Listenreich III: 23 Konzerte für 2023

Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks, Gewandhaus Leipzig (22.5.)
WINTER
– Witch’n’Monk (Freiburg.Phil.Club), Jazzhaus Freiburg  17.1.
– Philharmonisches Orchester Freiburg, Peter Carp, André de Ridder, Inga Schäfer u.a.: Nico Muhly „Marnie“, Theater Freiburg  19.1.
– Holst Sinfonietta, Steve Reich „Desert Music“, E-Werk Freiburg  28.1.
– Philharmonisches Orchester Freiburg, André de Ridder, Richard Strauss: „Eine Alpensinfonie“, Konzerthaus Freiburg  14.2.
– Lady Blackbird, Mascotte Zürich  21.2.
Lady Blackbird, Mascotte Zürich (21.2.)
– Masaa, Reithalle Offenburg  11.3.
– Golnar Shahyar, Theater Basel  20.3.
FRÜHLING
– Sílvia Pérez Cruz, Teatro Municipal Girona  21.4.
Sílvia Pérez Cruz, Teatro Municipal Girona (21.4.)
– Niels Frevert, Waldsee Freiburg  11.5.
– City of Birmingham Symphony Orchestra, Roberto Treviño: Gustav Mahler – Sinfonie Nr.10, Gewandhaus Leipzig  21.5.
– BR-Symphonieorchester, Daniel Harding:  Gustav Mahler – Sinfonie Nr.7, Gewandhaus Leipzig  22.5.
– Budapest Festival Orchestra, Iván Fisher:  Gustav Mahler – Sinfonie Nr.9, Gewandhaus Leipzig  23.5.
– Kayhan Kalhor, Konzerthaus Freiburg  3.6.
SOMMER
– Derya Yildirim, Kommunales Kino Freiburg  14.7.
– ADG7 & Sahra Halgan, Rosenfelspark Lörrach  26.7.
– Marcia Griffiths, African Music Festival Emmendingen  5.8.
– Fergus McCreadie Trio, Forum Merzhausen  21.9.
Caetano Veloso, Elbphilharmonie Hamburg (4.10.) © Daniel Dittus
HERBST
– Caetano Veloso, Elbphilharmonie Hamburg  4.10.
– Joyce Moreno & Louis Matute, Moods Zürich  15.10.
Joyce Moreno & Louis Matute Quintet, Moods Zürich (15.10.)
– Misagh Joolaee & Behnam Samani, Schloss Ebnet  3.11.
– Bill Frisell Trio, Jazzdor Strasbourg  10.11.
Bill Frisell Trio, Jazzdor Strasbourg (10.11.)
– Philharmonisches Orchester Freiburg, Anna Rakitina: Sergej Rachmaninoff – Sinfonie Nr.2 u.a.  12.12.
– SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis: Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 10 u.a.  15.12.

Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023

 

R.I.P. João Donato


Foto: Thiago Piccoli

In den Morgenstunden des 17. Juli ist der brasilianische Musiker João Donato im Alter von 88 Jahren gestorben. Als Pianist, Akkordeonist, Arrangeur und Komponist hat Donato eine Karriere von sage und schreibe 74 Jahren absolviert, dabei hat er Jazz, Samba, Funk und das ganze Universum der Latin-Rhythmen höchst kreativ miteinander vereint. 1934 im Bundesstaat Acre geboren, fällt der Beginn seiner Karriere noch in die Zeit vor der Bossa Nova. Zunächst lernt er Akkordeon, spielt nach dem Umzug nach Rio in Jam-Sessions, begeistert sich für den Jazz der späten Vierziger. Nachdem er aufs Piano umgestiegen ist, formiert er ab 1953 eine Reihe von Bands und spielt in São Paulo seine erste LP namens Chá Dançante ein, die Jobim produziert. Ihm gibt er mit seinem synkopierten Piano-Stil wichtige Impulse für die Bossa Nova mit auf den Weg.

