Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral Sílvia & Salvador (Warner Music International)
Zwei der ganz Großen der Iberischen Halbinsel treffen sich zum Duo-Gipfel: Er, langjähriger Fan seiner Partnerin, hat die portugiesische Musik für den Indie-Pop und den Chanson geöffnet (und vor Uhrzeiten einmal den ESC gewonnen…). Sie, zweifelsohne die derzeitig unangefochtene Queen der katalanischen Musik, hat schon lange ein Faible für lusophone Töne, während er seit seinem Studium in Barcelona eine Verankerung in der Region hat. Sílvia Pérez Cruz und Salvador Sobral: Hier kann man nur die höchsten Erwartungen an hohe Liedkunst haben, und sie werden auch erfüllt, mit zarten Flügelschlägen aller Facetten der Música Latina, die die beiden mit befreundeten Song- und Verseschmieden zum Leben erwecken.
„Ben Poca Cosa Tens“, ein Trostpflaster für alle, die Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen, mit Versen des Dichters Miguel Martí i Pol, schwingt sich in melodieseligen Terzen zu einer bewegenden, wunden Klimax auf, dann, wenn neues Leben durch „llum fresquíssimia“, frischestes Licht, einfließt. Dann regieren die Dreiertakte: Ein Wehmutswalzer von Jorge Drexler wird angestimmt, im fragilen 3/4 wird in „Hoje Já Não Tarde“ von Sobrals Schwester Luisa Fado schwebend sublimiert. Spielerisch flink mit Musette-Reminiszenzen kommt „L’Amour Reprend Ses Droits“ daher , das Sobrals Frau Jenna Thiam beigesteuert hat. Und ganz ohne Cheesyness gelingt den beiden in „Someone To Sing Me To Sleep“ ein country-esques Lullaby. Einmal nur wird es etwas physischer, wenn sich in „Muerte Chiquita“ die Rumba-Färbungen Kataloniens bemerkbar machen.
Die delikate Verletzlichkeit der beiden Stimmen -Pérez Cruz oft mit ihren berühmten zitternden Schleifen, Sobral gerne in seiner typischen Falsett-Lage – ist die Hauptattraktion der Scheibe. Sie ist aber eingebettet in ein sagenhaft intimes Instrumental-Dekor: Marta Romas lyrischer Cello-Strich, Dario Barrosos unauffällige gitarristische Ausgestaltung mit kurzen romantischen Einwürfen und vielen Flageoletts, und die Banjo-, Mandolinen- und Lap Steel-Tupfer von Sebastiá Gris. Der ruhige, hymnische Schluss, fast wie eine wortlose Bruckner-Motette im Trio mit Marco Mezquidas Klavier gestaltet, gehört dem Mitgefühl mit dem Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung. Eine Platte, die ganz auf die Innigkeit zweier Stimmen gerichtet ist und die Zeiten überdauern wird.
Der Tatort: eine Turnhalle in Waldshut, die eigentlich „Stadthalle“ heißt. Der Akteur: ein ehemaliger ESC-Sieger, der unweit des aktuellen ESC singt. Die Musik: feinstes portugiesisches Songwriting, garniert mit gänzlich unerwarteten Deutsch-Pop-Momenten.
Nein, als Gegenveranstaltung zum Eurovision Song Contest in Basel war das Konzert von Salvador Sobral nicht geplant, auch wenn es de facto eine ist: Denn wo am Rheinknie die überdrehte Zombie-Show ihren Lauf mit geringstem musikalischem Ertrag nimmt, zelebriert ein Ex-Gewinner 50 Kilometer weiter östlich das, worum es wirklich gehen kann in der Musik: durchdachte Songs mit pfiffigen bis berührenden Texten, elaborierte Harmonie- und Rhythmuswechsel, ungezwungene Spielfreude. Das Äußere: Ist ihm egal, Salvador Sobral trägt ein schwer geknittertes Öko-T-Shirt.
