Holler love across the nation I – River’s Invitation

Foto: Pete Souza

Die Soulgemeinde, ja, die ganze Musikwelt ist verwaist, um ihre größte Stimme ärmer. Auch zwei Wochen nach Arethas Wechsel der Welten ist die Trauer immens und die richtigen Worte fehlen. Heute versammeln sich in Detroit ihre Familie und viele ihrer Freunde zur Trauerfeier, bei der unter anderem Stevie Wonder singen wird. Mit ihm wollte sie noch für ihre neue Platte zusammenarbeiten. Schon in den vergangenen Tagen sind Hunderte von Fans ins Charles H. Wright Museum of African American History gepilgert, wo sie aufgebahrt war, um sich zu verabschieden. Detroit bestrahlt seine Gebäude in pinkem Licht – als Tribut an den rosa Cadillac, den sie in „Freeway Of Love“ besang. In diesem Moment läuft ein Tributkonzert im Chene Park mit u.a. den Four Tops und Gladys Knight sowie etlichen Familienmitgliedern, und im November wird es in New York eine große Show zur Erinnerung an sie geben.

Aretha hat mir die Tür zum Soul geöffnet und eine Brücke gebaut – nach einer Zeit, in der ich mich von einer schweren Krankheit erholt hatte. Seit ich nicht nur um ihre Musik wusste – in den Achtzigern konnte man ihren Pophits ja nicht entkommen – sondern sehr verspätet ihre Größe der Sechziger und Siebziger entdeckte, verging sicher keine Woche ohne ihre Musik. Nach meinem offiziellen Nachruf für die Tageszeitung möchte ich der Queen in den nächsten Tagen und Wochen daher ein persönliches Geleit geben – mit denjenigen Songs aus ihrer Karriere, die mir am meisten bedeuten. Wie viele es werden? Schwer zu sagen. Wo ein Ende finden in diesem gewaltigen Werkkorpus von über 40 Alben, das die Jahre 1956 bis 2017 umfasst?

Your music will always Rest In Power, Aretha. Thank you for that sweet soulful sound.

Aretha Franklin: „River’s Invitation“ (1969)
Quelle: youtube

Es mag Leute geben, die denken, „River’s Invitation“ handle vom Selbstmord. Aber ich glaube nicht, dass Percy Mayfield, von dem der Song stammt, das im Sinn hatte. Da reist einer durchs ganze Land, hat jedes Fleckchen Erde umgekrempelt auf der Suche nach seiner Liebsten. Dass sie noch irgendwo am Leben sein muss, da ist er sich sicher, aber er kann sie nicht finden. In seiner Verzweiflung redet er mit dem Fluss. Und er bekommt auch eine Antwort. „Mein Lieber, du siehst ganz schön einsam und erbarmungswürdig aus“, sagt der Fluss. „Wenn du dein Baby nicht finden kannst, dann lass mich dir eine Heimstatt anbieten.“ „River’s Invitation“ ist kein Lied über einen, der ins Wasser geht. Es ist ein Song über Rastlosigkeit, übers Unterwegssein auf der Wasserstraße, bis ans Ende deiner Tage, weil du nur so über den Schmerz hinwegkommst: durch ständige, betäubende Bewegung.

Der Texaner Percy Mayfield, der ist ein Meister des Vagabundentums. Sein anderer großerer Erfolg war auch so eine Rhythm’n’Blues-Hymne übers Weggehen, „Hit The Road, Jack“, ihr kennt ihn von Ray Charles. Furchtbar, dass Percy während seines eigenen Unterwegsseins verunstaltet wurde, ein Autounfall hat ihn übel entstellt. Sein Flusslied mag nicht so packend sein und nicht so einen unverwechselbaren Basslauf haben wie „Hit The Road“, aber es scheint mitten aus den Sümpfen des Südens zu kommen, aus den muddy waters, wo man gar nicht mehr weiß, was ist jetzt Wasser und was Land. Wo das Wasser das Land nicht nur einlädt, sondern es umschlingt. Die tiefen swingenden Bläser, dazu ein kreiselndes, kitzelndes Piano und die sonore Stimme von Percy – das versetzt dich in ganz alte Blueszeiten, obwohl er es in dieser ersten Version doch erst 1953 in die Welt setzte.

Man kann sich schwer vorstellen, wie dieser Song noch glaubhafter werden kann. Bei Aretha wird er’s, sechzehn Jahre später, weil sie ihn nochmal ganz anders anpackt. Hört euch diese groovige Gitarrenlinie an, die fast glitschig in die Höhe klettert. Der Jazzer Kenny Burrell hat die hingezaubert. Über diesem Groove steigt Aretha ein, zieht den Anfangston eine halbe Ewigkeit nach oben. Um ihre Stimme herum schleichen sich allmählich die Blechbläser rein, die Trompeten schreien auf, die Posaunen grunzen abgrundtief, und als der Fluss antwortet, hat er das größte Mitgefühl, dass man sich vorstellen kann: „Oh you look so lonely, and so full of misery“. Aretha als Flussgöttin schiesst hier einen Mitleidspfeil ab, der die Membran des Mikrofons wohl fast zersprengt hat, jedenfalls konnte der Toningenieur das damals gar nicht mehr gescheit auspegeln. Immer weiter türmt sich das Orchester hoch, macht nur noch mal kurz Platz für ein schönes, bluesiges Pianoeinsprengsel. Doch so gigantisch sich die Bigband hier auch aufbäumt: Aretha nimmt es mit dem ganzen Apparat auf, schmettert auch über die scharfkantigsten Trompetenattacken ihre Sehnsucht hinaus – die Sehnsucht nach dem ewig dahinrollenden Fluss.

