bietet der „Nomadin im Herzen“ (Ito über Ito) für all das einen fruchtbaren Boden: Hier kann sie sich in den unterschiedlichsten Konstellationen, mit Gleichgesinnten aus allen möglichen Ländern auszuprobieren. Und als sie schließlich 2017 ihr grandioses Abschlusskonzert gibt, leitet sie fast ein Dutzend junger Musiker aus sieben Nationen an: Da steht schon die Urformation ihres eigenen Orchestra auf der Bühne.

Wir kehren zurück zur intuitiven Visionärin am Rheinufer die nicht weiß, wie die orchestralen Klänge in ihrem Kopf Wirklichkeit werden können. „Es erschien mir sehr unrealistisch“, erinnert sich Ito. „Doch dann habe ich mit meinem Cellisten Jo Flüeler darüber geredet, und der ermutigte mich: Mach einfach!“ Autodidaktisch schafft sie sich ein Arrangierprogramm drauf, beginnt, ihre Songs für Streicher zu setzen. Um die Musiker zusammenzustellen, nutzt Ito all ihre Kontakte von den Hochschulen, knüpft Querverbindungen zwischen all den prägenden Klangstationen ihrer Vita. Immer mehr Instrumente aus ihren akustischen Kopfgebilden kommen dazu, und die sind eher ungewöhnlich. Nein, eine Jazz-Bigband ist das definitiv nicht! Eher ein Large Ensemble, das mit einem Bein in der Kammermusik eines Claude Debussy steht, mit Harfe, Vibraphon und Flöte. „Mein Vater hat neben Klavier auch Flöte studiert, ich bin also als Kind ständig mit ihrem Klang in Berührung gewesen“, erklärt Yumi Ito ihre Vorliebe fürs Filigrane und zitiert auch die feingewobene Textur in den Werken von Toru Takemitsu als Einfluss.

Und so nehmen ein Repertoire, ein Bühnenprogramm, ein Album Gestalt an, der Titel „Stardust Crystals“ kristallisiert sich heraus. „Wir alle sind gemacht aus Kristallen von Sternenstaub“, heißt es im Titelsong. „Jeder verschieden und einzigartig, still aus dem Himmel herabfallend und in der Ewigkeit herumwirbelnd.“ Das könnte auch eine poetische Beschreibung für ihre Songs sein. Denn viele von ihnen, am Klavier noch embryonal und schlicht, wechseln jetzt ihren Aggregatzustand, werden hinggeweht zu anderen Färbungen und Harmonien, gehen manchmal abenteuerliche Wege der Metamorphose. „Meine Stücke funktionieren auch in ganz reduzierter Form, solo oder im Trio mit meinem Bassisten Kuba Dworak und Iago Fernandez am Schlagzeug“, sagt Ito. „Aber zu hören, wie sie orchestral erblühen können, mit so vielen wunderbaren Musiker*innen, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auf der Bühne zu spüren, das ist das Größte.“ Und diese Zusammengehörigkeit heißt auch: Jedes Bandmitglied ist in den ausdifferenzierten Arrangements gleichberechtigt, Jeder und Jedem ist der Part auf den Leib geschneidert, wird Raum für Soli eingeräumt. Stücke beginnen mal mit Geige, Viola und Cello, mal nur mit Harfe oder Array Mbira, mal mit Bassklarinette und Drums. Reizvolle Dialoge zwischen den Instrumentengruppen sind auskomponiert, man kann sie im Konzert geradezu räumlich miterleben.

Schauen wir uns doch ein paar dieser wirbelnden Sternenstaub-Kleinode näher an: Diese unbeschreibliche Kreuzung aus Empfindsamkeit und hymnischem Ton im Titelstück, sie erinnert an das Song-Universum von Björk. Die Streicherversionen aus dem Schaffenskatalog der Isländerin haben Ito in den Bann gezogen, genau wie die machtvolle nordische Sphäre der Insel selbst – drei Mal ist sie inzwischen da gewesen im Rahmen einer Künstlerresidenz. Ein Streichtrio nicht als romantischen Teppich auszurollen, sondern es in die rhythmische Arbeit miteinzubeziehen, da ist sie Björk wesensverwandt. Und auch in ihrer Eigenart, die Natur als beseelt zu sehen, die Zerbrechlichkeit des Planeten poetisch einzufangen. „Wir denken, wir sind die Könige der Erde, dabei zerstören wir unser eigenes Königreich“, so die Schlusszeile in dem Song, der von einer TV-Doku über die Arktis seinen Impuls empfangen hat.