Acht Jahre nach seinem Sieg beim ESC und einer Herztransplantation ist Sobral heute einer der erstaunlichsten jungen Songwriter Europas. Wie sich bei seinem Auftritt mit – überwiegend – dem Repertoire des aktuellen Werks Timbre zeigt, hat er nicht nur die portugiesische Musik vom Fado-Klischee befreit, sondern tummelt sich auch weltgewandt in der spanischen Klangwelt, im britpoppigen Flair und im französischen Chanson, macht sich alles zu eigen. Dass das Ambiente mit einer kargen, Basketballkorb-verzierten Mehrzweckhalle und einem spärlichen Publikum aus ungefähr dreihundert Menschen (Silbersee trifft junge Portugiesinnen) nicht gerade seinen sonstigen Abendveranstaltungen entspricht, ficht ihn nicht an. Er turnt unter Zirkuszelt-Leuchtketten übermütig über die Bühne und durch den Saal, kann kraftvolle Rock-Shouts raushauen, ergeht sich aber meist im feinziselierten, sehr intonationssicheren Falsett.
Und er hat eine feine Band mitgebracht, weitaus mehr als Begleitfunktionäre: Eva Fernández doppelt mit ihrer gedeckten Stimme seine Gesangslinien, agiert im Duett „Per La Mano De Tu Voz“ als berührender Kontrapart und edelt viele Songs mit ihren Sopransax-Soli. Am Flügel brilliert Lucía Fumero mit virtuosen, einfallsreichen Flanken, Bassist André Rosinha hält das Fundament nicht nur, sondern greift mit weiten Bocksprüngen aus, Gitarrist und André Santos zelebriert glühende Riff-Finesse an der E-Gitarre, greift für das Lied über den kleinen Vogel („Canta, Passarinho“) auch mal zur ukulelenartigen Braguinha.
Allein am Piano lässt Sobral nochmals seine ESC-Ballade „Amar Pelo Dois“, anders rhythmisiert, aufleben, dreht sich dann kurz mit verschmitzt-irrem Blick zum Publikum und singt tatsächlich seine Version von „Kein Schwein ruft mich an“, wobei er das „keine Sau“ natürlich wie „canção“ ausspricht. Und frönt seiner neuen Liebe für deutsches Liedgut nochmals auf der Zugabe-Strecke mit „Küssen verboten“ von den Prinzen. Doch das größere Highlight kam zuvor: Im intimen Schummerlicht bringt er – Mundtrompete inklusive – in Zwiesprache mit Santos eine fabelhafte Version des Jazzstandards „You’ve Changed“ zum Glänzen. Großer Abend an unerwartetem Ort.
Mit dem multinationalen Bandkollektiv Ayom kommt frischer Global Pop-Wind auf badische Bühnen. In ihren Sound fließen Farben aus Brasilien, Cabo Verde, Angola und dem mediterranen Raum ein.
Ist die Ära der großen, schillernden Supergroups der Weltmusik nicht längst vorbei? Die Tage jener Bands, die Zutaten verschiedener Erdteile mischen und daraus ein manchmal spritziges Gebräu, allzu oft aber auch eine saucenhafte Tunke kredenzen, schienen gezählt. Doch jetzt ist das Kollektiv Ayom auf den Plan getreten, mit Mitgliedern aus Brasilien, Spanien, Italien und Griechenland, mal von Barcelona, mal von Lissabon und Florenz aus wirkend – und sie gehören eindeutig der spritzigen, belebenden Seite an.
Lange war Barcelona Brutstätte einer Mestizo-Szene, die in den 1990ern und 2000ern mit Manu Chao oder den Ojos De Brujo wegweisende Klangmarken setzte, sich irgendwann aufgrund der Beliebigkeit ihrer Stilmélange aber totgelaufen hatte. Als Ayom, benannt nach der afro-brasilianischen Orixá-Gottheit der Musik, 2021 ihr Debütalbum veröffentlichten, weckte das weniger Erinnerungen an den wilden Mestizo-Sound von einst. Die Band versuchte vielmehr, einen spannenden Ansatz mit spiritueller Tiefe und ausgefuchsten transatlantischen Bezügen zu finden. Mit der süffigen Stimme der Brasilianerin Jabu Morales und dem omnipräsenten Akkordeon von Alberto Becucci im Zentrum dokumentierten die Songs des Erstlings eine Bandarbeit, die am zeitlosen afro-portugiesischen Klangidiom gewachsen ist, und nicht an zusammengestoppelter Mischkultur.