Während eines mehrjährigen USA-Aufenthalts spielt er mit Cal Tjader, Tito Puente und Mongo Santamaria, und mit dem Bossa-Gitarristen João Gilberto tourt er in Europa. Die erfolgreichsten Platten nimmt er in den Staaten in den Siebzigern auf, A Bad Donato (1970) und Quem É Quem (1973) unter ihnen. Donato arbeitete im Laufe der weiteren Jahrzehnte in Brasilien und den USA mit unzähligen Musikern, unter ihnen Dorival Caymmi, Joyce Moreno, Eumir Deodato, Stan Kenton, Herbie Mann und Wes Montgomery. Für Gilberto Gil schrieb er „A Paz“, für Caetano Veloso das unwiderstehliche, einen Frosch karikierende Stück „A Rã“. Die Texte für seine Kompositionen steuerte ihm meist sein Bruder Lysias Ênio bei. Als Arrangeur betätigte er sich für Gal Costa und Martinho Da Vila. Zu Donatos letzten Veröffentlichungen zählt eine Einspielung in der Reihe Jazz Is Dead von Adrian Younge.

© Stefan Franzen

João Donato: „Bambu“
Quelle: youtube

Farbenpracht zwischen Hippietum und Protest-Pop


Sie war eine der größten Sängerinnen Brasiliens und begründete in den späten 1960ern neben Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia die moderne brasilianische Popmusik: Im Alter von 77 Jahren ist Gal Costa am Mittwochmorgen in São Paulo gestorben.

Maria da Graça Costa Penna Burgos stammte aus Bahia, wie Gil und Caetano, mit deren Songs sie Mitte der Sechziger ihre Karriere begann, „Eu Vim Da Bahia“ und „Baby“ waren ihr ersten Hits. 1967 tat sie sich mit Caetano Veloso für das Album „Domingo“ zusammen. Kurz darauf wurde mit ihrer Beteiligung Tropicália, ein Meilenstein der Tropicalismo-Bewegung veröffentlicht, die brasilianische Wurzeln mit internationalem Rockflair und psychedelischen Tönen kollagierte und sich auch als freigeistiger Protest gegen die Militärdiktatur verstand. In den 1970ern trug Gal Costa mit ihrem Image zwischen Hippiemädchen und Sexsymbol auf vielen Soloalben maßgeblich zur Farbenpracht der Popmusik ihres Landes bei. Wichtige Werke aus dieser Zeit waren India und Cantar, bekannte Stücke „Que Pena“, „Meu Nome É Gal“, „Perola Negra“ und „Barato Total“.

Sie arbeitete mit etlichen Stars der brasilianischen Szene wie Jorge Ben, Luiz Melodia oder Erasmo Carlos. Ein Highlight ihrer Karriere wurde 1976 das Album Doces Bárbaros, auf dem sie zusammen mit ihren drei bahianischen Mitstreitern Caetano, Gil und Bethânia Funk und Soul mit afro-brasilianischen Rhythmen mischte. Ihre Stimme, geprägt von einem meistens sanften, flexiblen Timbre, war auch zu rauen Ausbrüchen fähig und stellte ein effektvolles Gegengewicht zur eher harten, maskulinen Stimme Maria Bethânias dar. Costas Bühnenpräsenz kulminierte 1979 in der Show „Gal Tropical“.

Gal Costa hat den musikalischen Wandel der folgenden Jahrzehnte immer mitgetragen, fühlte sich im Karnevals-Samba, Disco-Soul und im Synthie-Pop der 1980er zuhause. Noch im September war sie mit einer Best Of-Show auf großen Festivals in Brasilien unterwegs und wollte im November auch wieder auf europäischen Bühnen gastieren. Wegen eines Knotens in der Nase musste sie sich jedoch in ärztliche Behandlung begeben. Einmal durfte ich sie – zusammen mit meinem Kumpel HP, ein mindestens ebenso Brasil-Verrückter wie ich – live erleben: beim damals schon nach Stuttgart ausgelagerten Viva Afro Brasil-Festival am 15.7.2006.

© Stefan Franzen

Gal Costa: „Não Identificado“
Quelle: youtube

Caetano 80

„Der Vers vermag es, Welten in die Welt zu schleudern“, schrieb er in seiner bekenntnisreichen Komposition „Livros“. Nach 55 Jahren Karriere und ebenso vielen Alben hat der Begründer des Tropicalismo, jener experimentellen Erneuerungsbewegung der brasilianischen Popmusik, seinem Publikum viele Welten entgegengeschleudert, doch die ein oder andere auch schmeichelnd und zärtlich in den Schoß gelegt. Caetano Veloso hat mich begleitet, seit ich in den 1990ern meine Liebe zur brasilianischen Musik entdeckt habe. Heute geht an ihn ein um einen Tag verspäteter Gruß zum 80. Geburtstag.

