Hallräume aus São Paulo

Tim Bernardes
Mil Coisas Invisíveis
(Psychic Hotline/Cargo)

Brasilien war in den späten 1960ern Vorreiter einer psychedelisch gefärbten Popsprache. Gerade die junge Szene São Paulos führt diese Tradition heute fort. Schon beim Betrachten des Covers von Mil Coisas Invisíveis (1000 unsichtbare Dinge) wird klar, dass der Songwriter Tim Bernardes aus der Zeit gefallen ist. Optisch genau wie akustisch: Sein Retro-Sound funkelt in leuchtenden Hymnen, die geschwängert sind von sonnigem Streicherflirren (“Fases”). Weiche Knackbässe sind ein unverzichtbares Mittel und Schwebeharmonien, die dem Kopf von Beach Boy Brian Wilson entsprungen sein könnten.

Dazu leben viele der Songs von einer Tiefendynamik, die man im Zeitalter des permanenten Lautstärke-Limits kaum mehr gewohnt ist. Ein fein ausdifferenzierter Atem strömt da, der auch lange Sologesangs-Passagen zu Gitarre oder Piano zulässt. Stücke wie “Meus 26” und “Olha” sind Meisterwerke, die an Scott Walker und Terry Callier zugleich erinnern. Eine fantastische Wide Screen-Soundarchitektur, die immer wieder in folkige Nischen zurückfällt (“Velha Amiga”). Und das alles krönt Bernardes durch seine oft mit der Grenze zum Falsett kokettierende Stimme. Ein Kandidat auf die Platte des Jahres?

© Stefan Franzen

Tim Bernardes:“Mistificar“
Quelle: youtube

(he)artstrings #10: Epischer Ghettowalzer

Terry Callier
„Dancing Girl“ (Terry Callier)
(aus: What Color Is Love, 1972)

Es gibt eine ganz einfache Textzeile in diesem Stück, die mich immer wieder mitnimmt und die eine tiefe Wahrheit in sich trägt. Nachdem Terry Callier von seinem Traum erzählt, in dem ihn das tanzende Mädchen an einen Ort der Freiheit trägt, schwenkt sein Blick auf das Ghetto – und er sieht „Bird“,  Charlie Parker beim Improvisieren auf dem Sax. „All those notes won’t take the pain away“, singt Callier. Und er hat Recht: Du kannst so viele Noten spielen oder singen wie du willst, der Schmerz wird davon nicht weggehen. Aber du kannst mit ihm sprechen, mit dem Schmerz.

Terry Callier hat das in etlichen seiner Songs getan – und meistens hat er deutlich weniger Noten dazu gebraucht als Bird. Manchmal aber hat dieser Mann mit dem ruhigen, herzenswarmen Bariton sich zu kleinen Soul-Opern aufgeschwungen, mit irisierenden Streichern, glitzernder Celesta und aufbrausenden Bläsern. „Dancing Girl“ ist mit seinen neuen Minuten nur noch mit gutem Willen als „Song“ zu fassen, ist Folkwalzer, Jazz-Scat, orchestraler Soul in einem.

2002 habe ich Terry Callier in Baden-Baden getroffen. Am Schluss des Interviews signierte er meine Platte und schrieb mir seine Telefonnummer in Chicago auf eine Serviette – man weiß ja nie.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA
Heute kann man Terry Callier nicht mehr anrufen. Auf den Tag vor vier Jahren hat der sicherlich sensibelste Folksoul-Barde der Musikgeschichte die Welten gewechselt. Ich denke, er weiß jetzt, welche Farbe die Liebe hat.

Terry Callier: „Dancing Girl“
Quelle: youtube

Klick hier zum Hintergrund von (he)artstrings