Neo-Soul-Flow aus London

Als Mitmusikerin von Prince machte sie zuletzt von sich reden, dann war sie fünf Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Bis sie sich im Februar mit einem Paukenschlag zurückmeldete: Mit dem BBC Symphony Orchestra kleidete Lianne La Havas ihr Repertoire in ein mächtiges, symphonisches Gewand. Zu hören auch einige neue Songs, Vorboten ihres dritten, selbstbetitelten Opus das jetzt erscheint (VÖ: 17.7.). Neue Band, neue Einflüsse von Radiohead bis Joni Mitchell und ein neuer Neo Soul-Flow: Zeit für ein telefonisches Update mit der 30-jährigen Südlondonerin.

„Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt, hatte noch niemals zuvor mit einem Orchester gespielt“, erinnert sich La Havas an ihren Abend mit dem Symphonieorchester. „Aber dann: Wow! Das hat mir eine so große Kraft verliehen, fühlte sich so befreiend an und ich war einfach extrem glücklich, mit einem der tollsten Klangkörper der Welt meine Songs zu spielen.“ „Befreiung“ ist tatsächlich auch der Überbegriff für ihr drittes Studiowerk, das sie in L.A. ersonnen, aber in London eingespielt hat.

Es ist mittlerweile schon acht Jahre her, dass die Tochter einer Jamaikanerin und eines Griechen in die Soulwelt mit ihrem Debüt „Is Your Love Big Enough?“ hineinexplodierte. Ihre sonnengetränkte und frische Ausstrahlung setzte sie in trotzigen Soulhymnen mit querstehenden Gitarrenriffs, genauso aber in charmanten, fast jazzigen Miniaturen um. Der Nachfolger „Blood“ peilte coolen R&B an, hatte aber eine etwas glatte Oberfläche. Beide Welten hat Lianne La Havas auf dem dritten Werk austariert. „Das erste Album war experimentell, sprang zwischen allen Genres, die ich mag, hin und her, das zweite war produzierter. Dieses neue Werk liegt in der Mitte, klingt sehr live, hat viele Gitarren, großen Gesang, berücksichtigt aber auch alle meine Studioideen“, analysiert La Havas. Selbstbewusst, aber nicht abgeklärt tönt „Lianne La Havas“. Viele der Stücke wurden in L.A. ersonnen, ihrer Lieblingsstadt zum Abhängen. Eingespielt wurde aber in London, mit Musikern, die von ihrem langjährigen Produzenten und Keyboarder Matt Hales zusammengestellt wurden, aus verschiedensten Bereichen, von Pop über afrikanischer Musik bis zu Jazz, Soul und HipHop.

„Ich wollte zunächst mal austesten, wie ich mit dieser neuen Band im Studio arbeiten kann, dafür nahmen wir uns ‚Weird Fishes‘ von Radiohead vor, einen Song, den ich schon ewig auf der Bühne gespielt hatte“, sagt La Havas. „Es war perfekt! Alle meine Hoffnungen haben sich erfüllt, denn jeder brachte seine Individualität ein. Diese Jungs haben mir wirklich geholfen, meinen Sound zu definieren. Es ist nicht einfach britischer Soul, sondern es klingt durch und durch nach mir.“ Ermutigt durch diese Synergieeffekte, begann La Havas Lyrics zu schreiben, die sehr intim von all dem erzählen, was sie durchlebte während der letzten Jahre. Vom Wiedergewinnen des Selbstvertrauens nach einem Tournee-Burnout im hymnischen „Bittersweet“. Von der liebevollen Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter, deren Lebensweisheiten sie mit dem hymnischen „Sour Flower“ ein Denkmal gesetzt hat. Und von neuer Liebe, die sich in „Read My Mind“ mit elegant-süffigem Neo-Soul-Flow die Bahn bricht.