Jetzt vertieft das Sextett um Morales diese Klangphilosophie mit dem zweiten, im September erscheinenden Konzeptalbum SA.LI.VA., dem im Sommer eine Europa-Tournee vorausgeht. Auch auf dem Lörracher Stimmenfestival und dem Karlsruher Zeltival sind die Musiker zu erleben. „SA.LI.VA.“ steht für „sagrado, liberdade, valentia“ – die portugiesischen Worte für heilig, Freiheit und Mut. Jeder dieser Sphären ist ein Abschnitt auf dem Werk gewidmet, das außerdem vom Glauben an die Orixás getragen wird, den Gottheiten der afrobrasilianischen Candomblé-Rituale.
Stilistisch ist SA.LI.VA. überhaupt nicht zu fassen, zu vielgestalt sind die Einwebungen: Mit Streichern, Akkordeon und großartig sanfter Stimme wird zu Beginn die Obergottheit Oxalá angerufen, Farben der kapverdischen Melancholie sind hier hineingewirkt. Tänzelnd vereinen sich Pianotropfen, Samba-Percussion und lusitanische Gitarrentremoli in „Filhos Da Seca“. Rituell-hymnisch wird es in einer Ode an Oxum, der Göttin der Schönheit und Liebe. Und flugs geht es für die Einleitung des festiven „Freiheits“-Abschnitts in den Nordosten Brasiliens, von wo die fröhlichen, flinken Rhythmen des Karnevals in „Eu Quero Mais“ hineinfließen, inklusive opulentem Blechblasapparat. Bereichert wird dieses große Netzwerk der Sounds durch Gäste: In „Kikola N’goma“ feiert der Angolaner Paulo Flores die transatlantischen Verbindungen mit einem Paket tropischem Gitarren-Swing. Die größte Überraschung kommt im Finale auf unsere Ohren zu: „Io Sono Il Vento“, ein italienischer Fünfzigersong mit viel mediterranem Schmelz, singt Jabu Morales im herzerweichenden Duett mit dem portugiesischen Star Salvador Sobral.
Selten offenbarte sich in der globalen Musik während der letzten Jahre eine solche durchdachte, aufregende und tiefsinnige Vielfalt. Auf die Bühnenumsetzung kann man nur gespannt sein.
Aron & The Jeri Jeri Band (Neuseeland/Senegal): Dama Bëgga Ñibi (Urban Trout Records/Indigo)
Balimaya Project (UK): When The Dust Settles (New Soil)
Bixiga 70 (Brasilien): Vapor (Glitterbeat/Indigo)
Adriana Calcanhotto (Brasilien): Errante (Modern/BMG)
Sarah Chaksad Large Ensemble (Schweiz): Together (Clap Your Hands)
Joy Denalane (Deutschland): Willpower (Four Music)
Carla Fuchs (Deutschland): Songbird (Talking Elephant)
Gurdjieff Ensemble (Armenien): Zartir (ECM)
Yumi Ito (Schweiz): Ysla (enja records Yellow Bird)
Petros Klampanis (Griechenland/USA): Tora Collective (enja)
Baaba Maal (Senegal): Being (Atelier Live)
Maro (Portugal): Hortelã (Secca Records)
Masaa (Deutschland/Libanon): Beit (Traumton/Indigo)
Marco Mezquida (Menorca): Tornado (Galileo)
Bänz Oester & The Rainmakers (Schweiz/Südafrika): Gratitude (enja)
Sílvia Pérez Cruz (Katalonien) Toda La Vida, Un Dia (Sony)
Golnar Shahyar (Iran/Österreich): Tear Drop (Klaeng Records)
Slowfox 5 (Deutschland): Atlas (rent a dog/AL!VE)
Salvador Sobral (Portugal): Timbre (Warner)
Faraj Suleiman (Palästina): As Far As It Takes (Two Gentlemen)
Dudu Tassa & Jonny Greenwood (Israel/UK): Jarak Qaribak (World Circuit/BMG)
West Trainz (Kanada): Rail Nomads (L-Abe)
Adrian Younge & Tony Allen: (USA/Nigeria): Jazz Is Dead 18 (International Anthem)
Sílvia Pérez Cruz Toda La Vida, Un Día (Universal Spain)
live: Teatro Municipal Girona, Katalonien 21.04.2023
Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.
In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.
Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.
Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.