Mit zwölfköpfigem Orchester und einem sehr perkussiven, von der Trommelmusik Bahias geprägten Unterbau habe ich ihn am 4. Juni 2000 im Stadtcasino Basel gesehen. Er fühlte sich klimatisch sehr zuhause, schon damals gab es auch Anfang Juni Temperaturen weit über 30 Grad. Einer der Titel, die mir damals sehr gut gefallen haben, war „Mel“ (Honig). Wie ich für die Badische Zeitung schrieb, ein „überschäumender Liebestrank. Die Gabe der Inspiration kann man in seiner reichen Mimik ablesen: Selten strömt eine solche Leuchtkraft aus Mund- und Augenwinkeln.“

Als Gruß an den großen alten, aber immer auch alterslosen Nestor der modernen brasilianischen Popmusik und Dichtung also hier „Mel“ mit einem honigsüßen Text: „Oh Bienenkönigin, mach aus mir ein Werkzeug deines Vergnügens und deines Ruhms. Denn wenn die Nacht sich in komplette Dunkelheit hüllt, probiere ich von der Wabe deines Honigs, grabe ich mich in die ungeschützte Klarheit des Himmels und umfasse die Sonne mit meiner Hand“.

Caetano Veloso: „Mel“ (live 1998)
Quelle: youtube

 

Moonwalk IV

Himmelskörpern hat er im Laufe seiner Karriere mehrere Canções gewidmet, die bekannteste ist sicherlich seine Hymne auf den blauen Planeten, „Terra“. An Zärtlichkeit steht dieses Mondlied aus der Feder des wohl größten MPB-Sängers seinem Erdengesang nicht nach, obwohl es mit der unruhigen Percussion und der glimmenden Orgel gleichzeitig einen typisch experimentellen Flickenteppich-Charakter hat, wie ihn die Tropikalisten liebten. „Lua Lua Lua Lua“ stammt aus Caetano Velosos Album Jóia von 1975, eine intensive, höchst kreative Schaffensphase für ihn auf dem Höhepunkt der brasilianischen Militärdiktatur.

Caetano Veloso (Brasilien): „Lua Lua Lua Lua“
Quelle: youtube

Bischof bedroht Caetano

Die Situation für liberale Künstler und Kulturschaffende hat sich in Brasilien verdüstert, seit ein Rassist und Sexist das Präsidentenamt innehat. Nun ist die Stimmung so weit gekippt, dass ein katholischer Geistlicher ungehindert Morddrohungen gegen den berühmtesten Musiker des Landes ausstoßen darf. So geschehen am vergangenen Sonntag, wie die Zeitschriften Veja und Época berichten. Am 55. Jahrestag des brasilianischen Militärputsches zelebrierte Bischof José Francisco Falcão in Brasilia eine Messe, bei der mehrere ranghohe Generäle und die Witwe eines besonders berüchtigten Generals des damaligen Regimes anwesend waren. Während der Messe äußerte der Bischof, dass es in den Siebzigern einen „Dummkopf“ gab, der “É Proibido Proibir“ (Verbieten verboten) sang. Ihm würde er gerne „Rattengift verabreichen“.

Das Lied stammt von Brasiliens populärstem Sänger und Philosoph Caetano Veloso und war 1968 als Hymne der Auflehnung gegen die Diktatur, die zwischen 1964 und 1985 Zehntausende von Menschen zensierte, folterte und verschwinden ließ, berühmt geworden. Der jetzige Präsident ist ein Verharmloser dieser dunklen Jahre und hat die kirchliche Gedenkfeier für den Jahrestag des Militärstreiches ausdrücklich gebilligt. Veloso fordert den Bischof nun auf, er solle vor Gericht den Namen dessen nennen, den er töten wolle.

Während der Diktatur war Caetano Veloso für Jahre ins europäische Exil gedrängt worden. Wie bitter, dass er nach all seinen Verdiensten um die brasilianische Kultur weltweit im Alter von 77 Jahren eine neue Bedrohung in seiner Heimat erdulden muss. Die zuständige Erzdiözese verneint diese Version der Vorkommnisse. Sie verweist darauf, Falcão habe ohne Nennung eines Musikers lediglich über eine Stelle aus dem Neuen Testament gepredigt, die davon spricht, dass es absolute Freiheit ohne Verbote nicht gebe. Nun sind die Verantwortlichen der katholischen Kirche gefordert.