Sie tut das mit einer Stimme, die immer noch ihr unverkennbares Vibrato besitzt, das nur Lianne La Havas hat, die sich aber auch verändert hat: „Meine Artikulation ist viel stärker geworden. Ich lasse keine Töne mehr aus, bin nicht mehr so nachlässig oder zu relaxt. Hoffentlich wird die Stimme, wie sie jetzt ist, für lange Zeit meine Stimme sein!“ Lianne La Havas souliger Planet hat auf diesem dritten Opus auch ein paar überraschende Satelliten eingefangen. „Green Papaya“ ist so ein Song, der unweigerlich an die kanadische Songwriterin Joni Mitchell denken lässt. Und tatsächlich: „Ich dachte immer, ich sei ein großer Joni-Fan, aber während der Aufnahmen lernte ich erstmals ihr Album ‚Hejira‘ kennen. Mir gefiel, wie sie und der Bassist Jaco Pastorius da ganz nackt, ohne Beats zu hören sind. Das inspirierte diesen Song, der ebenfalls ganz ohne Drums auskommt.“ Das ruhige, psychedelisch-folkige „Courage“ hat sie ihrer Liebe zum Brasilianer Milton Nascimento zu verdanken, es ist eine Auslotung der süffigen tropischen Harmonien der 1970er.

Und schließlich kann man immer wieder, in den Gesangsschichtungen und den Gitarrengrooves, auch ihren Mentor Prince durchhören. „Sein Tod war ein Schock für mich und es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke“, blickt La Havas zurück. „Jeder spricht von seiner rätselhaften Natur, aber ich entdeckte eine sehr liebevolle Seite an ihm und seinen hartnäckigen Willen, Bewusstsein und Kreativität immer noch mehr auszuweiten. Er unterbrach diesen Prozess in keiner Sekunde. Das kristallisierte sich alles in seiner Forderung heraus: ‚Sei du selbst, und rechtfertige dich niemals dafür.‘ Für mich ist das sein Vermächtnis.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 15.07.2020

Lianne La Havas: „Can’t Fight“
Quelle: youtube

Liannes klassischer Vorbote

Die großartige Lianne La Havas wird im Juli nach fünfjähriger Pause ihr drittes Album veröffentlichen. Gerade durfte ich mit ihr über Telefon in London sprechen. Bevor hier Ausführlicheres zum neuen Werk kommt, ein kleiner Vorgeschmack mit großem Besteck: Im Februar spielte sie einige ihrer neuen Songs schon mit dem BBC Symphony Orchestra unter Jules Buckley, „Bittersweet“ gehört zu ihnen. Atemberaubend.

Lianne La Havas with Jules Buckley & The BBC Symphony Orchestra: „Bittersweet“
Quelle: youtube

Klangreisen für Herbert George

Foto: George Charles Beresford, 1920

Ob er ein  Science Fiction-Autor war oder doch eher ein Meister der fantastischen Erzählung – darüber lässt sich trefflich debattieren: H.G.Wells wäre heute 150 Jahre alt geworden.

Sieben Reisen durch die Zeit zu Ehren seines bekanntesten Buches! Weiterlesen

Strelitzia reginae

lianne la havas - blood

Lianne La Havas
Blood
(Warner)

Das britische Fräuleinwunder mit dem burschikosen Charme ist zurück. Nein, die exotischen Strelitzien auf dem Cover trügen nicht – ihr zweites Album hat eine tropische Entstehungsgeschichte. Nach extensiven Tourneen nahm sie sich eine Auszeit auf Jamaika, um zu den Wurzeln ihrer Mutter Tuchfühlung aufzunehmen. Das blieb nicht ohne musikalische Folgen: Reggae- und Dancehall-Produzent Stephen McGregor bekam Wind von La Havas‘ Aufenthalt und avancierte schließlich zum Pultmeister vieler Tracks, neben ihrem alten Studiokumpan Aqualung und der Britsoul-Größe Jamie Lidell.

Was beileibe nicht heißt, dass „Blood“ ein Reggae-Album geworden ist. Von den ruhigen Balladen und teils folkverpflichteten Songs des Erstlings hat sich die Sängerin so gut wie verabschiedet. „Blood“ atmet in einer geerdeten Neosoul-Atmosphäre, die an eine Lauryn Hill oder an die frühe Alicia Keys denken lässt. La Havas‘ Stimme zeigt sich oft vom mädchenhaftem Timbre befreit, klingt reifer, abgeklärter. Etwa in der schreitenden urbanen Nummer „Green & Gold“, eine Selbstfindungshymne, in der sie sich in Metaphern sowohl vor der Karibik als auch vor Griechenland verbeugt. Die beiden Singles rufen gemischte Gefühle hervor: Wirkt „Unstoppable“ wie ein überfrachtetes Schwergewicht ohne Zielrichtung, findet man in „What You Don’t Do“ mit dem Vierviertel-Piano und den jubilierenden Chören tolle Motown-Anklänge. Wie ein gemächlicher Street Funk der Achtziger kommt „Tokyo“ daher, fließende E-Gitarren umspielen den Slap-Bass – nur hier und sonst nirgends hallt ein wenig das Tête-à-tête mit Prince nach.

