Holler love across the nation XI: Beseeltes Brausen

Es ist ein schmuckloser Raum für einen Gottesdienst. Ursprünglich war die New Temple Missionary Baptist Church ein Kino. Sie liegt mitten in Watts, DEM Problemviertel von Los Angeles, wenige Jahre zuvor Zentrum verheerender Rassenunruhen. Doch als heute vor 50 Jahren, am Abend des 13. Januar 1972, eine Sängerin an den Altar tritt, geschieht an diesem unscheinbaren Ort Musikhistorie.

Die Sängerin heißt Aretha Franklin. In den letzten fünf Jahren hat sie sich bei Atlantic Records von einer erfolglosen Jazz- und Popsängerin zur weltweit gefeierten Queen of Soul gemausert, mit acht Alben und einem Dutzend Nummer Eins-Hits. Sie ist jetzt die musikalische Ikone der Bürgerrechtsbewegung und der schwarzen Frauen. Doch ihr Leben war in diesen Jahren auch eine Achterbahnfahrt: Eine toxische Ehe, der Mord an ihrem Freund Martin Luther King, Alkoholprobleme und ein nicht verarbeiteter Missbrauch während der Kindheit lasten auf ihrer Seele. Sie spürt, dass es der richtige Zeitpunkt ist, zu ihren Wurzeln im Gospel zurückzukehren.

Als Sohn des Baptistenpredigers C.L. Franklin ist Gospel das Fundament von Aretha Franklins Musik, und die Stimmen der großen Mahalia Jackson und Clara Ward haben sie seit der Kindheit begleitet. Aretha Franklin kehrt an diesem Tag vor 50 Jahren nicht in die Kirche zurück. Sie hat sie nie verlassen, wie ihr Vater während einer Rede sagen wird. Trotzdem: Ein hartes Stück Arbeit war es für Aretha, ihren Produzenten Jerry Wexler zu diesem Album zu überreden. Doch nun steht ihr ein Dreamteam zur Seite: der Southern California Choir unter der Leitung ihres engen Vertrauten James Cleveland, und ihre neue weiß Soul- und Funk-Band um den Schlagzeuger Bernard Purdie. Aus dieser Mischung entstehen überwältigende Arrangements, die ganz nebenbei auch den Gospel revolutionieren.

Wir geben hier kein Konzert, das sind Gottesdienste, sagt Reverend James Cleveland zu den Anwesenden, unter die sich auch neugierig Mick Jagger und Charlie Watts von den Rolling Stones gemischt haben. Und was dann passiert, kann man tatsächlich als göttliches Brausen beschreiben: Aretha Franklin und ihre Musiker kombinieren an den zwei Abenden die Baptistenhymnen im Dreiertakt mit den stürmischen Erweckungsgesängen der Pfingstkirche. Wir werden hautnah Zeuge, wie in „Mary Don‘t You Weep“ Lazarus von den Toten aufersteht. Sogar weltliche Popsongs wie Carol Kings „You’ve Got A Friend“ oder „You’ll Never Walk Alone“ heben Aretha und ihre Musiker in die heilige Sphäre.

Das größte Faszinosum an diesen beiden Abenden ist aber Arethas Stimme, immer wieder angefeuert von den Chormitgliedern und der Gemeinde. Es ist schier unbegreiflich, welches Feuer sie in ihre Improvisationen legt und wie sie diese Spitzentöne erreicht, die durch Mark und Bein gehen. All das gipfelt im Titelsong der später erscheinenden Doppel-LP, den wohl niemand ohne seelische Erschütterung hören kann. Amazing Grace wird nicht nur Aretha Franklins erfolgreichstes Album, es ist bis heute auch die meistverkaufte Gospelaufnahme überhaupt. Erst nach Arethas Tod darf der von Sydney Pollack gedrehte Film erscheinen, doch die fast stümperhaft gefilmte Dokumentation kann die Wucht der Töne nicht übertreffen. Das jüngste Tribut an Amazing Grace kommt von Jennifer Hudson: Sehr bewegend verkörpert sie die ergriffene Aretha am Altar in der finalen Szene von „Respect“, der Lebensgeschichte Franklins, derzeit noch in den Kinos.