Caetano Veloso: „É Proibido Proibir“
Quelle: youtube

Wiedergeburt zwischen zwei Städten

„180 Tage in einem tiefen Traum, in tiefem Frieden, nicht wie einer, der schläft, nicht wie einer, der stirbt, aber fast.“ Salvador Sobral singt die Eingangszeilen seines neuen Albums in verletzlichem Falsett, und dazu scheppert und poltert das Schlagzeug wie ein verschleppter Herzschlag. Dieser Mann hat eine Menge hinter sich. Kurz nachdem er 2017 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, wird bekannt, dass sein eigenes Herz ihn nicht mehr lange am Leben erhalten würde. Kurzatmig, mit 25 Litern überflüssigem Wasser im Körper übersteht er kaum die Torturen des ESC, seine Schwester Luísa, Ko-Autorin des Siegertitels „Amar Pelos Dois“, fängt ihn auf, wo es geht.

Ein halbes Jahr zermürbender Warterei folgt. Doch Sobral findet einen Spender, und nach erfolgreicher Transplantation kehrt der heute 29-Jährige Schritt für Schritt ins Leben zurück, legt nun ein wunderbares neues Werk namens Paris, Lisboa vor. „Dieser erste Song auf dem Album steht für meine Katharsis“, sagt Sobral am Telefon aus Lissabon. Auch seine Sprechstimme hat dieses Empfindsame, Poetische, das ihn beim Singen so auszeichnet. „Es ist der Moment, in dem ich von Neuem starte, meine Wiedergeburt. Danach beginnt das eigentliche Album, frisch und leicht.“ Doch der Weg dorthin ist ein Kraftakt. Nach der OP geht er durch eine lange Reha-Phase, Sobral hört sich seine alten Alben an, versucht, die Kraft zum Singen zurückzugewinnen. „Natürlich hatte sich meine Stimme nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychologischer und emotionaler Ebene verändert“, erinnert er sich.

Der Spross aus einer portugiesischen Adelsfamilie begeisterte sich schon früh für Jazz, nahm an der Castingshow „Ídolos“ teil, studierte an der Taller de Músics in Barcelona. Seine Auffassung vom Genre ist allerdings eine sehr freigeistige: „Ja, ich sehe mich selbst als Jazzmusiker, aber ich habe einen ganzen Haufen Bands, und in jeder erforsche ich verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten. In meinem englischen Projekt Alexander Search bin ich eher ein Rocker, in einer anderen Band steht der Tanz im Vordergrund. Ich will ja schließlich nicht vor Langeweile sterben!“

Diese Experimentierfreude erklärt auch, dass er sich auf das Abenteuer ESC eingelassen hat. Heute sieht er diesen Ausflug mit seinem ganzen außermusikalischen Bohei sehr kritisch, spricht sogar davon, dass der Grand Prix „seine Prostitution“ war.
Wenn man Paris, Lisboa, Sobrals drittes Werk anhört, erkennt man schnell, dass er ein denkbar untypischer ESC-Sieger ist. Der Titel ist an „Paris, Texas“ von Wim Wenders angelehnt, dessen Filme Sobral mag, nicht musikalisch, aber wegen des Schwebezustands zwischen den beiden Orten. „In ihm befand ich mich die letzten achtzehn Monate, physisch und sentimental, denn meine Liebe lebt in Paris. Paris bedeutete für mich Befreiung nach dem Krankenhaus, endlich konnte ich wieder reisen! Ich ging ins Kino, in Museen, spazierte endlos durch die Straßen.“ Seine „Liebe“ ist die französische Schauspielerin Jenna Thiam, mit ihr ist er inzwischen verheiratet, sie hat das reizende Chanson „La Souffleuse“ für das Album beigesteuert.

Ein Album, das meist in Quartettbesetzung gekonnt durch die Stile etlicher Weltgegenden steuert, jazzige Improvisation mit englischem Songwriting und südamerikanischer Sonne verknüpft. Ein kubanischer Bolero erzählt vom Meer, ein Samba aus Brasilien, Sobrals größtes musikalisches Steckenpferd, wandelt sich in eine Jazzballade. Und ein fast philosophisches Liebesgedicht von Fernando Pessoa löst sich in spielerische Leichtigkeit. Schwester Luísa ist auch dabei, mit ihr singt er nur zur Harfenbegleitung die Miniatur „Prometo Não Prometer“. Die Geschwister verstehen sich blind, sangen schon als Kleinkinder stundenlang miteinander auf Urlaubsfahrten.