Erinnerungen an frühere Songs beschwört das verträumte „Wonderful“ herauf, das über eine vergangene Liaison nachsinnt. Ebenso „Ghosts“: Zu jazzigen Gitarrenharmonien beklagt sie die hartnäckigen Geister der Vergangenheit. Von ihrem ausladenden Vibrato und ihrer explosiven Stimmkraft macht Lianne La Havas trotz muskulösen Arrangements selten Gebrauch, dann aber umso effektvoller – etwa in „Grow“, das nach ruhigen Gitarrenstrophen in einen mächtig polternden Refrain einschwenkt und das spirituelle Wachstum durch Liebe beschwört. „Blood“ ist angenehm frei von Zwängen, auf modische Sounds reagieren zu müssen, und scheut sich auch nicht, mit einem ruhigen, bewegenden Abschiedslied an einen „alten Mann“ zu enden. Es könnte ein Gruß an ihren jamaikanischen oder griechischen Opa sein. Trotz der Erdung in familiären Blutsbanden: An die bezaubernde, träumerische Spontaneität ihres Debüts kann Lianne La Havas mit „Blood“ nicht anknüpfen. Wohin sie dieses Coming Of Age-Album führen wird, wird auch sie selbst wohl erst auf dem Nachfolgewerk entscheiden.

Lianne La Havas: „What You Don’t Do“
Quelle: youtube

Listenreich: 2014

Die Jahresabrechnung.

Viel Spaß beim affirmativen Nicken und verständnislosen Kopfschütteln.
Und einen guten Rutsch!

ALBEN

jahresalben 2014
1. Simin Tander (Deutschland/Afghanistan): Where Water Travels Home (Jazzhaus Records/in-akustik)
2. The Gloaming (Irland/USA): The Gloaming (RealWorld/Indigo)
3. Susheela Raman (Großbritannien/Indien): Queen Between (World Village/Harmonia Mundi)
4. Tania Saleh (Libanon): A Few Images (Kirkelig Kulturverksted/Indigo)
5. Blitz The Ambassador (Ghana): Afropolitan Dreams (Jakarta/Groove Attack)
6. Iiro Rantala Trio (Finnland/Slowenien/Polen): Anyone With A Heart (ACT/edel)
7. Somi (Ruanda/ Uganda/USA): The Lagos Music Salon (Okeh/Sony)
8. Woima Collective (Deutschland): Frou Frou Roko (Kindred Spirits/Groove Attack)
9. Márcio Faraco (Brasilien): Cajueiro (World Village/Harmonia Mundi)
10. Kasai All Stars (DR Kongo): Beware The Fetish (Crammed/Indigo)
11. Masaa (Deutschland/Libanon): Afkar (Traumton/Indigo)
12. The Heliocentrics feat. Melvin van Peebles (GB/USA): The Last Transmission (Now Again/Groove Attack)
13. Eddi Reader (Schottland): Vagabond (Reveal/Rough Trade)
14. Noura Mint Seymali (Mauretanien): Tzenni (Glitterbeat/Indigo)
15. Prince (USA): Art Official Age (Warner)
16. Toco (BRA): Memoria (Schema/Groove Attack)
17. Springintgut & F.S.Blumm (Deutschland): The Bird And White Noise (Pingipung/Kompakt)
18. 9Bach (Wales): Tincian (RealWorld/Indigo)
19. Jeri Jeri (Senegal): 800% Ndagga (Ndagga/Indigo)
20. Medeski, Scofield, Martin & Wood (USA): Juice (Okeh/Sony)
21. Conor Oberst (USA): Upside Down Mountain (Nonesuch/Warner)
22. Otis Trio (Brasilien): 74 Club (FarOut/H’ART)
23. Meklit (Äthiopien/USA): We Are Alive (Six Degrees/Exil)
24. William Fitzsimmons (USA): Lions (Grönland/Rough Trade)
25. Pheno S. (Mali): Kani (SahelSounds)