Aretha Franklin: „Amazing Grace“
Quelle: youtube

Gott, Schweiß und Tränen

Gospel war der Ankerplatz ihrer Seele. Dank ihres Vaters, Reverend C.L.Franklin, und ihrer musikalischen „Tanten“, den berühmten Sängerinnen Clara Ward und Mahalia Jackson, erhielt die heute vor einem Jahr verstorbene Queen of Soul, Aretha Franklin, von Geburt an den Nährstoff der Baptistenmusik, auf den sie immer wieder zurückgriff. Auf dem Zenit ihres Soul-Erfolgs nahm sie im Januar 1972 eine Doppel-LP auf, die zur erfolgreichsten Gospelplatte aller Zeiten wurde.

Die Vorzeichen in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles standen günstig, schaut man sich die Mitwirkenden an: Reverend James Cleveland, ein Freund der Familie, leitete die Zeremonien mit warmherzigem, humorvollem Kommando. Mit ihm hatte Aretha bis zu fünfstimmige Chorsätze ausgearbeitet, sie vereinen die swingenden Dreiertakte der Baptisten mit den vorwärtspreschenden, feurigen Anrufungen der Pfingstkirche. Zu einem einzigen beseelten Körper schweißte der quirlige Dirigent Alexander Hamilton die 28 Stimmen des Southern California Community Choirs zusammen. Und die Band schlägt mit Drummer Bernard Purdie und Gitarrist Cornell Dupree die Brücke zum Soul und Funk. Wäre da nicht dieses eine große Missgeschick unterlaufen: Regisseur Sydney Pollack sollte den Gospelgipfel auf Filmrolle bannen, doch das Material wurde unbrauchbar, da Bild- und Tonspur nicht synchron liefen. Mit digitalen Mitteln ließ sich das später beheben, Franklin aber, unzufrieden mit dem Ergebnis, verweigerte die Veröffentlichung. Erst nach ihrem Tod gab die Familie den Film frei – und nach einer 47-jährigen Odyssee kann die Welt dieses Dokument nun endlich auch auf DVD zu Gesicht bekommen. Doch braucht man bei einem so innerlichen, religiösen Ereignis die Bilder?

Sie öffnen zumindest eine weitere Dimension, denn die Spiritualität des afro-amerikanischen Gospels ist auch eine sehr physische und visuelle. Das Hin- und Herwiegen, das Zittern und Klatschen des Publikums. Das Aufspringen der Chormitglieder bei eruptiven Momenten. Und im Zentrum natürlich: Die unendlich vielen Nuancen von Verzückung und Entrückung in Franklins schweißüberströmtem Gesicht, wenn sie mit geschlossenen Augen am Predigerpult singt, ihre Erschöpfung, ihre Seligkeit. Zu sehen, wie Stimme und Körper in Einklang von einem ekstatischen Strahl getroffen werden, fesselt auch alle, die nichts mit Gospel am Hut haben.

Für „Amazing Grace“ schrieb der Heilige Geist die Dramaturgie, nicht Sydney Pollack. Denn der nahm offenbar nicht seine besten Leute mit in die Kirche, die Bilder sind oft verwackelt, die Kameramänner suchen die Schärfe, zeigen fast nie die Band, sind selten im entscheidenden Moment zur richtigen Stelle. Oft sieht man den Choir und Dirigent Hamilton: Seiner Begeisterung zuzuschauen, dürfte für jeden Chorleiter, egal welchen Genres, Genuss und Inspiration sein. Berührend wird „Amazing Grace“ auch durch Momente abseits der Musik, bei denen auch ein Quäntchen Schauspielerei dabei ist: Etwa als Arethas Vater zum Pult tritt und ihr bei einem Solo den Schweiß von der Stirn wischt. Als Cleveland beim Titelstück ergriffen auf eine Seitenbank zusteuert und dort anfängt, wie ein kleines Kind zu weinen. Und nicht zuletzt ist es auch ein Stück Zeitgeschichte: Wenn die Kamera durchs Publikum dieser schmucklosen Kirche, ein ehemaliges Kino, in L.A.s „Problemviertel“ Watts schweift, zeigt sie die schwarze Gemeinde in einer Zeit heftiger Rassenunruhen. Kirchgänger in feinem Putz treffen auf junge Civil Rights-Bewegte, ein paar weiße Hippies mischen sich darunter, Mick Jagger und Charlie Watts von den Rolling Stones bestaunen als Hinterbänkler, wie der Spirit auf den Raum herniedergeht.