Yumi Ito spürt, dass sie mit ihrer Musik immer wieder Geschichten erzählen will, die dem Innenraum, der Stille eine Stimme geben. Denn eine ähnliche ruhige Naturverbundenheit wohnt im „Old Redwood Tree“, ein Song, der so natürlich fließt, dass man seine ungerade Taktart gar nicht mehr wahrnimmt. In einer Frühversion kam der Groove noch vom Klavier, jetzt ist er auf die glasig-transparente Klangfarbe der Array Mbira, ein Daumenklavier des 21. Jahrhunderts von Izabella Effenberg übertragen. „Inspiriert ist das Stück von den Muir Woods in San Francisco, diesem Park von Mammutbäumen, der mich so beeindruckt hat, dass ich dachte, die Bäume sprechen zu mir“, so Itos Überzeugung. „Ich glaube, das Kristalline des ganzen Albums wird gut repräsentiert in diesem Stück.“ Und dann springt einen plötzlich ein Song mit einer kapriolenhaften, textlosen Melodie an, ein Ohrwurm, der sich festbeißt: „What Seems To Be“, entstanden aus einer ihrer vielen Improvisationsschnipsel, die Yumi Ito tagtäglich auf ihrem Smartphone aufzeichnet.

Sie singt das mit einer wie verwandelten Stimme – alles Nachdenkliche macht purer Freude und überschwänglicher Sinnlichkeit Platz. Dabei sind die Lyrics hintergründig: Es ist nicht alles so, wie es scheint, wir sollten zweimal hinschauen und immer kritisch bleiben. In dies Stimmungslage passt auch „Little Things“, ein Song darüber, wie wesentlich die kleinen Dinge im Leben sind, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen, Probleme mitzuteilen – gerade in Zeiten persönlicher Bedrängnis. Und genau darum geht es ihr auch in der Musik: das Anderssein, das Abweichen von der Coolness zulassen, nicht die glatte Fassade vorzuspiegeln. Man könnte auch sagen: die besonderen, auch schmerzlich gelebten Töne feiern.

„Schon als Kind habe ich mich als Sängerin und Schauspielerin gesehen, und diese schauspielerische Seite in mir ermöglicht es mir, dass ich in verschiedene Rollen schlüpfe. Doch ich bin dabei immer ich selbst“, erklärt Ito ihre vokale Wandlungsfähigkeit. Die sich in einem anderen Stück in Vollendung zeigt, ein Stück, dass unversehens wie ein Fremdkörper hereinplatzt: Der „Spaziergang in Prag“ ist eine Gruselmär‘ mit freier Vokalimprovisation, Kafka-esk und Zapppa-esk zugleich, ein mal schleichender, mal sprunghafter Gang durch die Gassen. Hinter jeder Ecke scheint der Golem zu lauern, wenn sich die Gesangslinien katzenhaft winden, ein plappernder Scat vom Zaun gebrochen wird, das Orchester sich in Kollektivimprovisation aufbäumt. Dieses Stück „Programmmusik“ spiegelt Yumi Itos Vielseitigkeit am überraschendsten wider.

Wo wird es für Yumi Ito hingehen? Das wagt man kaum vorherzusagen. Ihre Musik wird jedenfalls immer eine Weltsprache sein. Die Nomadin bekräftigt, es führe sie regelmäßig in die Ferne, um sich Inspirationen zu holen. Reisen sieht sie – nicht nur für eine Künstlerin – als Nährstoff: „Es erlaubt mir, anders auf die Schweiz zu schauen, vielleicht auch mehr zu hinterfragen, auch die positiven Dinge hier stärker wahrzunehmen“, sagt die erklärte Liebhaberin des interkulturellen Basels. Nicht zuletzt diese Vielfalt am Rheinknie spiegele sich in der außergewöhnlichen Instrumentierung ihrer Orchestermusik. In den kleinen Unebenheiten, Vertiefungen. Und aus diesen erwächst: große Musik.