Es war im Februar 2005: Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit gesträubtem Nackenhaar vor den Lautsprechern saß und nicht fassen konnte, wie diese Stimme als Dompteuse einer kompletten Bigband auftrat. Dieser Song war ein Erweckungserlebnis.

© Stefan Franzen

Pizzicato-Dramolette

Punch Brothers
All Ashore
(Nonesuch/Warner)

Von Produzenten, und der letzte war immerhin T-Bone Burnett, haben sich die fünf Amerikaner auf ihrem sechsten Album losgesagt. Doch auch in Eigenregie setzen die „Brüder“ ihren sehr elaborierten Kammer-Country fort: Noch delikater sind die Satzgesänge, noch verinnerlichter Chris Thiles Leadvocals. Grandios groovy, aber auch intellektuell wie nie das Teamplay zwischen den gezupften und gestrichenen Strings, mit der aberwitzig virtuosen Mandoline im Fokus. Die herkömmlichste Songstruktur hat noch der swingende „Jumbo“, voll ätzenden Spotts über einen White & Male-Profiteur. Nicht nur das siebenminütige Titelstück birgt eine kleine Suite für sich: „The Angel Of Doubt“ ist Pizzicato-Dramolett, akustischer HipHop und verzerrter Folkwalzer zugleich. Diese Tempi- und Taktwechsel!

„Jungle Bird“ klingt zunächst als würde es jede Tanzscheune zwischen den blauen Bergen und Oklahoma in Brand setzen, zerbröselt dann aber in purer Lust an der Dekonstruktion. Als Konzeptwerk kann man das Werk auch sehen: Thile ließ verlauten, es gehe in den Texten um die Isolation und Zerstreuung in der digitalen Ära, und um das, was an Verbindlichkeiten und Beziehungen im politischen Klima der Staaten gerade noch übrigbleibt. Philosophisch sind die Punch Brothers da durchaus ihren Popkollegen von den Fleet Foxes verwandt. Ist das noch Bluegrass, noch Americana? Diese Scheibe aktiviert phasenweise eher Hirnregionen, wie sie etwa beim Hören eines spätromantischen Streichquintetts angesprochen werden.

© Stefan Franzen

Punch Brothers: „Like It’s Going Out Of Style“
Quelle: youtube

Polares Drama und Lerchenflug

Heute jährt sich der Todestag des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams zum 60. Mal. RVW hat mir in den achtziger Jahren nicht nur die Türen zur britischen Klassik geöffnet, er hat mich auch immer wieder durch seinen kreativen Umgang mit englischer Folkmusik verblüfft. „The Lark Ascending“, der Aufschwung der Lerche, diese unvergleichlich lautmalerische und seelenvolle Romanze für Geige und Orchester, die ich selbst versucht habe zu spielen, war der Auftakt zu Jahrzehnte langen Erkundungen zwischen E- und U-Musik – eine Trennung, die im UK ohnehin inexistent ist.

Seine antarktische Symphonie, erst als Soundtrack zur Verfilmung von Robert Falcon Scotts Südpol-Drama geschrieben, und sein Oboenkonzert habe ich in meiner Hörspielfassung von William Hope Hodgsons Das Haus an der Grenze eingesetzt. Sein Gespür für dramatische Orchestercrescendi und räumliche Effekte in der Tallis-Bearbeitung oder der „London Symphony“ überwältigen mich noch heute. Sein Pinselstrich mit pastoralen Farben im Oboenkonzert lassen eine englische Landschaft vor Augen erstehen, und seine moderne Vokalarbeit in den Shakespeare-Vertonungen klingen auch in der heutigen Chormusik noch nach. „Flos Campi“ schließlich ist das schönste und rätselhafteste Ton-Poem über das biblische Hohelied, das ich kenne.

Meine sieben Vaughan Williams-Favoriten.

1. „The Lark Ascending“ (1914-20) (Violine: Arabella Steinbacher, NDR Radiophilharmonie)
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2. „Fantasia On A Theme By Thomas Tallis“ (1910) (BBC Symphony Orchestra at Gloucester Cathedral)
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3. „Sinfonia Antartica – 1. Prelude – Allegro Maestoso“ (1952) (London Philharmonic Orchestra, Adrian Boult)
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4. „Concert for Oboe – Rondo Pastorale“ (1944) (Oboe: David Theodore, London Symphony Orchestra)
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5. „A London Symphony – Lento“ (1912/13) (Hallé Orchestra, John Barbirolli)
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6. „Three Shakespeare Songs“ (1951) (DR VokalEnsemblet)
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7. „Flos Campi“ (1925) (Viola: Frederick Riddle, Bournemouth Sinfonietta)
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Leonard Bernstein 100

Er hat mir Mitte der Achtziger die Welt Gustav Mahlers erschlossen, da er sie in den Kontext unserer Zeit gesetzt hat. Die Erkenntnis, dass Musik weder losgelöst vom Seelenleben des Komponisten noch von gesellschaftlichen Ereignissen gesehen werden kann, verdanke ich ganz wesentlich Leonard Bernstein, der heute 100 Jahre alt würde. Ein Bernstein-Einspielung von Beethovens 5. und 7. Sinfonie war meine erste CD überhaupt. Gestorben ist er viel zu früh, mit 72 Jahren, ich hatte gerade das dritte Semester meines Musikwissenschafts-Studiums begonnen.