Unbegreiflich, dass es „Amazing Grace“ über die Berlinale hinaus nicht in die deutschen Kinos geschafft hat, selbst bei der jetzt erschienenen DVD muss man auf einen Frankreich-Import zurückgreifen. Doch es gibt wohl kaum einen anderen Film der Popgeschichte, in dem Musik und Mysterium so miterlebbar ineinandergreifen.

© Stefan Franzen (erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 16.08.2019)

Aretha Franklin: „Amazing Grace“ (Trailer)
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Bittere Erde, himmlische Glut – Aretha ist gegangen

Foto: Pete Souza

Ihrer Version des Songs „This Bitter Earth“ entringt sich ihrer Kehle eines dieser berühmten „Uuuhs“, die durch Mark und Bein gehen. „Wenn mein Leben wie der Staub ist, der den Glanz der Rose verdeckt, wozu bin ich dann gut? Das weiß nur der Himmel“, heißt es zuvor im Text. Von dieser Spannung zwischen irdischer Unzulänglichkeit und göttlicher Sphäre, zwischen dem Käfig des Körpers und der Schwerelosigkeit der Seele nährte sich zeitlebens die Musik von Aretha Franklin. Die „Queen des Soul“ ist am Donnerstag im Alter von 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit gestorben.

In Memphis am 25. März 1942 geboren, wächst Franklin in Detroit auf. Natürlicher musikalischer Nährboden ist der Gospel ihres Vaters, des Baptistenpredigers C. L. Franklin. In seiner New Bethel Baptist Church erlebt sie, wie die Sängerin Clara Ward vor lauter Ekstase ihren Hut auf den Boden schmettert. Ein Schlüsselerlebnis: Von nun an will auch sie singen. Erbarmungsloser Lehrer ist der Vater selbst, mit zwölf steht sie vor der Gemeinde, macht zwei Jahre später dort auch erste Aufnahmen. In ihrer Stimme sind da schon, wie es einer ihrer Kollegen nannte, alle „Schnörkel, Blüten und Rüschen“, die sich in Noten nicht fixieren lassen und die für ihre weitere Karriere so wesentlich werden.

Diese Stimme, sie drängt über den Gospel hinaus, wie sich 1960 zeigt: Franklin, mit 18 schon zweifache Mutter, wird in New York von Columbia Records unter Vertrag genommen, spielt mit dem Jazzpianisten Ray Bryant ihr erstes Album ein, bluesgetränkt, auf den Spuren ihres großen Idols Dinah Washington. Ihre Zeit bei Columbia wird auch heute noch unterschätzt: Bis 1966 veröffentlicht sie dort fast ein Dutzend Alben zwischen Blues, Jazz, Folksong und Easy Listening, man stellt ihr ein kitschiges Streichorchester zur Seite, versucht vergeblich, sie als Popsängerin in die Charts zu hieven – und doch formt ihre vokale Strahlkraft Standards wie „What A Difference A Day Makes“ zu Versionen für die Ewigkeit.

Franklins Columbia-Ära endet mit einem schmissigen Stück namens „Soulville“ – und in dieser Stadt, in der Ray Charles, Sam Cooke und James Brown schon residieren, baut Aretha Franklin nun ihren Palast. Verantwortlich dafür ist der Produzent Jerry Wexler, der sie zu Atlantic Records holt. Er erkennt das Potenzial, dieses Timbre mit dem rauen Sound des Südens zu paaren und nimmt sie 1967 mit in ein Studio in Muscle Shoals, Alabama, wo sie mit den mehrheitlich weißen Begleitmusikern von Wilson Pickett ihr erstes wirkliches Soulstück aufnimmt: „I Never Loved A Man The Way That I Loved You“.

Aretha Franklin: „I Never Loved A Man The Way I Love You“
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Es wird zur Blaupause für die weiteren Songs des gleichnamigen Atlantic-Debüts. Die Adaption von Otis Reddings „Respect“ macht sie über Nacht zur Ikone der Bürgerrechts- und Frauenbewegung. Der Respekt, er zielt auf die Anliegen der Schwarzen und ihres Führers Martin Luther King, der zu einem engen Freund wird. Er zielt aber ebenso stark auf Emanzipation. Die fordernde Weiblichkeit drückt sie in ekstatischen Soul-Hymnen wie „Dr. Feelgood“ mit donnerndem Gospelpiano und unverblümter Körperlichkeit aus. Auch Sex ist bei ihr immer göttliches Brausen.