Ebenfalls im Frühjahr erscheint ein neues Album der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz, die ich nach wie vor für eine der ganz großen Stimmen auf unserem Planeten halte. Heute hat Sílvia eine erste Tür für dieses Album geöffnet, für das Video hat sie zusammen mit dem portugiesischen Songwriter Salvador Sobral gearbeitet.
Und gleichzeitig hat sie ein wunderbares Weihnachtslied geschrieben, das ich heute zum Dreikönigstag teile, der in Spanien viel größer gefeiert wird als hier.
Sílvia Pérez Cruz: „Cançó De Nadal“
Quelle: youtube
Starten Sie einmal eine Umfrage unter Liebhabern des portugiesischen Fado: Was verbinden sie neben dem Gefühlszustand der typischen Schwermut, der „Saudade“ vor allem damit? Richtig: Frauenstimmen. Heute vor einem Jahrhundert wurde Amália Rodrigues, die bekannteste Fadista aller Zeiten geboren. Mit ihr wurde Weiblichkeit zur zwingenden Voraussetzung für internationalen Erfolg im Genre. Ein Blick auf deutsche Bühnen während der letzten 20 Jahre bestätigt das: Mariza, Carminho, Gisela João, Cristina Branco… Zum 100. Geburtstag von Amália ist es an der Zeit, die Perspektive zurechtzurücken – und ein Sänger namens Telmo Pires hilft dabei.
„Fado als Mann? Vergiss es, Telmo, funktioniert nicht!“ Mehr als einmal musste sich der heute 47-jährige Telmo Pires das von Agenturen anhören. An seiner Arbeit ist aber nicht nur besonders, dass er sich gegen die weibliche Dominanz behaupten muss. Pires stammt aus Bragança in Nordportugal, wächst aber im Ruhrpott auf. „Dadurch habe ich eine ganz andere Schule. In Deutschland gab es natürlich nicht an jeder nächsten Ecke ein Fadohaus. Bevor ich mich mit portugiesischer Kultur auseinandergesetzt habe, war Prince mein erstes Jugendidol, ich hatte viele Einflüsse im Pop“, erinnert er sich im Interview. Doch das Land seiner Herkunft fasziniert ihn bereits, wenn er mit seinen Eltern als Kind die Sommerurlaube dort verbringt, und als Teenager zieht er dann alleine durch die Gassen des nächtlichen Lissabons, dessen Reiz des etwas Kaputten, Morbiden ihn in den Bann zieht. Von Deutschland aus beginnt er, sich für das Erbe seiner Vorfahren zu interessieren, saugt portugiesische Literatur und den Fado auf, sammelt zugleich Erfahrungen am Theater. „Bis heute gehe ich an Texte eher ran wie ein Schauspieler: Was kommt dem Text zugute, wie kann ich das Publikum mit diesen speziellen Versen erreichen? Ich möchte für jeden Song einen anderen Ton finden, jedem Wort seine Schwere geben.“ Auch das hat dazu beigetragen, dass Pires keine typische Fadostimme hat, sich gegen die Vereinheitlichung zur manchmal fast opernhaften Stimmgebung sträubt.
In Berlin startet er damit, Alben aufzunehmen. Experimentiert mit Besetzungen, die es im traditionellen Fado gar nicht gibt, mit Piano und Jazzgitarre. Nie sei es sein Anliegen gewesen, den Fado zu revolutionieren sagt er, er wollte sich lediglich an einen eigenen Stil herantasten. 2009 wird das Heimatland auf ihn aufmerksam und lädt ihn in eine TV-Talkshow. Die Portugiesen sind fast etwas ungläubig, dass da ein Landsmann in Berlin ihre Sprache singt. Telmo Pires fasst nach diesem Erlebnis Mut, siedelt 2011 in seine Traumstadt Lisboa über. „Ich bin hier eigentlich wie ein Außerirdischer im Fado gelandet mit meiner persönlichen Geschichte. Habe wirklich bei null angefangen, bin in den Fadohäusern aufgetreten, habe Kontakte geknüpft und dann den großartigen Produzenten David Zaccharia kennengelernt.“ Mit ihm, der auch mit der Sängerin Dulce Pontes arbeitet, kann er seine Visionen umsetzen.