Damals habe ich eine Leitfigur verloren. Das wird mir umso mehr bewusst, als ich dieser Tage wieder seinen streitbaren und teils auch umstrittenen Vorlesungen im Internet lausche. Wie er die Deutung der letzten Takte des Adagios aus Mahlers Neunten auf dem Hintergrund der Krise des 20. Jahrhunderts entwickelt (hier ab 1:09:00), ist für mich bis heute faszinierend. Danke, Lenny!

Leonard Bernstein dirigiert das Adagio aus Gustav Mahlers 9. Symphonie
Quelle: youtube

Die Poesie des Vakuums – 50 Jahre „2001“

Es zischt, kracht, rumst und scheppert. Laserkanonen blitzen auf, Antimaterie-Bomben fliegen einem um die Ohren, Armadas von Raumschiffen, ganze Himmelskörper gehen in Flammenmeeren auf. Für Erdlinge, die mit den Science Fiction-Filmen ab „Star Wars“ sozialisiert wurden, ist die immer rasanter geschnittene, computergenerierte Materialschlacht der Normalfall geworden. Vielleicht haben Sie, sollten Sie der „Generation 2001“ angehören, das auch schon erleiden müssen: Beim gemeinsamen Anschauen des Kultstreifens von Stanley Kubrick langweilen sich die Jüngeren, schlummern vielleicht sogar ein – und sie fühlen sich am Ende allesamt um den logischen Schluss betrogen.

Was da im deutschsprachigen Raum im Herbst 1968 in die Kinos kam, ist bis heute ein nahezu singuläres Ereignis geblieben. „2001 – Odyssee im Weltraum“: ein Film, dessen Drehzeit ein paar Monate betrug, auf dessen Spezialeffekte aber, sämtlich mechanisch oder photochemisch erzeugt, zwei Produktionsjahre verwendet wurden. 141 Minuten, die nicht weniger als die Geschichte des Homo sapiens erzählen, seine Begegnung mit Intelligenz außerirdischer (der ominöse Monolith) und künstlicher Art (der Bordcomputer HAL 9000). Ein vollendeter Spagat zwischen langsamem, poetischem Flow und filmtechnischer Perfektion, die ein Jahr vor der ersten Mondlandung den aktuellen Stand der Weltraumforschung miteinbezog. „Science“ und Fiction“ tatsächlich in harmonischem Zweiklang.

Im Deutschen Filmmuseum Frankfurt erinnert anlässlich des Jubiläums eine Ausstellung an das Meisterwerk. Die Kuratoren sahen sich dabei mit einer ziemlich hohen Hürde konfrontiert: Kubricks Albtraum war es, dass die Produktionsfirma MGM seine eigens gefertigten Bauten und Requisiten für weitere Filme verwenden würde, er ließ deshalb fast alles konsequent vernichten. Dennoch gewinnt der Film beim Rundgang sowohl für Neulinge als auch für Eingeschworene enorm an Plastizität.

Allein die räumliche Konzeption ist ein schöner Kniff. Sie befindet sich an Bord einer Art Kommandobrücke, ein zweiter konzentrischer Kreis liegt im Dunkel darum: das Weltall. Zu sehen gibt es einen roten Raumanzug, Urmenschkostüme aus der Eingangssequenz, Modelle aller Raumfahrzeuge und der Zentrifuge des großen Spaceships „Discovery“. Sie ist ein umgebautes Riesenrad, in dem Kubrick mit speziellen Kamera-Aufhängungen die Trennung von „oben“ und „unten“ schwerelos auslöschte. Die „weightless condition“ eben: Eine Schalttafel mit dieser glühenden Aufschrift immerhin hat die Zerstörungswut des exzentrischen Regisseurs überdauert.