Der eigentliche Star ist Salvador Sobrals wandelbare Stimme, deren frühere Flexibilität er sich fast zurückerobert hat, wie er erzählt. „Während meiner Jazzausbildung habe ich gelernt, wie ich die Timbres von Caetano Veloso, Billie Holiday und Sílvia Pérez Cruz in einen großen Topf werfe, sie vermische und dann kam diese Stimme heraus.“  Schelmisch fügt er hinzu: „Ich bin ja nur ein Dieb.“ Aber ein sehr cleverer, kann man hinzufügen. Am Ende von „Paris, Lisboa“ mündet alles in einen ausgelassenen Tanz mit der kleinen Rajão-Gitarre aus Madeira, eine Erinnerung an einen Inselurlaub. Auf dieser roots- und popgefärbten Jazzscheibe, die kräftig untermauert, wie ein Musiker seine Schaffenskraft zurückerlangt hat, ist es ist die letzte, sonnigste Station. „Jedes Mal, wenn ich diese kleine Gitarre höre“, sagt Sobral, „denke ich an den Sommer in Madeira. Und dann muss ich lächeln.“

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 29.03.2019

Salvador Sobral: „Cerca Del Mar“
Quelle: youtube

Lorca, Bruckner und der Klang der Stille

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida / Sílvia Pérez Cruz & Quinteto de Cordas
Café de la Danse, Paris, 07.02. & 08.02.2019

„In der Musik ist es wie im Leben – manchmal geht es mit jemandem, manchmal nicht. Und hier…“ Sílvia Pérez Cruz beendet den Satz in ihrem charmant improvisierten Französisch im rappelvollen Pariser Café de la Danse nicht einmal. Sie zeigt nur auf ihren Bühnenpartner, Marco Mezquida. Das Publikum weiß da schon seit fast zwei Stunden, dass es ging.

Das Duo mit dem katalanischen Pianisten ist die neueste Bühnenkonstellation für Iberiens schönste Stimme. Und sie klappt deshalb so gut, weil Mezquida wie seine Partnerin über Genregrenzen nicht einmal nachdenkt, sich in alle erdenklichen Klangtableaus hineinversetzen kann. Rücken an Rücken beginnen die beiden mit dem Jazzstandard „My Funny Valentine“ am Pianino, ein Instrument, so warm und gedämpft, man könnte es sich in einem alten kubanischen Salon vorstellen. „Vestida De Nit“, die von ihren Eltern geschriebene Meereshymne erklingt am Flügel, doch Mezquida dämpft die Saiten, unterlegt den melismatischen Gesang von Pérez Cruz zackig-hölzern, was den stolzierenden Habanera-Rhythmus viel mehr herausmeißelt als bei allen anderen Versionen. In der hübschen Miniatur „Plumita“, das auf einem Kurzgedicht des uruguayischen Dichters Mauricio Rosencof basiert, spannt das Duo einen wunderbaren Bogen von fast zitternder Intimität der kleinen Feder bis zum monströsen Aufbäumen des Konzertflügels, in gewaltig tremolierenden Akkorden.

Immer wieder begeistert der Tastenmann mit seinen Umschwüngen von kleinzelliger, intimer Spielweise in den Habitus des romantischen Konzertpianisten mit voluminösem Gestus. Der Abend lebt nicht nur von dynamischen, auch von transatlantischen Sprüngen – und die ungewöhnliche Adaption des Liedgutes: Den Fado „Barco Negro“, der mit seiner Sklavenschiff-Thematik Afrika in sich birgt, lässt Mezquida ansatzweise zum Blues mutieren, das Regenwunschlied „Asa Branca“ aus Brasiliens trockenem Nordosten bekommt jazzige Improeinlagen. Zum lockeren Tänzchen am Klavier fordert „Siga El Baile“ heraus, Pérez Cruz verfeinert das polternde Stück aus der Tango-Sphäre mit verführerischer Eleganz. Das Schweigen und die Stimme sind Thema in Federico García Lorcas „El Niño Mudo“ – Verse, die einst von der chilenischen Politfolk-Gruppe Quilapayún vertont wurden, und hier nun im ergreifenden, dichten Duo, vierhändig begleitet, immer wieder im Nachhorchen und Verklingen der Worte verharren.