Bis heute passt Telmo Pires nicht in die Sphäre des Fado hinein, besser: in das, was man für typisch Fado hält. Die Lieder über Sehnsucht nach Verlorenem, aufgeladen mit Metaphern, aber auch über augenzwinkernd erzählte Alltagsgeschichten schälten sich bereits vor 200 Jahren in den Altstadtvierteln heraus, aus brasilianischen und arabischen Quellen vermutlich, auch aus dem Gesang einheimischer Seeleute. In den kleinen Kneipen wird Fado bis heute sowohl von Männern als auch Frauen gesungen. Auf den großen Bühnen aber dominieren die Frauen, und daran ist Portugals Musikikone Amália Rodrigues schuld: Mit ihrer Omnipräsenz ab den 1960ern wurden vormals gar nicht traditionelle Insignien wie das schwarze Kleid und die Stola, auch der Bass neben der spanischen Gitarre und der tropfenförmigen Guitarra Portuguesa verbindlich. Erst recht nach ihrem Tod, als die leere Floskel „legitime Erbin von Amália“ zum höchsten Lob für eine junge Fadista wurde. 2020, zu ihrem 100. Geburtstag, sind Lissabons Bühnen voll mit Widmungen und Musicals, oft von durchwachsener Qualität. „Amália ist mit ihrem Charisma eine Übermutter“, urteilt Telmo Pires. „Das Bild des Mannes ist halt leider verstaubt geblieben: Da steht jemand im schwarzen Anzug auf der Bühne, kommuniziert nicht viel. Egal wo in Europa ich auftrete, kommen nachher Leute zu mir und sagen: ‚Herr Pires, wir wussten ja gar nicht, dass Männer auch Fado singen!‘ Die großen Plattenfirmen können und wollen das nicht verkaufen.“
Pires hat das Glück, ein kleines engagiertes deutsches Label gefunden zu haben, das ihm von Beginn an die Treue hält. Ohne dass seine Homosexualität zwingend Thema sein muss in seiner Kunst, geht er gegen das konservative Männer-Image des Genres an, bewegt sich bei seinen Konzerten fast wie ein Schauspieler, erklärt die Stücke, bricht Stimmungen. Sein Outfit mit Bart, Undercut-Frisur und enganliegendem Shirt zielt eher Richtung Jugendkultur. Beim Betrachten des Covers seines neuen Albums Através Do Fado würde man ihn vielleicht eher im Hiphop verorten – auch das wieder ein Stereotyp. Doch er ist sogar zur rein klassischen Fadobesetzung zurückgekehrt, weil er mit ihr heute am intensivsten seine Haltung, seine Stimme transportieren kann.
Die Palette der Stücke zum Beispiel den bedrückenden Klassiker „Medo“ aus dem Repertoire Amálias, in dem er die existentielle Angst und Einsamkeit, die sich abends mit dir ins Bett legt, beklemmend ausformt. Aber er greift mit Carlos Do Carmo auch den großen männlichen Fadista auf, der dieser Tage mit 80 Jahren seine Karriere beendet hat, eine Verbeugung vor der maskulinen Energie im Genre. Auf der anderen Seite interpretiert er mutig eine Ballade der portugiesischen Grand Prix-Teilnehmerin Maria Guinot aus den Achtzigern, hat sie in die Fadobesetzung übergesiedelt. Pires macht keinen Hehl daraus, dass er großer Fan des Eurovision Song Contests ist: „Ich habe dreimal in der EST-Geschichte für meinen Favoriten angerufen, und alle drei Mal hat dieser Song dann gewonnen, das letzte Mal bei Salvador Sobral. Ich sollte mich bezahlen lassen dafür“, lacht er.
Zentral auf Através Do Fado sind aber die Eigenkompositionen, unter ihnen das quirlige „Era Uma Vez“ über die Gentrifizierung, den Ausverkauf Lissabons, an der – unbequeme Wahrheit – die deutschen Easy Jet-Touristen erheblich Mitschuld tragen: „Klar, man muss sehen, dass Portugal am Tourismus verdient und auch deshalb geht es uns besser als vor vielen Jahren“, wägt Pires, der in Graça, einem der betroffenen Viertel lebt, ab. „Doch wenn es so weitergeht, dann ist die ganze Innenstadt sehr bald ein einziges Boutique-Hostel und die Deutschen und Franzosen kommen hierher, um sich gegenseitig anzugucken. Der Charme, den die Stadt in meiner Jugend hatte, die alten, verfallenen Häuser, das verlieren wir rasant.“ Alteingesessene Bewohner werden nach Jahrzehnten mit Ultimaten der Investoren aus ihren Häusern vertrieben, ein ehemaliges Krankenhaus in der Alfama wird zu einer Luxus-Wohnanlage umgebaut. Kürzlich, auch das ist Thema in diesem ironischen Song, wollte er in seiner Stammkneipe einen Cafézinho trinken, doch die neue Bedienung verstand gar kein Portugiesisch.