Tiefenschärfe bekommt „2001“ in Frankfurt aber durch unspektakuläre Fundstücke. Da lässt sich etwa Kubricks Briefwechsel mit Arthur C.Clarke verfolgen: Seine Erzählung „The Sentinel“ hatte den Filmstoff angeregt, er garantierte auch den wissenschaftlich korrekten Hintergrund. Es gibt Vorabskizzen von der Mondstation und von Urzeitlandschaften zu bewundern, Konzeptmalerei für den Flug ins Sternentor, Kostümentwürfe. Zu Ehren kommen so Dutzende von Illustratoren und Produktionsdesignern, die der Regisseur um sich scharte. Schließlich erhält auch Kubricks Charakter Konturen: Polaroids verschiedenster Einstellungen, die ihm halfen, die Belichtungen und Kamerawinkel zu erproben, seine berühmten täglichen Karteikarten fürs Set, sie enthüllen ihn als peniblen, besessenen Perfektionisten.
Auch 1968 war der Film alles andere als unumstritten: Das verraten die in Frankfurt ausgehängten Rezensionen der damaligen Tageszeitungen. Da prallten die konservativen Erbauer des Wirtschaftswunders auch im Kinosaal auf eine revolutionierende Jugend. Man kann sich gut vorstellen, wie die 68er-Generation die ohnehin schon psychedelische Fahrt durchs Sternentor anhand entsprechender Substanzen noch mehr genoss. Dieser rauschhafte, von György Ligetis „Lux Aeterna“ begleitete Trip mit seinen bis heute, auch mit digitalen Mitteln nicht erreichten Lichteffekten ist es, die für viele als Herzstück von „2001“ gilt. Und auch wenn sie im Filmmuseum entmystifiziert wird, durch die Erläuterung der sogenannten Slitscan-Technik, behält sie auf immer ihre enigmatische Qualität.

Heute dagegen scheint der Weltraum nicht nur auf der Leinwand, sondern auch in Realität ein entzauberter Ort: Jede Menge menschengemachter Schrott treibt dort, Politiker wollen in ihm einen neuen Kriegsschauplatz ausmachen, und neben Wissenschaftlern schicken sich Milliardäre an, ihn zu „erobern“. Ist „2001“ 50 Jahre nach seinem Start nur noch romantische Erinnerung? Sicherlich auch. Doch Kubricks Magnum Opus bleibt trotz alledem zeitlos – als Mythos der ewigen Frage der Menschheit: Woher komme ich, wo gehe ich hin? Die ungebrochene Faszination dieser filmischen Odyssee: Sie wagte es, das Fragezeichen stehen zu lassen. Und wagte auch, eine banale Tatsache zu respektieren: Im Vakuum zischt und rumst es nicht. Es ist dort still.

© Stefan Franzen, erschienen in der bz basel vom 24.08.2018

Fotos: courtesy of Deutsches Filmmuseum Frankfurt (1,4), Stefan Franzen (2,3,5)

 

Bittere Erde, himmlische Glut – Aretha ist gegangen

Foto: Pete Souza

Ihrer Version des Songs „This Bitter Earth“ entringt sich ihrer Kehle eines dieser berühmten „Uuuhs“, die durch Mark und Bein gehen. „Wenn mein Leben wie der Staub ist, der den Glanz der Rose verdeckt, wozu bin ich dann gut? Das weiß nur der Himmel“, heißt es zuvor im Text. Von dieser Spannung zwischen irdischer Unzulänglichkeit und göttlicher Sphäre, zwischen dem Käfig des Körpers und der Schwerelosigkeit der Seele nährte sich zeitlebens die Musik von Aretha Franklin. Die „Queen des Soul“ ist am Donnerstag im Alter von 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit gestorben.

In Memphis am 25. März 1942 geboren, wächst Franklin in Detroit auf. Natürlicher musikalischer Nährboden ist der Gospel ihres Vaters, des Baptistenpredigers C. L. Franklin. In seiner New Bethel Baptist Church erlebt sie, wie die Sängerin Clara Ward vor lauter Ekstase ihren Hut auf den Boden schmettert. Ein Schlüsselerlebnis: Von nun an will auch sie singen. Erbarmungsloser Lehrer ist der Vater selbst, mit zwölf steht sie vor der Gemeinde, macht zwei Jahre später dort auch erste Aufnahmen. In ihrer Stimme sind da schon, wie es einer ihrer Kollegen nannte, alle „Schnörkel, Blüten und Rüschen“, die sich in Noten nicht fixieren lassen und die für ihre weitere Karriere so wesentlich werden.

Diese Stimme, sie drängt über den Gospel hinaus, wie sich 1960 zeigt: Franklin, mit 18 schon zweifache Mutter, wird in New York von Columbia Records unter Vertrag genommen, spielt mit dem Jazzpianisten Ray Bryant ihr erstes Album ein, bluesgetränkt, auf den Spuren ihres großen Idols Dinah Washington. Ihre Zeit bei Columbia wird auch heute noch unterschätzt: Bis 1966 veröffentlicht sie dort fast ein Dutzend Alben zwischen Blues, Jazz, Folksong und Easy Listening, man stellt ihr ein kitschiges Streichorchester zur Seite, versucht vergeblich, sie als Popsängerin in die Charts zu hieven – und doch formt ihre vokale Strahlkraft Standards wie „What A Difference A Day Makes“ zu Versionen für die Ewigkeit.

Franklins Columbia-Ära endet mit einem schmissigen Stück namens „Soulville“ – und in dieser Stadt, in der Ray Charles, Sam Cooke und James Brown schon residieren, baut Aretha Franklin nun ihren Palast. Verantwortlich dafür ist der Produzent Jerry Wexler, der sie zu Atlantic Records holt. Er erkennt das Potenzial, dieses Timbre mit dem rauen Sound des Südens zu paaren und nimmt sie 1967 mit in ein Studio in Muscle Shoals, Alabama, wo sie mit den mehrheitlich weißen Begleitmusikern von Wilson Pickett ihr erstes wirkliches Soulstück aufnimmt: „I Never Loved A Man The Way That I Loved You“.

