Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023

 

R.I.P. João Donato


Foto: Thiago Piccoli

In den Morgenstunden des 17. Juli ist der brasilianische Musiker João Donato im Alter von 88 Jahren gestorben. Als Pianist, Akkordeonist, Arrangeur und Komponist hat Donato eine Karriere von sage und schreibe 74 Jahren absolviert, dabei hat er Jazz, Samba, Funk und das ganze Universum der Latin-Rhythmen höchst kreativ miteinander vereint. 1934 im Bundesstaat Acre geboren, fällt der Beginn seiner Karriere noch in die Zeit vor der Bossa Nova. Zunächst lernt er Akkordeon, spielt nach dem Umzug nach Rio in Jam-Sessions, begeistert sich für den Jazz der späten Vierziger. Nachdem er aufs Piano umgestiegen ist, formiert er ab 1953 eine Reihe von Bands und spielt in São Paulo seine erste LP namens Chá Dançante ein, die Jobim produziert. Ihm gibt er mit seinem synkopierten Piano-Stil wichtige Impulse für die Bossa Nova mit auf den Weg.

Während eines mehrjährigen USA-Aufenthalts spielt er mit Cal Tjader, Tito Puente und Mongo Santamaria, und mit dem Bossa-Gitarristen João Gilberto tourt er in Europa. Die erfolgreichsten Platten nimmt er in den Staaten in den Siebzigern auf, A Bad Donato (1970) und Quem É Quem (1973) unter ihnen. Donato arbeitete im Laufe der weiteren Jahrzehnte in Brasilien und den USA mit unzähligen Musikern, unter ihnen Dorival Caymmi, Joyce Moreno, Eumir Deodato, Stan Kenton, Herbie Mann und Wes Montgomery. Für Gilberto Gil schrieb er „A Paz“, für Caetano Veloso das unwiderstehliche, einen Frosch karikierende Stück „A Rã“. Die Texte für seine Kompositionen steuerte ihm meist sein Bruder Lysias Ênio bei. Als Arrangeur betätigte er sich für Gal Costa und Martinho Da Vila. Zu Donatos letzten Veröffentlichungen zählt eine Einspielung in der Reihe Jazz Is Dead von Adrian Younge.

© Stefan Franzen

João Donato: „Bambu“
Quelle: youtube

Farbenpracht zwischen Hippietum und Protest-Pop


Sie war eine der größten Sängerinnen Brasiliens und begründete in den späten 1960ern neben Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia die moderne brasilianische Popmusik: Im Alter von 77 Jahren ist Gal Costa am Mittwochmorgen in São Paulo gestorben.

Maria da Graça Costa Penna Burgos stammte aus Bahia, wie Gil und Caetano, mit deren Songs sie Mitte der Sechziger ihre Karriere begann, „Eu Vim Da Bahia“ und „Baby“ waren ihr ersten Hits. 1967 tat sie sich mit Caetano Veloso für das Album „Domingo“ zusammen. Kurz darauf wurde mit ihrer Beteiligung Tropicália, ein Meilenstein der Tropicalismo-Bewegung veröffentlicht, die brasilianische Wurzeln mit internationalem Rockflair und psychedelischen Tönen kollagierte und sich auch als freigeistiger Protest gegen die Militärdiktatur verstand. In den 1970ern trug Gal Costa mit ihrem Image zwischen Hippiemädchen und Sexsymbol auf vielen Soloalben maßgeblich zur Farbenpracht der Popmusik ihres Landes bei. Wichtige Werke aus dieser Zeit waren India und Cantar, bekannte Stücke „Que Pena“, „Meu Nome É Gal“, „Perola Negra“ und „Barato Total“.

Sie arbeitete mit etlichen Stars der brasilianischen Szene wie Jorge Ben, Luiz Melodia oder Erasmo Carlos. Ein Highlight ihrer Karriere wurde 1976 das Album Doces Bárbaros, auf dem sie zusammen mit ihren drei bahianischen Mitstreitern Caetano, Gil und Bethânia Funk und Soul mit afro-brasilianischen Rhythmen mischte. Ihre Stimme, geprägt von einem meistens sanften, flexiblen Timbre, war auch zu rauen Ausbrüchen fähig und stellte ein effektvolles Gegengewicht zur eher harten, maskulinen Stimme Maria Bethânias dar. Costas Bühnenpräsenz kulminierte 1979 in der Show „Gal Tropical“.