Telmo Pires sucht Tiefe in seiner Umgebung und im Alltag, sucht Tiefe auch in sich selbst. Das zeigen allein die beiden Songs, die das Album umrahmen, auch sie hat er selbst geschrieben: Am Ende des Werks das ausdrucksstarke A Cappella-Stück „No Espelho“ über das Akzeptieren seiner selbst mit allen Fehlern. Und zu Beginn „Só Meu Canto“: „Es geht darum, dass uns nichts gehört auf dieser Welt. Nicht einmal die Liebe. Uns gehört nur diese innere Stimme. Und durch meine Stimme hindurch sehe ich meine Kunst, meine Musik, mein Leben. Der Fado ist mein Vehikel, mein sehr persönlicher Fado natürlich.“ Dieser sehr persönliche Fado von Telmo Pires, er hat es verdient, den Klischees und Gesetzen der Musikindustrie zum Trotz mehr Gehör zu finden.
Ambäck (CH): Chreiselheuer (Eigenverlag)
Mayra Andrade (Cabo Verde): Manga (Columbia)
Claire Antonini & Renaud Garcia-Fons (F/E): Farangi – Du Baroque À L’Orient (E-Motive Records)
Natacha Atlas (Ägypten/B/GB): Strange Days (Whirlwind Records)
Blick Bassy (Kamerun): 1958 (NoFormat)
Nicholas Britell (USA): OST If Beale Street Could Talk (Invada Records)
Chicuelo & Marco Mezquida (Catalunya): No Hay Dos Sin Tres (Galileo)
Roberto Fonseca (Kuba): Yesun (3ème Bureau)
Niels Frevert (D): Putzlicht (Grönland Records)
Kayhan Kalhor & Rembrandt Frerichs Trio (Iran/NL): It’s Still Autumn (Kepera Records)
Lakou Mizik (Haiti): HaitiaNola (Cumbancha)
Mísia (P): Pura Vida (Galileo)
Lydia Persaud (CAN): Let Me Show You (Next Door Records)
Roseaux (F): Roseaux II (Tôt Ou Tard)
Céline Rudolph (D/F): Pearls (Obsessions)
Javier Ruíbal (E): Paraísos Mejores (Karonte)
Shake Stew (A/D): Gris Gris (Traumton)
Salvador Sobral (P): Paris, Lisboa (Warner)
Vampire Weekend (USA): Father Of The Bride (Sony)
Patrick Watson (CAN): Wave (Domino Records)
„180 Tage in einem tiefen Traum, in tiefem Frieden, nicht wie einer, der schläft, nicht wie einer, der stirbt, aber fast.“ Salvador Sobral singt die Eingangszeilen seines neuen Albums in verletzlichem Falsett, und dazu scheppert und poltert das Schlagzeug wie ein verschleppter Herzschlag. Dieser Mann hat eine Menge hinter sich. Kurz nachdem er 2017 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, wird bekannt, dass sein eigenes Herz ihn nicht mehr lange am Leben erhalten würde. Kurzatmig, mit 25 Litern überflüssigem Wasser im Körper übersteht er kaum die Torturen des ESC, seine Schwester Luísa, Ko-Autorin des Siegertitels „Amar Pelos Dois“, fängt ihn auf, wo es geht.