Aretha Franklin: „I Never Loved A Man The Way I Love You“
Quelle: youtube

Es wird zur Blaupause für die weiteren Songs des gleichnamigen Atlantic-Debüts. Die Adaption von Otis Reddings „Respect“ macht sie über Nacht zur Ikone der Bürgerrechts- und Frauenbewegung. Der Respekt, er zielt auf die Anliegen der Schwarzen und ihres Führers Martin Luther King, der zu einem engen Freund wird. Er zielt aber ebenso stark auf Emanzipation. Die fordernde Weiblichkeit drückt sie in ekstatischen Soul-Hymnen wie „Dr. Feelgood“ mit donnerndem Gospelpiano und unverblümter Körperlichkeit aus. Auch Sex ist bei ihr immer göttliches Brausen.

Bis in die späten Siebziger veröffentlicht sie mit Wexler, einmal auch mit Quincy Jones und Curtis Mayfield am Pult, LPs am Fließband für Atlantic. In Hits wie „Chain Of Fools“, „Think“ oder „Spirit In The Dark“ lädt sie den Soul mit rauem, eruptivem Feuer auf, ein Gegenentwurf zum zuckersüßen Motown-Pop ihrer einstigen Detroiter Nachbarskinder Smokey Robinson und Diana Ross. Wie dieser Soul auch Europa außer Rand und Band bringt, ist dokumentiert in einem Konzertmitschnitt von 1968 aus Amsterdam, wie er sogar die weiße Hippie-Szene erobert, lässt sich auf der „Live At Fillmore West“-LP nachhören. Doch Franklin liefert auch „Sweet Soul Music“, wandelt Balladenmelancholie zu triumphalem Glanz wie in „You Make Me Feel“ oder „Angel“ aus der Feder ihrer Schwester Carolyn.

Aretha Franklin: „Angel“
Quelle: youtube

Immer, wenn es ihr selbst schlecht geht, wendet sich Franklin dem Gospel zu, etwa auf ihrer Doppel-LP „Amazing Grace“ von 1972. Der Mitschnitt aus zwei Gottesdiensten ist eine ungeheure Manifestation spiritueller Glut. Ob gläubig oder nicht: Man kann die letzten Minuten des Titelstücks nicht ohne seelische Erschütterung hören.

Nach einem Imagewechsel 1980 gelingen der Soul Queen auf Arista Records weitere Erfolge, sie gastiert im „Blues Brothers“-Film (1998 auch in Teil 2), und Pophörer entdecken sie bis in die Neunziger hinein neu, durch Duette mit George Michael, Elton John und Annie Lennox. Klatsch um ihre Gewichtszunahme und das Geheimnis um den Vater ihres ersten Sohnes begleiten die späteren Jahre. Noch einmal blitzt Franklins Rolle als Ikone der Bürgerrechtler auf, als sie 2009 bei der Amtseinführung Obamas vor zwei Millionen Menschen singt. Umso mehr tut es weh, dass sie in einer Ära geht, in der all die Errungenschaften Amerikas verlöschen. 2010 wird sie vom Rolling Stone zur besten Sängerin aller Zeiten gekürt. Dann erkrankt sie an Krebs, steht wieder auf, scheint sogar mit alter Kraft zu singen, tourt bis 2017 mit ihren alten Hits.

„Während eine Stimme in mir schreit, bin ich mir sicher, dass jemand meinen Ruf erhört, und diese bittere Erde, sie wird schließlich nicht mehr so bitter sein“, singt sie, während sie sich zu einem grandiosen Crescendo steigert, mit diesem von keiner Kollegin je erreichten Ziehen und Zerren in der Stimme. Wer ihr zuhört, kann alles über das Irdische lernen – und vieles über Gott. Größeres lässt sich mit Musik nicht sagen. Die Queen ist gegangen, ihr Thron bleibt leer, vermutlich für immer. Heute gibt es keinen Trost.

© Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung vom 17.08.2018

Aretha Franklin: „This Bitter Earth“
Quelle: youtube

Radiotipp: Ibn Battuta – Prinz der Reisenden


SWR2 Musikstunde
13. – 17.08.2018 –  09h05 – 10h00

Ibn Battuta – Prinz der Reisenden
Musikalische Spuren zwischen Marokko und China

In der muslimischen Welt gilt er als „Prinz der Reisenden“. Zwischen 1325 und 1354 hat Ibn Battuta 120.000 Kilometer zurückgelegt, weit mehr als Marco Polo ein paar Jahrzehnte zuvor. In der SWR 2 Musikstunde begebe ich mich auf die Spuren des marokkanischen Berbers. Auf verschlungenen Routen entdecken wir die fesselnde Weltgeschichte des frühen 14. Jahrhunderts und eine unglaubliche Vielfalt von Klangkulturen auf drei Kontinenten: zwischen Marokko und der Krim, zwischen der Sahara und China, zwischen Andalusien, Samarkand und Sansibar. Das Rihla, Ibn Battutas genauso fantastischer wie scharfsinniger Reisebericht ist dabei immer im Gepäck.

