Was 2014 mit Konzertberichten zum Electric Light Orchestra und Kate Bush in London begann, hat sich in nahezu 900 Beiträgen über die Roots Music, Jazz, Songwriting, Pop und auch gelegentliche Ausflüge in die Klassik in Interviews, Konzertberichten, Rezensionen – und leider auch vielen Nachrufen auf zwischenzeitlich gestorbene Künstler – zu einem hoffentlich immer lesenswerten, spannenden und vielseitigen Online-Journal jenseits der Zwänge der Musikindustrie gemausert.
Mir hat es immer großen Spaß gemacht – und ich gehe trotz der schwierigen Zeiten in so vielen kulturellen und weltpolitischen Lebensbereichen mit Schwung ins zweite Jahrzehnt.
Feiern möchte ich die 10 Jahre Green Belt of Sound mit einer ganzen Reihe von Reviews, die allesamt intime und teils auch spirituelle Musik herausheben, die in diesem Herbst aktuell ist. Denn gerade aus der Ruhe erwächst oft große Kunst.
In diesem Sinne – lauscht der Stille…
Euer Stefan
Die kleine Bouzouki und der große Konzertflügel: Ob das funktioniert? Joel Lyssarides und Georgios Prokopiou überzeugen uns auf Arcs And Rivers (ACT/edel) aufs Feinste davon. Die versonnenen Dialoge zwischen dem schwedischen Pianisten und dem griechischen Langhalslautenisten lassen alle Zorbas-Klischees hinter sich. Die Bouzouki wird zum freigeistigen Tänzer, zum schwebenden Akteur über den Ostinati des Klaviers („Echoes“), findet sich auch in ein barockes Ausgangsmotiv hinein. In Stücken wie „Kamilieriko Road“ übernimmt sie dann auch mal kraftgeladen die Führung durch eine klar dem Rembetiko zuzuordnende Atmo. Eine echte und äußerst fruchtbare Begegnung.
Der Kamancheh-Virtuose Misagh Joolaee hat sich mit seiner Gattin, der klassischen Pianistin und J.S.Bach-Spezialistin Schaghajegh Nosrati, und dem Perkussionisten Sebastian Flaig zum Joolaee Trio zusammengefunden. Morgenwind (GWK Records) zeigt, wie sich die verschiedenen Sujets der Akteure in vorrangig Eigenkompositionen zu einer neuen Klangsprache verzahnen. Auch hier erstaunlich, wie ein fragiles, obertonreiches Instrument wie die Stachelgeige und das Volumen eines klassischen Flügels in ein gleichberechtigtes Miteinander finden. Schmerzlich-getragene Töne wie in „Be Hich Diyar“ (den iranischen Protestierenden gewidmet) wechseln mit tänzerischer Rasanz („Mehrabani“, „Erzincan Düz Halayi“). Eine Fuge, herausragender Moment der CD, wird mit orientalischer Skala gebaut und überrascht mit dem Klang der Steinmarimba. Flaigs Schlagwerk agiert mehr farb -als beatgebend, Joolaees Geige hingegen übernimmt in Pizzicati und Klopftechniken auch perkussive Aufgaben. Dieses Trio wirft Ost-West-Klischees spielerisch über Bord. Anspieltipp: das von einem zarathustrischen Ritual befeuerte „Sharar“.
In eine klanglich sehr weit entfernte Welt entführt uns das koreanische Frauenduo Dal:um. Korea ist Wölbbrettzither-Land, und auf Coexistence (Tak:til/Glitterbeat) lässt sich eine zwar von der traditionellen, teils höfischen Gugak-Musik inspirierte, aber durch und durch moderne, catchy Zwiesprache von Gayageum und Geomungo erleben, zwei Vertretern dieser weitverzweigten Familie. Das Hartholz des Blauglockenbaums bietet das Baumaterial für diese Zithern, die kraftgeladen, harsch, perkussiv und dennoch lyrisch klingen, Durch das Bending der Saiten entsteht gar so etwas wie eine “bluesig-soulige” Anmutung. Die transparente Unterhaltung der beiden Instrumente lebt von der klaren kontrapunktischen Rollenverteilung zwischen Bass und Melodiebereich. Und plötzlich tönt Fernost gar nicht mehr so fern.