Gal Costa hat den musikalischen Wandel der folgenden Jahrzehnte immer mitgetragen, fühlte sich im Karnevals-Samba, Disco-Soul und im Synthie-Pop der 1980er zuhause. Noch im September war sie mit einer Best Of-Show auf großen Festivals in Brasilien unterwegs und wollte im November auch wieder auf europäischen Bühnen gastieren. Wegen eines Knotens in der Nase musste sie sich jedoch in ärztliche Behandlung begeben. Einmal durfte ich sie – zusammen mit meinem Kumpel HP, ein mindestens ebenso Brasil-Verrückter wie ich – live erleben: beim damals schon nach Stuttgart ausgelagerten Viva Afro Brasil-Festival am 15.7.2006.

© Stefan Franzen

Gal Costa: „Não Identificado“
Quelle: youtube

Aufforstung auf Brasilianisch


Unter dem jetzigen Machthaber in Brasilien erfährt die Abholzung des Regenwaldes und der damit einhergehende Genozid an der indigenen Bevölkerung einen neuen traurigen Höhepunkt. Der Filmemacher Sebastião Salgado („Das Salz der Erde“) stellt sich dieser Entwicklung entgegen: Sein 1998 gegründetes Instituto Terra im Ort Aimorés im Bundesstat Minas Gerais) widmet sich schon seit Langem Aufforstungsprojekten. Dafür bekommt er auch prominente Unterstützung, etwa von Schauspieler Brad Pitt oder Model Gisele Bündchen.

Nun hat auch der Tropicália-Begründer und ehemalige Kulturminister Gilberto Gil einen originellen Support beigesteuert. Er kommt in Gestalt des Songs „Refloresta“ und wird begleitet von einem Clip, in dem sich Gils Kopf zu einem üppigen Dschungel mit Pflanzen- und Tiervielfalt verwandelt. Für die Produktion tat sich Gil mit einigen seiner acht Kinder zusammen. Ziel des Refloresta-Projektes ist es, in ausgesuchten Regionen Brasiliens pro Jahr eine Million Bäume zu pflanzen.

Gilberto Gil :“Refloresta“
Quelle: youtube

Hippiesker Songschmied

Heute müssen wir Abschied nehmen vom Singer/Songwriter Moraes Moreira, der im Alter von 72 Jahren diesen Montag in Rios Stadtteil Gávea an einem Herzinfarkt gestorben ist. Moraes stammte aus dem Hinterland von Bahia, wuchs mit der lokalen Volksmusik auf und spielte Akkordeon, bevor er auf die Gitarre umstieg. Als er mit 19 zum Musikstudium nach Salvador kam, traf er Luiz Galvão und Paulinho Boca de Cantor, mit denen er 1968 die stilbildende Band Novos Baianos gründete. Ein Jahr später stießen die Sängerin Baby Consuelo und der Gitarrist Pepeu Gomes zur Gruppe, die zu einer der führenden Formationen der Tropicalismo-Bewegung wurde und brasilianische Elemente aus Samba, Bossa und Frevo mit internationalen Rockvokabeln mischte. Der Poet und Sänger Tom Zé gehörte als Ideengeber ebenfalls zum Dunstkreis.

Nach dem Umzug nach Rio veröffentlichten die Novos Baianos 1972 ihr bekanntestes Album Acabou Chorare, eine Art brasilianisches Gegenstück zu „Sgt. Pepper“: Bis heute gilt es als eines der gewagtesten Pop-Werke Brasiliens und als ein psychedelischer Meilenstein der dortigen Hippie-Bewegung, die sich auch musikalisch gegen die Militärdiktatur zur Wehr setzte. Moreira war bei den Novos Baianos bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1975 einer der wichtigsten Songlieferanten. 1976 startete er seine Solokarriere und wurde parallel Leadsänger beim Trio Elétrico Dodô e Osmar, das sich der karnevalistischen Musik Bahias widmete.

Moreira veröffentlichte annähernd 30 Alben, die eine Stilbreite von Samba, Baião und den folkloristischen Ausprägungen der Musik des brasilianischen Nordwestens über HipHop bis zu klassischer Musik umfassten. 1997 initiierte er eine Reunion der Novos Baianos mit dem Album Infinito Circular. Im vergangenen Jahrzehnt tat sich Moraes Moreira vor allem als Buchautor hervor, schrieb eine Bandbiographie und das Buch O Poeta Não Tem Idade mit Widmungen an Kollegen wie Gilberto Gil oder Luiz Gonzaga. Mein persönliches Lieblingslied aus seiner unerschöpflichen Songschmiedekunst ist bis heute das Stück „Chuva No Brejo“, eine kleine Liebeserklärung an den Regen, der im oft so trockenen Hinterland mit einem süßen Geräusch auf das Dach trommelt.