Mo, 13.08. – Teil 1: Von Tanger nach Damaskus
Di, 14.08 – Teil 2: Von Mekka bis Sansibar
Mi, 15.08. – Teil 3: Von Anatolien bis Kabul
Do, 16.08. – Teil 4: Von Delhi nach Tawalisi
Fr, 17.08. – Teil 5: Vom Perlfluss bis Timbuktu

Auch der katalanische Musikreisende Jordi Savall hat sich mit Ibn Battuta beschäftigt – er wird den Auftakt zu meinen Sendungen bilden.

Jordi Savall über Ibn Battuta
Quelle: youtube

Erinnerungen an Ugandas Orpheus

So still ist er gegangen, dass es in der deutschen Musikpresse kaum eine Notiz gab. Auch ich habe erst letzte Woche von seinem Tod erfahren. Doch Geoffrey Oryema, der am 22.6. im bretonischen Lorient an Krebs gestorben ist, war einer der großen Wegweiser der afrikanischen Musik in der westlichen Welt. Ein Nachruf.

In Ugandas Hauptstadt Kampala absorbiert Geoffrey als Heranwachsender traditionelle Klänge, seine Mutter ist Direktorin der National Dance Company. Andererseits wird er mit westlicher Kultur während des Studiums auf der Theaterschule konfrontiert. Sein Vater fällt als Minister einem Mordkommando Idi Amins zum Opfer, woraufhin der Sohn mit 24 Jahren traumatisiert vor dem Terror-Regime in einem Kofferraum eines Autos zunächst nach Kenia flieht. Paris wird schließlich seine neue Heimat. In Europa experimentiert er zunächst mit seinen ugandischen Wurzeln, die er 1990 feingliedrig mit Harfe und Daumenklavier auf dem Debüt Exile im Teamwork mit Brian Eno verwebt.

Es ist gerade die Blütezeit der frühen „Weltmusik“, und Peter Gabriel entdeckt ihn für sein Label RealWorld, Daniel Lanois und Lokua Kanza sind auf den Nachfolgealben Beat The Border und Night To Night zu Gast. Hier schreitet Oryema teils in Ambient-Pop-Manier voran, langt aber auch rockig bombastisch zu. Von Swahili-Poesie wechselt er verstärkt zu auf Englisch gedichteten Zeilen. Weltweite Tourneen und Auftritte mit Rockgrößen wie Sting und Elton John etablieren Geoffrey Oryema über  die Sparte Weltmusik hinaus, auch den Amnesty International-Touren schließt er sich an.

Mit dem Jahr 2000 schenkt der Exil-Ugander der Welt mit Spirit sein Magnum Opus. In eine neue Form gegossen ist seine sensible Lyrik, mit druckvollen Arrangements  versehen, die perkussiv vorantreiben, eine funkige Legierung aus Mythischem und Poppigem schaffen. Europaweit kann sich niemand der Wirkung des Werkes entziehen. Die Crew der World Music Charts Europe traut am Ende des Jahres kaum ihren Augen. Niemals zuvor hatte es ein Künstler geschafft, mit derart großem Abstand in der Jahresauswertung auf Platz 1 zu thronen. Der würdevolle, von Rupert Hine produzierte Zyklus von Kompositionen, die von der ostafrikanischen Heimat genauso wie von Pariser und Londoner Urbanität künden, ist der Überflieger des jungen Milleniums.

Die Spannweite an Songs ist enorm: Sie umfasst „Rwot Obolo Wan“, dem Klagegesang über ein Dorfoberhaupt, das seine Untertanen getäuscht hat, der sich dann in einen machtvollen Pop-Refrain löst. (das Stück kann unten nachgehört werden). Sie enthält mit „Spirits of my father“ und „Omera John“ zwei spirituelle, hymnische Homages an den getöteten Vater und den verstorbenen Bruder. Und sie stellt in „Mara“ eine Verbindung von Daumenklavier mit Pop-Power vor. Diese Stringenz hat Oryema auf den Nachfolgealben nie mehr toppen können. 2004 kehrt der „Leonard Cohen Ugandas“ in die RealWorld-Studios zurück: Das neue Opus Words vereint Reggae-Flair, Folkpoeme und mythische Passagen, keltische Töne wechseln sich mit den ostafrikansichen Roots ab.

Geoffrey Oryema hat sich zeitlebens immer der Friedensarbeit in Uganda verschrieben, setzte sich für den Kampf gegen das Kindersoldatentum ein. Nach 40 Jahren besuchte er im Dezember 2016 zum ersten Mal wieder seine alte Heimat. Diese Rückkehr hat er mit bewegenden Worten beschrieben: „Als das Flugzeug auf dem Entebbe International Airport landete, war das für mich ein ‚Zwiebelmoment‘ im Leben. Denn wenn du eine Zwiebel schälst, dann musst du weinen. Doch dieses Mal waren es Tränen der Freude.“