Ein halbes Jahr zermürbender Warterei folgt. Doch Sobral findet einen Spender, und nach erfolgreicher Transplantation kehrt der heute 29-Jährige Schritt für Schritt ins Leben zurück, legt nun ein wunderbares neues Werk namens Paris, Lisboa vor. „Dieser erste Song auf dem Album steht für meine Katharsis“, sagt Sobral am Telefon aus Lissabon. Auch seine Sprechstimme hat dieses Empfindsame, Poetische, das ihn beim Singen so auszeichnet. „Es ist der Moment, in dem ich von Neuem starte, meine Wiedergeburt. Danach beginnt das eigentliche Album, frisch und leicht.“ Doch der Weg dorthin ist ein Kraftakt. Nach der OP geht er durch eine lange Reha-Phase, Sobral hört sich seine alten Alben an, versucht, die Kraft zum Singen zurückzugewinnen. „Natürlich hatte sich meine Stimme nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychologischer und emotionaler Ebene verändert“, erinnert er sich.
Der Spross aus einer portugiesischen Adelsfamilie begeisterte sich schon früh für Jazz, nahm an der Castingshow „Ídolos“ teil, studierte an der Taller de Músics in Barcelona. Seine Auffassung vom Genre ist allerdings eine sehr freigeistige: „Ja, ich sehe mich selbst als Jazzmusiker, aber ich habe einen ganzen Haufen Bands, und in jeder erforsche ich verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten. In meinem englischen Projekt Alexander Search bin ich eher ein Rocker, in einer anderen Band steht der Tanz im Vordergrund. Ich will ja schließlich nicht vor Langeweile sterben!“
Diese Experimentierfreude erklärt auch, dass er sich auf das Abenteuer ESC eingelassen hat. Heute sieht er diesen Ausflug mit seinem ganzen außermusikalischen Bohei sehr kritisch, spricht sogar davon, dass der Grand Prix „seine Prostitution“ war.
Wenn man Paris, Lisboa, Sobrals drittes Werk anhört, erkennt man schnell, dass er ein denkbar untypischer ESC-Sieger ist. Der Titel ist an „Paris, Texas“ von Wim Wenders angelehnt, dessen Filme Sobral mag, nicht musikalisch, aber wegen des Schwebezustands zwischen den beiden Orten. „In ihm befand ich mich die letzten achtzehn Monate, physisch und sentimental, denn meine Liebe lebt in Paris. Paris bedeutete für mich Befreiung nach dem Krankenhaus, endlich konnte ich wieder reisen! Ich ging ins Kino, in Museen, spazierte endlos durch die Straßen.“ Seine „Liebe“ ist die französische Schauspielerin Jenna Thiam, mit ihr ist er inzwischen verheiratet, sie hat das reizende Chanson „La Souffleuse“ für das Album beigesteuert.
Ein Album, das meist in Quartettbesetzung gekonnt durch die Stile etlicher Weltgegenden steuert, jazzige Improvisation mit englischem Songwriting und südamerikanischer Sonne verknüpft. Ein kubanischer Bolero erzählt vom Meer, ein Samba aus Brasilien, Sobrals größtes musikalisches Steckenpferd, wandelt sich in eine Jazzballade. Und ein fast philosophisches Liebesgedicht von Fernando Pessoa löst sich in spielerische Leichtigkeit. Schwester Luísa ist auch dabei, mit ihr singt er nur zur Harfenbegleitung die Miniatur „Prometo Não Prometer“. Die Geschwister verstehen sich blind, sangen schon als Kleinkinder stundenlang miteinander auf Urlaubsfahrten.
Der eigentliche Star ist Salvador Sobrals wandelbare Stimme, deren frühere Flexibilität er sich fast zurückerobert hat, wie er erzählt. „Während meiner Jazzausbildung habe ich gelernt, wie ich die Timbres von Caetano Veloso, Billie Holiday und Sílvia Pérez Cruz in einen großen Topf werfe, sie vermische und dann kam diese Stimme heraus.“ Schelmisch fügt er hinzu: „Ich bin ja nur ein Dieb.“ Aber ein sehr cleverer, kann man hinzufügen. Am Ende von „Paris, Lisboa“ mündet alles in einen ausgelassenen Tanz mit der kleinen Rajão-Gitarre aus Madeira, eine Erinnerung an einen Inselurlaub. Auf dieser roots- und popgefärbten Jazzscheibe, die kräftig untermauert, wie ein Musiker seine Schaffenskraft zurückerlangt hat, ist es ist die letzte, sonnigste Station. „Jedes Mal, wenn ich diese kleine Gitarre höre“, sagt Sobral, „denke ich an den Sommer in Madeira. Und dann muss ich lächeln.“