Bis in die späten Siebziger veröffentlicht sie mit Wexler, einmal auch mit Quincy Jones und Curtis Mayfield am Pult, LPs am Fließband für Atlantic. In Hits wie „Chain Of Fools“, „Think“ oder „Spirit In The Dark“ lädt sie den Soul mit rauem, eruptivem Feuer auf, ein Gegenentwurf zum zuckersüßen Motown-Pop ihrer einstigen Detroiter Nachbarskinder Smokey Robinson und Diana Ross. Wie dieser Soul auch Europa außer Rand und Band bringt, ist dokumentiert in einem Konzertmitschnitt von 1968 aus Amsterdam, wie er sogar die weiße Hippie-Szene erobert, lässt sich auf der „Live At Fillmore West“-LP nachhören. Doch Franklin liefert auch „Sweet Soul Music“, wandelt Balladenmelancholie zu triumphalem Glanz wie in „You Make Me Feel“ oder „Angel“ aus der Feder ihrer Schwester Carolyn.

Aretha Franklin: „Angel“
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Immer, wenn es ihr selbst schlecht geht, wendet sich Franklin dem Gospel zu, etwa auf ihrer Doppel-LP „Amazing Grace“ von 1972. Der Mitschnitt aus zwei Gottesdiensten ist eine ungeheure Manifestation spiritueller Glut. Ob gläubig oder nicht: Man kann die letzten Minuten des Titelstücks nicht ohne seelische Erschütterung hören.

Nach einem Imagewechsel 1980 gelingen der Soul Queen auf Arista Records weitere Erfolge, sie gastiert im „Blues Brothers“-Film (1998 auch in Teil 2), und Pophörer entdecken sie bis in die Neunziger hinein neu, durch Duette mit George Michael, Elton John und Annie Lennox. Klatsch um ihre Gewichtszunahme und das Geheimnis um den Vater ihres ersten Sohnes begleiten die späteren Jahre. Noch einmal blitzt Franklins Rolle als Ikone der Bürgerrechtler auf, als sie 2009 bei der Amtseinführung Obamas vor zwei Millionen Menschen singt. Umso mehr tut es weh, dass sie in einer Ära geht, in der all die Errungenschaften Amerikas verlöschen. 2010 wird sie vom Rolling Stone zur besten Sängerin aller Zeiten gekürt. Dann erkrankt sie an Krebs, steht wieder auf, scheint sogar mit alter Kraft zu singen, tourt bis 2017 mit ihren alten Hits.

„Während eine Stimme in mir schreit, bin ich mir sicher, dass jemand meinen Ruf erhört, und diese bittere Erde, sie wird schließlich nicht mehr so bitter sein“, singt sie, während sie sich zu einem grandiosen Crescendo steigert, mit diesem von keiner Kollegin je erreichten Ziehen und Zerren in der Stimme. Wer ihr zuhört, kann alles über das Irdische lernen – und vieles über Gott. Größeres lässt sich mit Musik nicht sagen. Die Queen ist gegangen, ihr Thron bleibt leer, vermutlich für immer. Heute gibt es keinen Trost.

© Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung vom 17.08.2018

Aretha Franklin: „This Bitter Earth“
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Schatzkiste #19: Chicagos Gospelbrunnen

martha bass - I'm so gratefulMartha Bass 
I’m So Grateful
(Checker, 1966)

Ihre Tochter Fontella ist in der Soulwelt erheblich bekannter. Doch der eher unbekannten Mama muss unter den Gospelsängerinnen ein ebenbürtiger Platz neben Clara Ward (aus deren Chor Martha kam) und Mahalia Jackson eingeräumt werden. Und auch wenn meines Wissens Aretha sie nie als Vorbild genannt hat, höre ich doch etliche Phrasierungen raus, die ganz ähnlich sind. Beseeltes Dynamit, ein feuriger Antwortchor und grandiose Verschlingung von Orgel und Piano.

Martha Bass: „I’m Getting Nearer To My Home“
Quelle: youtube