© Stefan Franzen

Geoffrey Oryema: „Rwot Obwolo Wan“
Quelle: youtube

Frieden, Liebe und eine Goldgitarre

Foto: Chris Hakkens

Santana
Foire Aux Vins, Colmar (F)
03.08.2018

Ein simples Händeklatschen im Viervierteltakt: So beginnt eines der feurigsten Instrumentals der Rockgeschichte. Das im „Woodstock“-Konzertfilm verewigte „Soul Sacrifice“ hat Carlos Santana die Türen zur Welt geöffnet, und er hält es auch 49 Jahre später in Ehren: Denn genau mit diesem Händeklatschen kommt die neunköpfige Band nach einer psychedelischen Diashow mit Liebe- und Friedensmotiven bei der Foire Aux Vins Colmar auf die Bühne, taucht die 11 000 in der Arena in Nostalgiestimmung – allerdings nicht für epische zehn Minuten, sondern für zusammengedampfte zwei. In denen der 71-Jährige auf der goldüberzogenen Paul Reed Smith-Gitarre gleich alle seine Markenzeichen unterbringt: Immer noch treffen seine vibratolosen Töne wie glühende Pfeile, Kolibris gleich flattern die typischen Triller, die verzerrten Zieher über mehrere Saiten sind gequälte Schreie.

Carlos live in Colmar – das steht eigentlich unter guten Vorzeichen: Genau hier hat der Altmeister 1976 Teile seiner Platte „Moonflower“ mitgeschnitten. Freilich ist keiner der damaligen Musiker heute noch dabei. Die Position der Drummerin hat jetzt Gattin Cindy Blackman inne, die mit den Timbales von Karl Perazzo und den Congas von Paoli Mejías eine sehr kompakte perkussive Dreierkette bildet, wie sich im rituellen Afrorock von „Jingo“ zeigt. Mit Andy Vargas und Ray Greene verfügt Santana über zwei Sänger, die sich die Aspekte des Latinlovers und des Soulmans teilen, Greene packt zudem auch wiederholt die Posaune aus. In schwindelndem Übergang leitet das schiebende Bass-Riff von Benny Rietveld zu „A Love Supreme“ über, schon wird „Black Magic Woman“ serviert und „Oye Como Va“ nahtlos angeknüpft, garniert mit Live-Fotos und LP-Covern aus der frühen Laufbahn. Nach 25 Minuten hat man einen beachtlichen Teil der Siebzigerhits abgearbeitet, und längt ist klar: Santana zieht die Karte der durchorganisierten Karriere-Revue.

Die im Mittelteil zum Glück auch Räume zum Durchatmen lässt: Statt „Europa“ entscheidet er sich für seine andere große Ohne Worte-Ballade, das live selten gespielte „Samba Pa’Ti“. Er lockt das Thema zunächst ohne Plektron aus den Saiten, hält bei der Kadenz ganz lange, selbstversunken unter seiner Hutkrempe inne. Und wenig später gibt es einen wohltuend spontanen Moment: Keyboarder David Matthews wird vom Chef nach zwei Anfangsakkorden zurückgepfiffen, denn der hat tatsächlich Lust auf ein Exzerpt aus dem überragenden Werk „Caravanserai“. Es gipfelt im lyrisch-zärtlichen „Song Of The Wind“ mit glimmender Orgel, bauchiger Posaune und dem schönsten Gitarrensolo des Abends: ein bluesig-melodischer Fluss hinauf bis zum 24. Bund, ohne übertriebene Akrobatik, gezuckert mit einem „Frère Jacques“-Bonbon fürs französische Publikum.

Doch für den letzten, großen Akt wird wieder einige Gänge hochgeschaltet: Das begeistert in der Swamp Dogg-Nummer „Total Destruction Of Your Mind“, in der Ray Greene seine seelenvollen Qualitäten ausreizen kann und die Gitarre sich auch mal in funky „Wah Wah“-Wonne suhlt, Slap-Solo von Rietveld nachgeschaltet. Das ermüdet aber auch, als es in die „Supernatural“- und „Shaman“-Sektion geht, Santanas Alben des zweiten Frühlings. „Mona Lisa“, „Foo Foo“, „Corazón Espinado“: Die Sänger übernehmen in dieser Hit-Party das Animateurs-Zepter. Für „Maria Maria“ greift Santana kurz nach der Akustischen, sie wurde ihm so hingebastelt, dass er die Stromgitarre gar nicht abschnallen muss. Doch er tauscht er sie dann doch noch gegen eine himbeerrote um, die hat einen spitzeren Sound als das Goldstück, und er nutzt sie ausgiebig für Geräuschhaftes à la Hendrix.

Auf Hochtouren läuft jetzt die Medley-Maschine, nicht nur mit Eigenem: „Proud Mary“, “Satisfaction“, „Fever“ und – mit Gesangssolo des Rhythmusgitarristen Tommy Anthony – „Roxanne“: Man liefert en passant einen Schnelldurchgang durch die Pophistorie. Ehefrau Blackman bekommt auch noch ihr Solo, tanzt besessen auf den sechs Toms und gönnt der Bass-Drum keinen halben Takt Ruhe. Zu hohe Reizdichte das alles, zu wenig Raum für Imagination, und dann grüßen auf der Leinwand auch noch ein goldener Buddha und die Aufforderung: „Heal All With Your Light“. Knallig bunt wie sein von Afro-Masken gespicktes Shirt war Carlos Santanas zweistündige, selbstreferenzielle Show, aber auch steckengeblieben in einem endlosen Sommer der Liebe. Sich per Rückblick nochmals neu erfinden, das geht hingegen durchaus: Der fast gleichaltrige Robert Plant hatte es ein paar Tage zuvor in Lörrach vorgemacht.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 06.08.2018