© Stefan Franzen, erschienen im Programmheft des Jazzfestivals Schaffhausen

Hier nochmals der Hinweis: Yumi Itos Live-Set heute Abend, Mittwoch, den 13.5.2020 zwischen 21h15 und 22 h zu hören:
https://live.jazzfestival.ch/

Happy Birthday To Ya – Stevie 70

Einer der bekanntesten Geburtstags-Songs der Popgeschichte stammt aus seiner Feder, Adressat: Martin Luther King. Heute kann man ihm selbst „Happy Birthday To Ya“ singen: Stevie Wonder wird 70 Jahre alt. Das klingt fast etwas unwirklich, denn alles Wichtige in seinem Leben ist mit der Jugend verbunden, passierte sehr früh. Mit zwölf Jahren veröffentlichte er seine ersten LPs, mit 21 erkämpfte er sich künstlerische Selbstbestimmung, sein Magnum Opus schrieb er mit 25.

Als „Little Stevie Wonder“ stellt ihn Motown 1962 vor, und die gesamten Sechziger hindurch bleibt der Wunderknabe, großes Vorbild Ray Charles, mit mehr als einem Dutzend Alben fest in der Hit-Diktatur von Labelchef Berry Gordy gefangen. Der Multiinstrumentalist begeistert mit seiner fantastisch flexiblen, glockenhellen Stimme und seinem sonnigen Mundharmonikaspiel, liefert Chartstürmer wie „Signed, Sealed & Delivered“, „I Was Made To Love Her“ oder „My Cherie Amour“.

Ähnlich wie Labelkollege Marvin Gaye begehrt er an der Wende zu den 1970ern gegen das kommerzielle Korsett auf. Wonder belegt Musiktheorie, baut ein eigenes Studio, handelt seinen Motown-Vertrag neu aus und vollzieht mit den Werken Where I’m Coming From und Music Of My Mind eine Metamorphose zum vielfältigsten Soul-Künstler seiner Zeit. Seine Songs umfassen jetzt ein Spektrum von harscher Sozialkritik bis zu dahinschmelzenden Liebesballaden, er formt Jazz, Funk, Gospel und Reggae zu einem eigenen Stil. Seine Songs baut er aus fast klassisch komplexen Harmoniegängen, die Stimme gewinnt an Tiefe und Innerlichkeit, und eine Pioniertat ist sein Gebrauch von Synthesizern.

Hits schreibt er weiterhin, darunter „You Are The Sunshine Of My Life“ und das aufgekratzt-funkige „Superstition“, beide von der Platte „Talking Book“ (1972). Fast von Geburt an blind entwickelt er ab Innervisions eine zunehmend spirituelle Bildsprache und wird zugleich immer politischer, greift mit dem ätzenden „You Haven‘t Done Nothin‘“ direkt Präsident Nixon an. Die ungeheure Kreativitätsphase gipfelt 1976 in Songs In The Key Of Life: Das opulenteste Konzeptalbum des Soul bis dahin spannt sich thematisch von „Pastime Paradise“, einem tiefgründigen Plädoyer gegen Müßiggang, das später Rapper Coolio aufgreift, bis zur zündenden Duke Ellington-Hommage „Sir Duke“ auf.

Noch einmal, 1980 mit Hotter Than July, schafft er ein Meisterwerk inklusive seiner Reggae-Lesart in „Master Blaster“. Dann führt ihn sein Weg in den – manchmal seichten – Pop: Das sentimentale „I Just Called To Say I Love You” hat ihm so mancher Fan der Frühzeit bis heute nicht verziehen. Duette mit Paul McCartney und Michael Jackson sowie Filmmusiken flankieren den weiteren Weg, Alben gibt es nur noch sporadisch. Das letzte Werk A Time To Love mit Gästen von India.Arie bis Prince liegt 15 Jahre zurück. Generationen von Musikern und Soul-Aficionados hat Stevie Wonder geprägt, sein berühmtester Fan, Barack Obama, machte ihn zum Stammgast bei den Konzerten im White House. Neben der Musik gilt bis heute sein unermüdliches Engagement einem Amerika ohne Rassismus.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badsichen Zeitung, Ausgabe 13.05.2020