Wenige von uns verfügen über synästhetische Fähigkeiten, können Musik also in Beziehung setzen zu Farben oder gar Gerüchen. Der Klarinettist David Orlowsky zählt zu den Glücklichen und versucht auf Petrichor (Warner Classics) mit seinem Trio an Gitarre und Percussion, für ihn prägende Düfte in Töne zu übersetzen. Das Odeur von Marrakesch manifestiert sich in einer geheimnisvoll geschwungenen Nostalgie über Marimbaphon, Lissabons Gassengeruch verdichtet sich in einer schreitenden Walzermelancholie. Doch nicht nur Orte verfangen in Orlowskys Miniaturen: „Patchouli“ oszilliert zwischen Flamenco- und Klezmer-Atmo, „Lavender“ weht wie eine wehmütige Abendmeditation in die Ohren. Am schönsten ist aber, wie sich der Zitronenduft klanglich verfestigt – gar nicht säuerlich, sondern als zärtlich tänzelnder Schwebezustand.
Dass sie sich – zusammen mit Perkussionist Paco de Mode bereits zum dritten Mal zum Trio-Gipfel auf CD treffen, zeugt von ihrer tiefen Verbundenheit und ihrem blinden Verständnis. Und so machen der menorquinische Pianist Marco Mezquida und der barcelonische Gitarrist Chicuelo auch Del Alma (Galileo) wieder zu einer spannungsvollen Zwiesprache, die zwar Flamenco-Intros und Rumba-Rhythmen einwebt, aber immer wieder die Souveränität hat, die Farben des Blues‘ und pianistische Einschwenkungen in die Música Latina zu unternehmen. Beide Akteure schöpfen aus ihrem hohen Können, das in einem Stück wie „Alalimón“ zu perfekter Verschmelzung führt und sie im Finalstück „El Faro De Los Deseos“ schon fast auf die Höhe eines romantischen Kunstliedes hebt.
Weit mehr als eine Kuriosität ist das palästinensisch-jordanisch-äthiopisch-finnische Trio Wishamalii. Ihr Debüt Al-Bahr (Nordic Notes) zentriert sich um das Klavier des Komponisten Kari Ikonen, das auf arabische Stimmung getunet ist. Die verhangene, ornamentale Stimme von Nemad Battah, wahrhaft ausgeklügelte Texturen mit persischem Hackbrett, Oud, zarter Geige, luftiger Trommelarbeit und flexiblen Synths schaffen eine Farbpalette, die in der arabischen Musik ziemlich einzigartig ist. Vielleicht gibt die Heimat Helsinki ja dieses atmosphärische Extra-Quäntchen hinzu.
Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Vulture Prince“ (Verve) Ghalia Benali / Constantinople / Kiya Tabassian (Tunesien/Iran/Kanada): „In The Footsteps Of Rumi“ (Glossa/Note 1) Tim Bernardes (Brasilien): „Mil Coisas Invisíveis“ (Psychic Hotline/Cargo)
Georg Breinschmid (Österreich): „Classical Brein“ (Preiser) Sona Jobarteh (Gambia): „Badinyaa Kumoo“ (Eigenverlag) Misagh Joolaee & Sebastian Flaig (Iran/Deutschland): „Qanat“ (Pilgrims Of Sound)
Eva Kess (Deutschland): „Inter-Musical Love Letter“ (SRF 2) Kolinga (Frankreich/Republik Kongo): „Legacy“ (Underdog Records/Broken Silence) Lady Blackbird (USA): „Black Acid Soul“ (Foundation Music/BMG)
Leyla McCalla (USA/Haiti) „Breaking The Thermometer“ (Anti-) Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya (Katalonien): „Trencadís“ (Propaganda Pel Fet) Marialy Pacheco (Kuba/Deutschland): „Reload“ (Wanderlust Recordings/Zebralution)
Abe Rábade (Galicien): „Botánica“ (Karonte/Galileo) Júlio Resende (Portugal): „Fado Jazz“ (ACT(edel) Emiliano Sampaio Jazz Symphonic Orchestra (Brasilien/Österreich): „We Have A Dream“ (Alessa Records)
Oumou Sangaré (Mali): „Timbuktu“ (World Circuit/BMG) Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Hae Ke Kae – Where Is Home“ (Warner) Somi (USA/Ruanda/Uganda): „Zenzile – The Reimagination of Miriam Makeba“ (Salon Africana)
Heute ist der 40. Todestag von Mahsa Amini. Die mutigen jungen Leute im Iran, unter ihnen vor allem Frauen, lassen ihre Proteste gegen das Mullah-Regime nicht verebben. Wir sind in Gedanken bei ihnen.