Santana: „Song Of The Wind“
Quelle: youtube

Heldin des passiven Widerstands


Foto: Pierrick Guidou

Indra Rios-Moore
Reithalle, Wenkenpark Riehen, Festival-Stimmen
02.08.2018

„Ich werde König sein und du Königin – auch wenn nichts sie vertreiben wird, für einen Tag können wir sie schlagen“, heißt es in David Bowies „Heroes“. Als Indra Rios-Moore es am Ende ihres Konzerts in der Riehener Reithalle anstimmt, weiß das ergriffene Publikum bereits, dass da eine solche Heldin vor ihnen auf der Bühne steht. Und wird Zeuge der kompletten Verwandlung eines Songs: von einem Kultlied der Jugend zu einer zeitlosen Hymne des Widerstands, voller Strahlkraft und Löwenherz.

„Ich werde der Kaltblütigkeit und dem Klima der Furcht in Amerika Widerstand leisten durch Liebe. Das ist mein Protest“, sagt Indra Rios-Moore im Interview. Und sie hat mit „Carry My Heart“ in diesem Geiste ein Album veröffentlicht, das die „quiet strength“ der afro-amerikanischen Spiritualität an die Stelle der „angry white men“ setzt. Nicht in der herkömmlichen, schwarzen Arbeitskleidung der Jazzsängerinnen tritt sie auf, ganz in Weiß singt die New Yorkerin, und genauso überwindet auch ihre Stimme die Genres. Ihr klares helles Timbre scheint oft Meilen über der Band zu stehen, hat die souveräne Phrasierung aus dem Jazz, das endlose, sehnende Ziehen der Töne aus dem Soul – und plötzlich funkeln da auch brillante Spitzentöne mit grandiosem Vibrato: Erbe ihrer klassischen Ausbildung. Immer wieder zeigt sie gen Himmel, rundet die Verse mit beiden Händen, strahlt meist übers ganze Gesicht: Ihre Spiritualität ist geradezu körperlich.

Für ihre „ruhige Kraft“ hat die Tochter einer Puertoricanerin und eines Amerikaners das ideale Begleittrio gefunden, ein einfühlsam-nordisches: Knut Finsrud malt förmlich an den Drums, mit geschlossenen Augen und offenem Mund, spielt oft mit Besen oder der bloßen Hand, auch mit leeren Wasserflaschen, hängt die Felle mal mit Tüchern ab. Basskollege Thomas Sejthen ist ein kontemplativer Handwerker, der swingende Ostinati und trockene Soli liefert. Und mit Ehemann Benjamin Trærup verbindet Rios-Moore auch auf der Bühne viel: Sein erzählend-melodischer Atem, sein schmauchend-sinnliches Spiel geht oft in enge Zwiegespräche mit den Vocals. Da wird das Tenorhorn auch mal zum zweiten Sänger, etwa in der Eigenkomposition „Give It Your Best“, das Rios-Moore zur Ermutigung gegen Depressionen geschrieben hat.

Die Mutmacher, sie sind das Kernstück ihres Repertoires: Steely Dans „Any Major Dude“ münzt sie zum Trotz nach dem letzten Wahltag um: Das Monster im Text ist nicht Trump, die Krankheit steckt in jedem von uns. Curtis Mayfields „Keep On Pushing“ verströmt im federleicht tänzelnden Dreiertakt die Gewissheit, dass alle Hindernisse allein durch eine stolze Geisteshaltung überwunden werden können. Und dann ist da „Carry My Heart“, eine Widmung an flüchtende Mütter, die ihre Kinder über viele Landesgrenzen hinweg tragen: Die Band hält sich hier ganz zurück, um den sehnsuchtsvollen Blue Notes der Stimme maximale Entfaltung zu geben.

Doch Indra Rios-Moore ist keine neue Joan Baez oder Tracy Chapman, entgrenzt das Image der Protest-Ikone: Sie glänzt ebenso mit feinmechanischem Swing im Jazzstandard „Like Someone In Love“, verwandelt sich in „Love Walked In“ von George Gershwin in ein Kornett mit Patina, und sie knüpft an den Gospel des „Little Black Train“ lautmalerische Zuggeräusche. Die romantische Ader ihres Lieblingssängers Johnny Hartman verschmilzt sie gar mit einem unwiderstehlichen Latin-Touch. Einmal noch geht es aus dem freudevollen Strahlen tief in den Schmerz: Das Spiritual „Trouble“ gestalten die vier Musiker mit Liegetönen im Bass zu einem erschütternden Mantra der gequälten Sklaven aus, und hier bäumt sich das Sax einmal zu einem Schrei auf. Riehen erlebte einen großen, seelenvollen Moment nicht nur innerhalb der diesjährigen „Stimmen“ – sondern in der ganzen 25-jährigen Geschichte des Festivals.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, 04.08.2018

Indra Rios-Moore: „Heroes“
Quelle: youtube