Moraes Moreira: Chuva No Brejo“
Quelle: youtube

Tropischer Opernabend

Gilberto Gil, Cortejo Afro, Nucleo de Opera da Bahia &
Orquestra Nova Lisboa

Baloise Session Basel, 7.11.2017

Noch einmal in satter Besetzung! Das hatte man von Gilberto Gil, dem Begründer des Tropikalismus, der Ikone der Música Popular, diesem streitbaren, politisch aktiven und sozial engagierten Musiker gar nicht mehr erwartet. Der 75-jährige Ex-Kulturminister, seit über einem halben Jahrhundert auf den Bühnen der Welt, hatte sich zuletzt auf intime Projekte zurückgezogen: eine Live-DVD nur in Zwiesprache mit seinem Sohn, eine wunderbar transparente Samba-Platte. Doch nun noch einmal das ganz große Besteck – mit der Carnavalsgruppe Cortejo Afro und vier klassischen Sängern aus seiner Heimatstadt Salvador da Bahia, sowie dem portugiesischen Kammerensemble des Orquestra Nova Lisboa. Ein Projekt, das derzeit nur ein paar handverlesene Male in Europa zu erleben ist, so auch bei der Baloise Session.

Gil geht hier an eines seiner Herzensthemen zurück: Er als Mann aus Bahia, dem schwärzesten Bundesstaat Brasiliens, hat sich immer um das afrikanische Erbe der Kultur Brasiliens gekümmert, in Afrika selbst musikalische Querverweise über den Atlantik erforscht. Genau zu diesem Zweck gründete sich auch vor rund zwanzig Jahren in Salvador da Bahia der Cortejo Afro, der den kommerzialisierten Karneval neu erdet.
Dass karnevalesker Überschwang an diesem Abend allerdings kaum eine Rolle spielen wird, damit hatten wohl die wenigsten Zuschauer gerechnet.

Als das 12-köpfige Orchester in weißen Gewändern und mit neckischen Federhütchen Platz nimmt, werden die Klänge des afrikanischen Erbes zwar zelebriert, allerdings als selbstbewusster Weg in die abendländische Klassik hinein: Unter Leitung des Italieners Aldo Brizzi gibt es Auszüge aus Scott Joplins mit Ragtime und Blues angetupfter Oper „Treemonisha“. Melancholisch sinnen Flöten und die Geige nach, das Blech verweist auf die Kapellen der frühen Kolonialzeit. Eine Arie wird mit Belcanto-Schmelz von Sopranistin Maria Das Graças De Almeida gefüllt, und die sieben Perkussionisten des Cortejo Afro halten sich mit Sambareggae-Rhythmen teils im Hintergrund.

Gilberto Gil selbst kommt spät auf die Bühne, hat aber zugleich joviale Präsenz, streut mit seiner leicht brüchigen Stimme Dialoge in Richtung Gesangsquartett. Und es ist eine weitere Oper, die den Kern dieses Abend bildet: Mit „Negro Amor“, basierend auf Sanskrittexten, erzählen Gil und Brizzi aus brasilianischer Perspektive die Krishna-Liebesgeschichte mit grandioser Dramaturgie: Kraftvolle chorale Schübe und Blechfanfaren sind die Mittel, aber auch süffige, romantische Brasiljazz-Harmonien mit ergreifenden Flöten- und Klarinettenlinien, inmitten derer Gil seine Stimme mehr und mehr zu altem, warmem Glanz entwickelt. Arrangements, die keine Angst vor Sentimentalitäten haben.

Gils Querschnitt durch seine eigenen Hits sind nur noch der Kitt zwischen den beiden Opernblöcken, doch in diesem Setting leuchten sie neu: „Andar Com Fé“ bekommt durch den Chor einen hymnisch-erhabenen Touch, und „Eu Vim Da Bahia“ singt er mit den für ihn so typischen Jauchzern, verbreitet fast jugendlichen Charme. Mit schmetternden Trompeten wird die Capoeira-Atmosphäre von „Filhos de Gandhi“ bereichert, und zum Schluss donnert seine frühe Erfolgsnummer „Expresso 2222“ mit dem organischen Motor der Trommelgruppe mächtig über die Bühnenbretter.

Einen ganz großen, fast schockierenden Höhepunkt gestaltet Gil komplett solo: „Não Tenho Medo Da Morte“ – ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben: Mit grollender Stimme gestaltet er die Auseinandersetzung des alten Mannes, mit dem, was da kommen wird. Alle, die zum Tanzen gekommen waren, wurden über weite Strecken bitter enttäuscht. Offene Ohren allerdings erlebten einen spannenden Abend – und man ging mit der Erkenntnis davon, dass Brasiliens Ikone auch mit 75 für eine dicke Überraschung gut ist.

Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung, 9.11.2017

Side tracks #14: Letzter Samba-Zug

flagge-brasilienGal Costa / Demônios Da Garoa
Trem Das Onze
(1973/1964)

Heute wird eine der herausragenden Stimmen der Música Popular Brasileira 70 Jahre jung. Ich gratuliere der Senhora, die einst „Baby Gal“ genannt wurde, und neben Castano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia zum Quartett der großen vier Rebellen der Spätsechziger gehörte. Den Tusch singt sie sich selbst und steuert im gleichen Atem-Zug den vierzehnten der Side tracks bei. Es ist eines der schönsten Eisenbahnlieder Brasiliens: Der „Trem das Onze“ ist der letzte Zug, der – im Sambarhythmus versteht sich – vom Stadtzentrum zurück zu São Paulos Vorort Jaçanã fährt. Deshalb muss sich der Sänger von seiner Liebsten loseisen, denn die Mutter schläft nicht und wacht über seine Rückkehr…

demônios da garoa - trem das onze

Populär gemacht haben den launigen Samba aus der Feder von Adoniran Barbosa 1964 die Demônios da Garoa. Das Lied wurde damals beim Karneval von Rio vorgestellt, gilt aber als typischer Vertreter des São Paulo-Sambas. Gal Costa hat ihn sich 1973 in einer denkwürdigen Live-Version zu eigen gemacht. Danke an Renate für den Hinweis auf diese Version!

Gal Costa: „Trem Das Onze“
Quelle: youtube

Der Vorortzug, der Tramway de Cantareira, ging ironischerweise genau im Jahr der Liedveröffentlichung seinem Schicksal entgegen: Man begann mit seiner Dekonstruktion. So wohnt auch in diesem Canção wie in vielen brasilianischen Eisenbahnsongs eine große Portion Nostalgie.

Os Demônios Da Garoa: „Trem Das Onze“
Quelle: youtube

Dina El Wedidi: Der Spirit vom Tahrir

dina 1

Foto: Shokry Mannaa


Auf dem Tahrir-Platz in Kairo war sie 2011 als Musikerin dabei und sang der Jugend den Hit „Lasst uns träumen“ entgegen. Heute ist die 27-jährige Dina El Wedidi eine der führenden Songwriterinnen der ägyptischen Nachrevolutionszeit. Sie genoss ein intensives Lehrjahr bei Gilberto Gil und streckt derzeit ihre Fühler nach Afrika aus, indem sie mit den Musikern des Nile Project die verbindende Kultur der größten Lebensader Afrikas zelebriert. Die Zukunft ihres Landes sieht sie zwiegespalten. Ich habe sie während der US-Tour des Nile Projects über Telefon in L.A. erreicht. Das dritte und vorerst abschließende Interview in der Serie mit arabischen Sängerinnen.

Dina El Wedidi, dass der Titel Ihres Debütalbums „Turning Back“, „zurückkehren, sich umdrehen“ heißt, überrascht mich etwas, denn Sie gehören ja zu der Generation der progressiven, nach vorne schauenden Musikerinnen Ägyptens. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?

El Wedidi: Bei der Titelgebung habe ich auf eine sehr persönliche Weise an die Geisteshaltung gedacht, die ich während der letzten drei Jahre hatte. Ich probierte musikalisch eine Menge aus, experimentierte mit Rap, Fusion, Folk und Traditionen. Es war mir klar, dass ich einen eigenen Sound finden musste. Und da schien es mir das Beste, zu dem Gefühl zurückzugehen, das ich hatte, als ich allein mit meiner Gitarre in meinem Zimmer saß und anfing, Songs und Texte zu schreiben. Der Moment, bevor man als Songwriter raus zu den Musikern geht. Ein sehr intimer, warmer Moment. Gleichzeitig hat der Titel aber auch damit zu tun, dass wir, die junge Generation, drei Jahre nach der Revolution wieder zum genau gleichen Punkt zurückkehren müssen, an dem wir begonnen haben. Weiterlesen

Alle 100 Jahre ein Genius

Gilberto Gil: Gespräch über die neue CD und João Gilberto

Es ist natürlich ein schöner Zufall, dass zwei herausragende Persönlichkeiten der brasilianischen Musik den gleichen Namen tragen. Die Namensvetternschaft hat der jüngere unter ihnen nun zu einem Albumtitel gemacht. Und bezeichnet sich trotz weltweiter Berühmtheit immer noch als Lehrling. Ein entspanntes Gespräch mit Gilberto Gil – ganz bewusst nicht über Politik, und auch nicht über Fußball, sondern über sein großes Idol João Gilberto. Weiterlesen