TRACKS DES JAHRES

jahresernte tracks 2014
1. „Shababeek Beirut“ (Tania Saleh)
2. „Clouds“ (Prince & Lianne La Havas)
3. „Freedom“ (Iiro Rantala String Trio)

KONZERTE

jahresernte konzerte
1. Kate Bush, Hammersmith Apollo London, 17.9.
2. Jeff Lynne’s ELO, Hyde Park London, 14.9.
3. Turangalîla-Sinfonie, Konzerthaus Freiburg, 14.10.
4. Black Warriors, TFF Rudolstadt, 6.7.
5. Ed Motta, jazznojazz Zürich, 1.11.
6. Billy Bragg, Rosenfelspark Lörrach, 19.7.
7. Hossein Alizadeh, Kath. Akademie Freiburg, 2.11.
8. Simin Tander, Jazzhaus Freiburg, 6.4.
9. Fat Freddy’s Drop, ZMF Freiburg, 18.7.
10. Carminho, Augusta Raurica, 2.8.

FILME

jahresernte 2014 filme
1. Michael Kohlhaas (Arnaud Des Pallières, Frankreich)
2. Timbuktu (Abderrahmane Sissako, Mauretanien)
3. My Sweet Pepper Land (Hiner Saleem, Kurdistan)
4. Die Andere Heimat (Edgar Reitz, Deutschland)
5. Inside Lllewyn Davis (Ethan & Joel Coen, USA)
6. Grand Budapest Hotel (Wes Anderson, USA)
7. Melaza (Carlos Lechuga, Kuba)
8. Get On Up (Tate Taylor, USA)
9. Mittsommernachtstango (Viviane Blumenschein, Deutschland)
10. Snowpiercer (Bong Joon-ho, Südkorea)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION
jahresernte buecher 2014

1. John Steinbeck (USA): To A God Unknown
2. Taiye Selasi (Ghana): Ghana Must Go
3. Italo Calvino (Italien): Wenn Ein Reisender In Einer Winternacht (SZ Bibliothek)
4. José Saramago (Portugal): Das Zentrum
5. Michael Chabon (USA): Telegraph Avenue

NON-FICTION

1. Thomas Metzinger (Deutschland): Der Ego-Tunnel (Bloomsbury)
2. Burt Bacharach (USA): Anyone Who Had A Heart (Harper)
3. Bernie Krause (USA): Das Große Orchester der Tiere (Kunstmann)
4. Pim van Lommel (Niederlande): Endloses Bewusstsein (Knaur)
5. Graeme Thomson (Großbritannien): Under The Ivy – The Life & Music Of Kate Bush (Omnibus Press)
6. Iris Radisch (Deutschland): Camus (Rowohlt)
7. Byung Chul-Han (Südkorea): Duft der Zeit (transcript)
8. Douglas Rushkoff (USA): Present Shock (Current)
9. Hajo Düchting (Deutschland): Paul Klee – Painting Music (Prestel)
10. Giulia Enders (Deutschland): Darm Mit Charme (Ullstein)

Wolkenmädchen

lianne-la-havasFoto: okayplayer.com

2013 erzählte sie mir im Interview, sie arbeite mit Prince, wollte aber nichts Genaues verraten. Seit wenigen Tagen ist nun mit der Geheimniskrämerei vorbei. Dass das Teamwork von Lianne La Havas und Mr. Nelson in eine so pure, himmeljauchzende Schönheit münden würde, wie mit der Single „Clouds“ – hätte ich nicht erwartet. Zumal ich mit dem Herrn über Paisley Park öfters Probleme hatte.  Diese paar Minuten aber möchte ich derzeit auf Endlosschleife hören.

Prince feat. Lianne La Havas: „Clouds“
Quelle: musicplayon

Ich bin gespannt, ob sich Minneapolis bei London revanchieren wird, dann, wenn das neue Album der griechisch-jamaikanischen Songstress erscheinen wird. Unterdessen geizt Miss La Havas noch mit neuem Material, covert lieber Radiohead und Little Dragon. Mal vor Leuten, mal vor Kühen.

Lianne La Havas live at Glastonbury 2013: „Weird Fishes“
Quelle: youtube
Lianne La Havas, Barn Sessions: „Twice“
Quelle: youtube