Side tracks #30: Die Neunuhr-Tram zum Himmel

Marianne von Werefkin: „Blauer Funken“ (1918)

Mani Matter
„Ds Nünitram“
(aus: I Han Es Zündhölzli Azündt, Zytglogge 1973)

Heute vor 50 Jahren kam der Berner Liedermacher Mani Matter mit gerade mal 36 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Es überrascht mich immer wieder aufs Neue, wie ein Mann, der das „Liedlischriibe“ nur als eine Nebenbeschäftigung ansah und eigentlich juristischer Angestellter der Stadt Bern war, bis heute eine so gewaltige Nachwirkung auf die Schweizer Musikszene hat. Songwriter, Rockmusiker und sogar Rapper verehren ihn, covern bis heute seine kurzen, prägnanten, sprachspielerischen und hintergründigen Berner Chansons. Ich empfehle zum Beispiel diese wunderbare, afrikanisch angetupfte Coverversion von Bonaparte mit Gastsängerin Sophie Hunger.

Matter hat immer mal wieder das Thema Schienenfahrzeuge gestreift, was auch nicht verwundert, denn er war Eisenbahner-Enkel. Das konnte sich dann in feinen Beobachtungen im Wartesaal des Bahnhofs niederschlagen, oder in Betrachtungen über das Sitzen gegen die Fahrtrichtung. Am schönsten ist allerdings seine mit surrealistischen Motiven gespickte Miniatur „Ds Nünitram“, in der sich die abendliche Straßenbahn auf einen Ausflug in himmlische Sphären begibt.

Mani Matter: „Ds Nünitram“
Quelle: youtube

Die Bestimmung heißt Afrika

Die Malierin Fatoumata Diawara kündigt für 2023 ein neues Album an, das unter einem besonderen Vorzeichen stehen wird. Diawara arbeitet, wie viele westafrikanische Künstler vor ihr, mit dem Afrika-verrückten britischen Musiker Damon Albarn (Gorillaz/Blur). Jetzt ist die erste Single aus dem Album erschienen, sie nennt sich „Nsera“. Das Bambara-Wort lässt sich mit „Ziel oder „Bestimmung“ übertragen.

Im Text wendet sie sich an ihren Kontinent, der erkennen möge, wie viel er der Welt zu geben hat. Diawaras Sound ist durch das Mitwirken von Alban, der im Rahmen seines Africa Express seit 2006 mit Namen von Salif Keita bis Fela Kuti kollaborierte, deutlich poppiger geworden. Sie selbst nennt diesen Sound „Londonko“ – der Name eines imaginären Kontinents, der London und Bamako zusammenführt.

In den symbolisch stark aufgeladenen Bildern des Videos (Regie: Gregory Ohrel) zu „Nsera“ ist auch eine unübersehbare Kritik an der gerade gestarteten Fußballweltmeisterschaft zu sehen: Während sie davon singt, dass Afrika ihr als Reisender Gastfreundlichkeit entgegenbringt, ist Diawara mit einem Albino zu sehen, eine Gruppe, die in Mali lange unter Diskriminierung gelitten hat. Dieser Albino hält einen blutüberströmten Turnierball in der Hand. Gerade hat Diawara im Berliner Konzerthaus gastiert, am 20. Januar wird sie im Konzerthaus Wien und am 21. Januar in der Philharmonie Köln zu erleben sein.

Fatoumata Diawara feat. Damon Albarn: „Nsera“
Quelle: youtube

Strandspaziergang der Hoffnung

© Herbert Franzen

Dieses Bild zeigt das Fort Santa Maria, gelegen an der südöstlichen Spitze der Allerheiligenbucht im Stadtteil Barra der bahianischen Metropole Salvador da Bahia. Gemalt hat es mein Vater nach einer Fotovorlage. Fast genau diesen Blick hatte ich vor 20 Jahren, im September 2002, als ich das erste Mal nach Brasilien aufgebrochen war. Ich erinnere mich noch gut, wie damals die VW-Busse mit  Megaphonen an der Strandpromenade entlang fuhren, um Wahlwerbung für Lula zu machen. Nach einer Schreckensherrschaft eines irren, menschenverachtenden Machthabers kann Brasilien sich nun hoffentlich wieder von den gesellschaftlichen und ökologischen Wunden – wieder unter Führung von Lula – erholen. Doch die Vorzeichen sind nicht mehr so günstig wie noch vor zwei Dekaden.

Hoffnung in Lula setzt auch der Songwriter Lucas Santtana, der aus Bahia stammt und im Januar sein neues Werk O Paraíso veröffentlichen wird. Über Brasiliens Zukunft habe ich mit ihm vor kurzem sprechen können, außerdem natürlich über seinen neuen Songzyklus, der hinter- und tiefgründig von den Chancen auf ein ausgewogenes Leben der Menschheit spricht. Das Paradies ist auf diesem Planeten schon da, so Santtana, wir müssen uns nur angemessen verhalten. Und dann können wir auch auf der Erde bleiben. „Vamos Ficar Na Terra“, so seine optimistische Vorabauskopplung aus dem Album, die er in akustischer Version spielt, während er an der Strandpromenade entlang geht, die sich an das Bild rechts oben anschließen würde. Der abendliche Blick fällt im Video auf das Fort Santa Maria von der anderen Seite. Mehr aus dem Gespräch mit Santtana dann Anfang 2023.

