Im Kleid der Nacht

Sílvia Pérez Cruz
Vestida De Nit
(Universal Spain)

Über den romanischen Kulturraum hinaus hat ihr Name kaum eine Bedeutung. Vielleicht ist das ein Beweis dafür, wie wenig Europa immer noch zusammengewachsen ist. Wie sonst könnte es möglich sein, dass man wenige Hundert Kilometer von ihrer Heimat wenig bis nichts von ihr weiß, wo die Katalanin doch – und da lege ich mich fest – über eine Stimme verfügt, die rückblickend vom Jahre 2100 zu einer der schönsten des Jahrhunderts gehören wird.

Bevor ich überhaupt über ihre Biographie oder ihre neue Platte spreche, möchte ich zwei ihrer Versionen des mexikanischen Klassikers „Cucurrucucú Paloma“ voranstellen. Klar, dass sie von der Lesart Caetano Velosos aus dem Film „Hable Con Ella“ inspiriert sind, doch in der unmittelbaren Fokussierung auf das Duospiel geht die Katalanin noch weiter. Es reicht, sich einen der beiden Clips anzuschauen, in jedem steckt eigentlich alles, was musikalische Zwiesprache überhaupt ausmacht.

Sílvia Pérez Cruz & Raül Fernández Miró: „Cucurrucucú Paloma“
Quelle: youtube

Sílvia Pérez Cruz & Mario Mas: „Cucurrucucú Paloma“
Quelle: youtube

Sílvia Pérez Cruz wird 1983 in Palafrugell geboren und erhält zunächst klassischen Gesangs- und Saxophonunterricht. Sie ist doppelt musikalisch vorgeprägt: Ihr Vater ist der galicische Sänger Cástor Pérez, ihre Mutter die Poetin, Komponistin und Sängerin Glória Cruz. Die erste Band, mit der sie in Erscheinung tritt, ist das Frauenquartett Las Migas, das sie bereits während ihrer Studienzeit in Barcelona mitbegründet und mit dem sie sich vor allem auf dem Flamenco-Parkett erprobt. Es folgen verschiedenste Experimente, etwa ein Teamwork mit dem Hang-Spieler Ravid Goldschmidt oder eine Platte mit der spanischen Popband Immigrasons.

Mit dem Bassisten Javier Colina taucht sie intensiv in eine Jazzerfahrung ein, bevor 2012 ihre erste Soloplatte unter dem Titel 11 De Novembre, Geburts- und Todestag ihres Vaters, erscheint. Das Debüt ist ein intimes Tagebuch mit teilweise Hörspielcharakter: Regenrauschen, Fahrradgeräusche und Samples aus „Moon River“ sind hineingewoben in die ausschließlichen Eigenkompositionen, leise Klanggedichte mit Gitarren, Englischhorn, Blechbläsern und Streichern. Familienmitglieder steuern Chöre bei, ein Loblied auf die Mutter, Schwester und Oma wird zum Samba. Ihrer berührenden Sopranstimme hört man den Schmerz über den Verlust des viel zu früh verstorbenen Vaters noch an. Produziert hat der Gitarrist Raül Fernández Miró (Refree), der auf dem Folgewerk Granada auch Duopartner wird.

Hier schlagen die beiden, durchaus in einer Indie-Folk-Philosophie, einen Spagat, der von Schumann-Liedern über Piafs Liebeshymne und einer psychedelischen Nummer aus dem Tropikalismus Brasiliens bis zur glühenden Vertonung von Féderico Garcia Lorca in „Pequeño Vals Vienés“ reicht – stets in einer nackten, aufs Skelett reduzierten Textur, die auch mal in harsche Stromgitarrenattacken münden kann. Wenig später geht Pérez Cruz unter die Schauspielerinnen, übernimmt die Hauptrolle in „Cerca De Tu Casa“, einem unter die Haut gehenden Sozialdrama über die Schicksale jener Spanier, deren Existenz durch die Immobilienblase vernichtet wird – den Soundtrack (Domus) schreibt sie gleich mit.

Und nun Vestida De Nit, ihre atemberaubende Visitenkarte für die klassische Sphäre. Mit dem Streichquintett um den Cellisten Joan Antoni Pich arbeitete Pérez Cruz seit mehr als drei Jahren auf großen Bühnen zwischen Cádiz und San Sebastian, bis sie sich nun zur Studioeinspielung entschloss. Das Repertoire umfasst etliche Lieder, die sie bereits in anderen Fassungen über Jahre erprobt hat, doch in diesem Kontext, Arrangements von vier verschiedenen Musikern, entfalten sie ungekannten Glanz und ein ausgearbeitetes Relief. Die „Tonada de Luna Lleva“, ursprünglich ein lyrischer Sehnsuchtsgesang an den Mond des venezolanischen Volkssängers Simón Díaz, wird hier in große Serenadendramaturgie gekleidet. „Loca“ zieht mit seinen Stimmenschichtungen über dem simplen Akkordwechsel in einen Vokalstrudel hinein, unentrinnbar und voll glühender Verzweiflung, und „Mechita“ lebt von pfiffigen Dialogen zwischen tänzerischer Stimme und Pizzicati der Instrumente.

