Klangfenster zu den Nachbarkünsten

Sílvia Pérez Cruz
Farsa
(Universal Spain)

Diese Platte hat eine lange Vorgeschichte. Eigentlich wollte Sílvia Pérez Cruz sie bereits im Frühjahr veröffentlichen – als Endresultat ihrer Beschäftigung mit den Nachbarkünsten Theater, Poesie, Tanz und Film, die sich bereits über zwei Jahre hingezogen hatte. Doch dann kam…wir wissen es alle. Und so blieben diese 16 Stücke nochmals ein halbes Jahr im Nirwana hängen, beziehungsweise im Netz, wo viel davon schon zu sehen und zu hören war.

Man könnte davon ausgehen, dass das Teamwork mit den anderen Disziplinen zu einem Konzeptalbum geführt hätte. Doch Farsa gleicht eher einem Kaleidoskop ohne zusammenhängenden dramaturgischen Bogen, selbst innerhalb der vier Kapitel (auf der Doppel-LP, deren Cover oben abgebildet ist, je eine Seite) ist die Variationsbreite so hoch, dass man keine Geschlossenheit in Besetzung, Instrumentation oder Stimmung erkennen kann. Pérez Cruz hat betont,  dass diese Brückenschläge für sie ein Experiment gewesen sind und genau diesen Charakter hat Farsa bis ins Endstadium auch nicht abgelegt.

Was nicht heißen soll, dass mitunter nicht großartige Songs darauf zu finden sind: „Pena Salada“ etwa, der Eröffnungstrack, der mit dem Perkussionisten Aleix Tobias in eine Urschicht spanischer Folklore entführt, oder das jazzige „Estimat“, das genauso eine Komposition aus der Blütezeit des kubanischen Bolero sein könnte. „Todas La Madres Del Mundo“ ist ein wunderbar wiegendes Loblied auf die Kraft der Mutterschaft (ein zweiter, latenter Faden durch das Werk) mit großem Akustikensemble, aufgeladen mit der dramaturgischen Kraft der Streicher und einer Melodie, die Pérez Cruz Stimme so zur Wirkung kommen lässt, wie sie am meisten glänzt – im ruhigen Fluss mit nur ganz spärlichen expressiven Ausbrüchen. In „Mañana“ wiederum ist ihr ein Liebeslied gelungen, dass mitten aus der mexikanischen Terzenseligkeit stammt.

Farsa – CD-Cover

Mit „Grito Pelao“ erreicht Farsa seinen audio-visuellen Zenith: eine grandiose Kollaboration mit dem Gitarristen Mário Mas und der unorthodoxen Flamenco-Tänzerin Rocío Molina (siehe Video unten) – aus dem gemeinsamen Programm von Pérez Cruz mit ihr ist auch der Titel entlehnt. Auch der anschließende Tango ist ein Meisterwurf, featuret nicht nur den Bandoneón-Könner Marcelo Mercadante, sondern auch ein Outro mit Waldhörnern, die hier eine völlig genre-untypische Farbe ins Spiel bringen. Dann allerdings fasert das Geschehen ausgerechnet auf der Danza-Seite ohne rhythmisch klare Linie ins Deklamatorische und Sphärische ab – vielleicht ist dies mein Hauptkritikpunkt am Album: dass Momente der Band-Stringenz einfach zu selten sind.

Versöhnlicher wieder die finale Sektion, dem Kino gewidmet: Wie in „Plumita“ der Flug einer Feder erst mit Oberton-Streichern und dann im Pizzicato-Taumel ausgestaltet wird, geleitet von traumhaft flexiblen Vocals, das ist Sílvia Pérez Cruz in Höchstform. Und mit ihrer Lesart von „The Sound Of Silence“ aus dem Soundtrack zu Álvaro Brechners „La Noche De 12 Años“ hat die Katalanin einen totgenudelten Klassiker  zwar fast neu erfunden – doch die jüngere, gitarristischere Live-Version, die nicht auf Farsa enthalten ist,  hat viel mehr Zunder. Ein bisschen angeklebt wirkt die explosive Rausschmeisser-Milonga, doch man wünscht sich fast ein ganzes argentinisches Album von Pérez Cruz als nächsten Schritt ihrer Karriere, so fantastisch ist das gesungen.

Ich mochte dieses Doppelalbum anfangs nicht sehr, was bei meiner Vorliebe für die Sängerin schon bemerkenswert ist. Immer noch finde ich es sperrig und stellenweise so heterogen, dass es fast auseinanderfällt. Die Klasse vieler einzelner Kapitel ist aber unbestreitbar und selbst ein paar Verklammerungen gewinne ich bei jedem Hören. Und dieser allmähliche Gewinn anstatt unmittelbarer Überwältigung zeichnet ja oft große Meisterwerke aus.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Grito Pelao“
Quelle: youtube

 

Katalanisches in Fernost

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida
MA. – Live In Tokyo
(Universal Music Spain)

Ihr neues Band-Album Farsa hat die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz wegen der Pandemie in den Herbst verschoben. Stattdessen veröffentlich sie digital nun eine Duo-Arbeit mit dem Landsmann Marco Mezquida am Piano. Vor zwei Jahren hatte ich das Glück, die beiden in Paris zu erleben, deshalb freue ich mich auf dieses Klangsouvenir an den Abend im Café de la Danse, auch wenn dieses hier 20 Monate später im Tokioter Blue Note eingefangen wurde, mit einem allerdings sehr ähnlichen Programm. Nur mit Stimme, Piano und ganz vereinzelt Gitarre ein Repertoire von Música Latina über Jazz und Pop bis zur sakralen Klassik zu bündeln, das kann leicht zum Sammelsurium werden. Nicht bei diesen beiden, die ein homogenes Universum daraus formen.

„MA“ geht auf das japanische Konzept des Raumes und der Stille zwischen zwei Dingen zurück – hier also des Atems zwischen zwei Noten, der Stille zwischen dem Verklingen und der ersten Reaktion der Lauschenden. Davon gibt es in diesem Konzert jede Menge. Wenn es auch noch recht „unauffällig“ mit Liedern aus der Feder von argentinischen und brasilianischen Cantautores eröffnet, geht es recht bald auf ungewöhnliche Pfade: Eine reizende Toy Piano-Miniatur von Radioheads „No Surprises“ und eine fast bluesige, in unterschiedliche Sektionen aufgefächerte Adaption des portugiesischen Volkslieds „Barco Negro“ schaltet das Duo nacheinander, die abgründige mexikanische Melancholiehymne „La Llorona“ wird mit perkussivem Piano vorgetragen. Wie Pérez Cruz‘ Stimme einen Folkklassiker improvisatorisch komplett umkrempeln kann, macht sie mit „The Sound of Silence“ vor, „Siga El Baile“ bringt dann überschäumende Tanzstimmung unters sehr zurückhaltende japanische Publikum. Am verblüffendsten dann das Medley aus Bruckners „Christus Factus Est“, „Lonely Woman“ und My Funny Valentine“: acht Minuten, die religiöse Erhöhung, eruptives Tastengewitter und verletzliche Jazz-Intimität in sich fassen. Das geht schlüssig nur bei solchen zwei Ausnahmetalenten.

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida: „Barco Negro“
Quelle: youtube