Lucas Santtana: „Vamos Ficar Na Terra“
Quelle: youtube

Farbenpracht zwischen Hippietum und Protest-Pop


Sie war eine der größten Sängerinnen Brasiliens und begründete in den späten 1960ern neben Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia die moderne brasilianische Popmusik: Im Alter von 77 Jahren ist Gal Costa am Mittwochmorgen in São Paulo gestorben.

Maria da Graça Costa Penna Burgos stammte aus Bahia, wie Gil und Caetano, mit deren Songs sie Mitte der Sechziger ihre Karriere begann, „Eu Vim Da Bahia“ und „Baby“ waren ihr ersten Hits. 1967 tat sie sich mit Caetano Veloso für das Album „Domingo“ zusammen. Kurz darauf wurde mit ihrer Beteiligung Tropicália, ein Meilenstein der Tropicalismo-Bewegung veröffentlicht, die brasilianische Wurzeln mit internationalem Rockflair und psychedelischen Tönen kollagierte und sich auch als freigeistiger Protest gegen die Militärdiktatur verstand. In den 1970ern trug Gal Costa mit ihrem Image zwischen Hippiemädchen und Sexsymbol auf vielen Soloalben maßgeblich zur Farbenpracht der Popmusik ihres Landes bei. Wichtige Werke aus dieser Zeit waren India und Cantar, bekannte Stücke „Que Pena“, „Meu Nome É Gal“, „Perola Negra“ und „Barato Total“.

Sie arbeitete mit etlichen Stars der brasilianischen Szene wie Jorge Ben, Luiz Melodia oder Erasmo Carlos. Ein Highlight ihrer Karriere wurde 1976 das Album Doces Bárbaros, auf dem sie zusammen mit ihren drei bahianischen Mitstreitern Caetano, Gil und Bethânia Funk und Soul mit afro-brasilianischen Rhythmen mischte. Ihre Stimme, geprägt von einem meistens sanften, flexiblen Timbre, war auch zu rauen Ausbrüchen fähig und stellte ein effektvolles Gegengewicht zur eher harten, maskulinen Stimme Maria Bethânias dar. Costas Bühnenpräsenz kulminierte 1979 in der Show „Gal Tropical“.

Gal Costa hat den musikalischen Wandel der folgenden Jahrzehnte immer mitgetragen, fühlte sich im Karnevals-Samba, Disco-Soul und im Synthie-Pop der 1980er zuhause. Noch im September war sie mit einer Best Of-Show auf großen Festivals in Brasilien unterwegs und wollte im November auch wieder auf europäischen Bühnen gastieren. Wegen eines Knotens in der Nase musste sie sich jedoch in ärztliche Behandlung begeben. Einmal durfte ich sie – zusammen mit meinem Kumpel HP, ein mindestens ebenso Brasil-Verrückter wie ich – live erleben: beim damals schon nach Stuttgart ausgelagerten Viva Afro Brasil-Festival am 15.7.2006.

© Stefan Franzen

Gal Costa: „Não Identificado“
Quelle: youtube

Zwei Wüsten wohnen in ihrer Brust

Vieux Farka Touré & Khruangbin
Ali
(Dead Oceans/Cargo)

Wenn sich eine Ikone aus Mali zusammentut mit einem Trio aus Texas, ahnt man, dass die Wüste eine gemeinsame musikalische Verständigungsbasis liefern kann. Beim Sahel-Rocker Vieux Farka Touré und dem psychedelischen Gitarrendub-Trio Khruangbin aus Houston ist das dann auch tatsächlich der Fall. Um den Songs der malischen Desert Blues-Ikone Ali Farka Touré, Vieux‘ Vater, Tribut zu zollen, ist dieses Teamwork die ideale Konstellation: Die manchmal spröden Originale werden fülliger, bekommen einen unwiderstehlichen Groove. Was bei Ali eher noch meditativ-versponnen war, wie zum Beispiel das hier von Orgel-Stupsern verzierte „Lobbo“, wird jetzt tanzbar.

Reizvoll auch, wie die ruppige Gitarre von Vieux sich mit den sanft glimmenden Riffs von Khruangbin-Saitenmeister Marc Speer zu einem ungleichen Paar verzahnt („Diarabi“). Die verzwirbelten Fünfton-Schleifen tummeln sich zwar oft in träumerischen Hallräumen, bekommen dann aber vom trockenen Drumkit her plötzlich auch mal einen knackigen Impuls: Das kann dann, wie in „Tongo Barra“, regelrecht funky werden. Timbuktu trifft Texas unter einem nächtlichen Funkelfirmament.

© Stefan Franzen

Vieux Farka Touré & Khruangbin: „Diarabi“
Quelle: youtube