Pérez Cruz‘ Affinität zum lusophonen Kulturraum zeigt sich in dem Wagnis, einen Amália Rodrigues-Fado zu covern, völlig freigeräumt von divenhaftem Pathos. Und ein fast spirituelles Geleit für ihren Vater, ebenfalls auf Portugiesisch, ist die Neufassung ihres „Não Sei“, das die Streicher introspektiv verfeinern. Mit „Ai, Ai, Ai“ veredelt sie Latinpop à la Shakira, und die bolivianisch-brasilianische „Lambada“ , Welthit der späten Achtziger, bekommt eine ganz andere Färbung, die die melancholische Grundsubstanz herausmeißelt.

Selbst das seit Leonard Cohens Tod ad absurdum genudelte „Hallellujah“ lässt sich hier wieder gut hören, gekrönt von einem Arrangement, das subtile Anleihen bei Dvořák und Ravel nimmt. Der emotionale Kern der ganzen Scheibe ist allerdings das Titelstück: Vor mehr als dreißig Jahren haben es Sílvias Eltern zusammen geschrieben, eine Habanera, die mit zarten Naturbildern von zimtbestreuten ruhigen Buchten und Wiegen aus Muschelschalen erzählt. Eine Gratwanderung, hier nicht in Kitsch abzurutschen – doch Pérez Cruz überhöht diese Lyrik zu einer zeitlosen Nostalgie, die zu Tränen rührt.

Sílvia Pérez Cruz ist in der Kategorie der größten Stimmen Iberiens anzusiedeln, schon jetzt, mit 34, vereinigt sie die Facetten einer Maria del Mar Bonet, einer Mariza, einer Lola Flores – und ich schreibe das im Bewusstsein, dass all diese Vergleiche hinken. Sie vereint die kulturellen Spektren und Sprachen von Lissabon bis Barcelona, plus Seitenpfade ins Latino-Gefilde, mit einer Gefühlsintensität, die nur ganz wenige Sängerinnen unserer Zeit erreichen. Mit ihrem Sopran kann sie mediterrane Sonnenkraft, südamerikanische Ausgelassenheit und die Archaik Jahrhunderte alter Arabesken bündeln. Ein Kritiker kommentierte, er würde sich gerne in eine Ameise in ihrem Haar verwandeln, um immer ihre Stimme hören zu können. Man muss es ja nicht übertreiben. Es genügte schon, ein größeres Publikum entdeckte sie endlich auch in unseren Breiten.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Vestida De Nit“ (live in San Sebastian)
Quelle: YouTube


Silvia Perez Cruz live in unserer „Nähe“:
30.5. Teatre Fortuny, Reus/Catalunya
13.7. Festival Les Suds, Arles/F
weitere Termine auf silviaperezcruz.com

Kataloniens schönste Stimme

silvia perez cruz

Sílvia Pérez Cruz
Domus
(Universal Spain)

Es gibt eine Handvoll Stimmen auf dem Planeten, die mich unmittelbar zu Tränen rühren – ihre gehört dazu. Sílvia Pérez Cruz ist hierzulande – wenn überhaupt – nur Jazzhörern bekannt, weil ein Album mit dem Bassisten Javier Colina in den deutschen Vertrieb kam. Doch die 33-jährige ist weitaus vielfältiger, singt katalanischen und südamerikanischen Folk, Flamenco, Pop, kann vor der Textur einer Bigband bestehen und im Duo mit einer Konzertgitarre fast unhörbar wie Espenlaub zittern. Die Hauskonzerte, die sie auf youtube gestellt hat, die Session mit ihrem Vater in einer Kneipe, aber vor allem ihre Jahrhundertversion von „Cucurrucucú Paloma“, haben mich völlig umgehauen: Da sitzt diese Frau in einer Scheune, ihre Gitarre, und auch das Banjo vom Begleiter Raül Fernández sind ein wenig verstimmt, sie findet kaum den Einstieg, stockt später im Text, verliert fast den Rhythmus, eine Fliege krabbelt ihr über die Hand. Doch dieses spontane Setting ist berührender, echter als jede Konzertsituation, und wenn der Ruf der Taube kommt, setzt der Takt aus, und da ist nur noch eine Innerlichkeit, die einem das Herz zerreißt. Und man denkt sich einen ganz schlichten Satz:  So muss Musik eigentlich sein.

Ihre in Katalonien und Spanien gerade erschienene neue CD basiert auf einem Soundtrack, den sie für den Schicksalsfilm Cerca De Tu Casa über die Eurokrise in Spanien geschrieben hat. Fürs Album hat sie das Rohmaterial zu melancholisch-folkigem Ohrenschmaus ausgebaut. Die Songs leben von der vokalen Empfindsamkeit mit filigranem Vibrato, und für ihren Gesang schafft sie von Stück zu Stück verschiedene Settings: Harfe, zarte Gitarrentöne, kreiselndes Piano, Streichquartett, auch mal ein paar rustikale Chöre oder ein akkordeongetriebener Lambada-Rhythmus. Domus gibt es nur über Import –  ein großes Versäumnis der deutschen Musikindustrie.

Sílvia Pérez Cruz: „Verde“
Quelle: youtube