Schließlich wird auch der hispanische Kulturkreis durchbrochen. Das Schweigen und die Stimme, noch einmal: Ein wenig vergaloppiert hat sich Sílvia Pérez Cruz vielleicht in ihrer Lesart von „The Sound Of Silence“: Paul Simons enigmatische Verse zerpflückt sie in die Einzelteile, der schlichte folkige Flow wird dadurch gehemmt. Doch zum erstaunlichsten Brückenschlag wird das Finale, dem mit dem Wort Medley nicht beizukommen ist: Sitzend am Flügel interpretiert Pérez Cruz Anton Bruckners „Christus Factus Est“ mit kristallin-sakraler Ergriffenheit, fast wie ein Chorknabe, der sich dann wortlos in Ornette Colemans „Lonely Woman“ löst, Mezquida baut eine wahre Akkordkathedrale auf. Doch letztlich sinkt alles wieder in die melancholische Verlorenheit von „My Funny Valentine“ zurück. Zwei Zugaben zeigen nochmals das gewaltige Spektrum dieses Traumpaares, dem man ein langes Bühnenleben wünscht: Für Radioheads „No Surprises“ wird eigens ein Toy Piano auf die Bühne getragen, die Pophymne in pures Spielzeugland aufgelöst. Nur um einen letzten Kontrast heraufzubeschwören: mit Leonard Cohens Lorca-Adaption „Pequeño Vals Vienés“, das ins spanische Original zurückgeführt wird und in dem große Flamenco-Dramatik siedet.

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida
Quelle: youtube

Während das Duo weiterhin weltweit zu hören sein wird, gestaltet Sílvia Pérez Cruz in ihrer Kurzresidenz im Café de la Danse den zweiten Abend mit einem Auslaufmodell: Dabei hätte es das Streichquintett-Programm „Vestida de Nit“, hier schon mehrfach besprochen, verdient, immer weiter gegeben zu werden. Denn  der Vergleich zum Konzert in Girona vor 16 Monaten zeigt, wie viel an Intensität und neuen Variationen das Zusammenspiel von Sängerin und den Streichern um Cellist Joan Antoni Pich nochmals gewonnen hat. Alle sechs warten mit neuen Improvisationseinfällen auf, Sílvia Pérez Cruz pflegt mit jedem einzelnen Quintettmitglied befeuernde Dialoge.

Ihre „Lambada“ durchschreitet sie noch kantabler, „Ai, Ai, Ai“ wird fast zum Volksfest mit Publikumsgesang. Noch inniger und bittersüß-verschmitzt kommt das Mexikos Pathos nachempfundene „Mañana“ im Duo mit Carlos Montfort daher, „No Hay Tanto Pan“, diese Hymne für alle Verlierer der Immobilienkrise in Spanien, gipfelt in fast atemloser Verausgabung. Und die schönste Überraschung: Das Lied von der Taube, „Cucurrucucú“, es wurde seit Caetano Velosos meditativer Version aus dem Film „Hable Con Ella“ nicht mehr volkstümlich interpretiert – Sílvia und ihr Quintett schaffen eine tänzerische Rückführung aufs Mariachi-Parkett ohne jeglichen Kitsch.

© Stefan Franzen

alle Fotos Stefan Franzen

Navegare necesse est

Caetano Veloso: „Os Argonautas“
Quelle: youtube

2019 – das Jahr runder Jubiläen von Entdeckern und Eroberern.

Am 20.7.1969 setzt erstmals ein Mensch seinen Fuß auf den Mond, 50 Jahre später trägt die dunkle Seite des Erdtrabanten erste chinesische Schriftzeichen.

Vor 500 Jahren, am 10.8.1519 startete Fernão de Magalhães, bei uns als Magellan bekannt, bei Sevilla zur ersten Weltumseglung, die er selbst nicht vollendete, dehnte damit das portugiesische Weltreich mit all seinen dunklen Konsequenzen für die lokalen Völker aus.

„Navegare necesse est, vivere non est necesse“ – Navigieren ist eine Notwendigkeit, leben nicht. Diesen Satz, den Plutarch Pompeius Magnus zuschrieb, lässt sich dichterisch, philosophisch und metaphysisch weiterspinnen, und viele haben es getan, Fernando Pessoa und Caetano Veloso unter ihnen.

Und so setzt der Brasilianer, der 2018 auf greenbeltofsound beschlossen hat, auch wieder den Startpunkt in diesem Jahr der Argo- und Astronauten – mit dem Mondlied „Lua, Lua, Lua, Lua“ (1975) und „Os Argonautas“ (1969).

Caetano Veloso: „Lua, Lua, Lua, Lua“
Quelle: youtube