Solidarität in musikalischer Form kommt auch vom iranischen Kamancheh-Spieler Misagh Joolaee, der mit seiner Frau, der Pianistin Schaghajegh Nosrati, und dem Perkussionisten Sebastian Flaig eine Widmung an die für Leben und Freiheit demonstrierenden Frauen komponiert hat. „Be Hich Diyar“ ist von Poesie des persischen Dichters Saadi aus dem 13. Jahrhundert inspiriert und übersetzt sich mit „keiner Welt zugehörig“.
Misagh Joolaee / Sebastian Flaig Qanat (Pilgrims Of Sound)
Sehr rege zeigt sich der innovative iranische Stachelgeigen-Spieler: Nach einem Duo- und einem Solo-Album, beide mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert, legt er mit Qanat zügig nach. Mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig verfolgt Misagh Jolaee seinen Weg weiter, die Traditionen der Kamancheh, diesem filigranen, obertonreichen Instrument der persischen Klassik, zu einer Weltsprache zu weiten. Dass er hier eine Menge neuer Bogen- und Zupftechniken, ungewöhnliche Oberton-Effekte und Skalen auslotet, mag dem Fachhörer auffallen. Doch auch ohne spezialisiertes Wissen zieht einen diese CD in den Bann.
Das geschieht durch einen spirituellen Sog, der so feingewoben sein kann wie im schmerzlich dahinfliegenden “Bid-e Majnoun”, wo in jedem einzelnen Bogenstrich nuancierte Gefühlsregungen aus den Saiten gehaucht werden. Aber auch so virtuos wie im Titelstück, das durch eine Melodie aus Khorasan inspiriert wurde und dessen Titel auf das symbolträchtige Bild einer Wasserschöpftechnik in der Wüste verweist. Beschwörende Tiefe mit Vokaleinlage verströmt “Sohud”, nobles Schreiten “Bazgast”. Und in “Torbat” verschmilzt Flaigs perkussive Varianz auf der Bechertrommel Tombak mit der Kamancheh zu einem einzigen polyrhythmisch tanzenden Körper.
Steve Cropper (USA): „Fire It Up“ (Provogue/Mascot Label Group) Carwyn Ellis & Rio 18 (Wales): „Yn Rio“ (Légère Records/Zebralution) Florian Willeitner, Georg Breinschmid, Igmar Jenner (Österreich/Deutschland): „First String On Mars“ (ACT/edel)
Renaud García-Fons (Frankreich/Katalonien): „Le Souffle Des Cordes“ (e-motive records/Galileo) Yumi Ito & Szymon Mika (Schweiz/Polen): „Ekual“ (Hevhetia/Unit) Joan As Police Woman, Tony Allen, Dave Okumu (USA/Nigeria/Österreich): „The Solution Is Restless“ (PIAS)
Auf dem Cover seiner neuen CD schaut Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus, in die Weite, auf einen unbekannten Punkt. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend, sehnsüchtig. Eine Haltung, die die Philosophie hinter dem Solo-Werk des iranischen Stachelgeigen-Virtuosen schön im Bild eingefangen hat. Denn Unknown Nearness ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in sich trägt.
Diese Fragen haben sich schon im Titel niedergeschlagen. „Darin liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.
Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.
Der 38-Jährige aus der nordiranischen Provinz Mazandaran erlernte das persische Skalensystem, den Radif auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Formen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich von der Verankerung in der Tradition bilderstürmend losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und noch nicht versuchten Rhythmen.“
Foto: Jo Titze
Das offenbart sich gleich zu Beginn von Unknown Nearness: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Staccato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel von Parviz Meshkatian.
Ein Name, der im Gespräch mit Joolaee immer wieder fällt, er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen aufspannt mit Höhen und Tiefen.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, ähnliche Innerlichkeit.
Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in Balance zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, gipfelnd in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus.
Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf Flamenco-Spuren? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig. „In Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel mehr als die Gitarre!“
Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch in der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar aus Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet. Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, das ist ein treffendes motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.
Konzerthinweis: Misagh Joolaee spielt im Rahmen der Kleinen Freiburger Musiktage (11.-13.6.) am kommenden Sonntag, 13.6. um 17h mit seinem Duopartner, dem Perkussionisten Sebastian Flaig im Kaisersaal des Historischen Kaufhaus Freiburg.
Für viele ist sie die Königin der persischen Instrumente: Die Kamancheh, eine Stachelgeige aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz mit winzigem Resonanzkörper, wird aufgrund ihres obertonreichen, melancholischen Klanges nahe der menschlichen Stimme gerühmt. „Der Wechsel zwischen der hohen und tiefen Lage ist wie ein Dialog zwischen einem reifen, weisen Menschen und einem jüngeren, energetischen”, sagt Misagh Joolaee (sprich: misaag dschulai). „Mein erster Meister pflegte immer zu sagen: ‚Ich weine oft mit der Kamancheh, mit der europäischen Geige komme ich nur selten an diesen Punkt.‘“
Auch Joolaee, einer der spannendsten Vertreter der jungen Generation von Kamanchehspielern, hat diesen unmittelbaren Vergleich der Streichinstrumente erfahren: Mit sieben Jahren beginnt er, den reichen Schatz der persischen Kunstmusik, den Radif, auf der Violine zu erlernen. Doch als er über seinen jüngeren Bruder die Kamancheh entdeckt, wird ihm klar: Diese Musik kann viel besser auf der persischen „Schwester“ umgesetzt werden. Als Teenager entwickelt er parallel aber ein Interesse für die abendländische Klassik, Beethovens Violinkonzert habe ihn total umgehauen, verrät er. Die Beschäftigung mit zwei Musikwelten und die Beherrschung beider Instrumente bringt ihn auf einen außergewöhnlichen Weg: „Ich fing an, meine Hörerlebnisse in der europäischen Musik auf die Kamancheh zu übertragen. Doppelgriffe und Bogentechniken der Violine wie Staccato und Spiccato, die bisher nicht üblich waren. Außerdem inspirierten mich Zupftechniken von der Langhalslaute Setar, später auch das Anreißen der Saiten (Rasgueado) aus dem Flamenco.“ Diese Erschließung neuer Klangräume ist eine Pionierarbeit.
Wie unzählige andere freigeistige Künstler stößt Misagh Joolaee 2006 an seine Grenzen im Alltag unter dem iranischen Regime. Um sich entfalten zu können, entschließt er sich zur Ausreise nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin. Doch das Erbe des Iran, insbesondere seiner Heimatprovinz Mazandaran im Norden, trägt er weiter im Herzen: „Die Region hat eine eigene abgeschlossene Musiktradition entwickelt, mit einer Gesangstechnik, die ganz außergewöhnlich ist. Diese „Mazari“-Tradition hat stark auf die persische Kunstmusik eingewirkt“, sagt Joolaee. Die Sehnsucht des Exilanten nach seiner ersten Heimat ist in sein Solo-Debüt, die CD „Ferne“ eingeflossen. Anfang des Jahres wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert. Joolaee hat sie mit dem aus Freiburg stammenden Perkussionisten Sebastian Flaig eingespielt, einem profunden Kenner der orientalischen Musik, der auch schon mit den berühmten bulgarischen Frauenstimmen musiziert hat.
Von melancholischer Meditation über Trennung bis hin zu schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen reicht das Ausdrucksspektrum der Kompositionen, die die beiden in greifbar intensiver Zwiesprache live im Studio eingespielt haben. „Man strebt als Künstler immer an, so ein kleines Fenster von Transzendenz zu erreichen, das schafft man vielleicht ein paar wenige Male im Leben““, sagt Joolaee. Mit Flaig sei er diesem Zustand nahe gekommen, besonders in einem Stück namens „Berauscht“, das den verzückten Zustand der Sufis in ihrer Suche nach dem Höchsten abbildet.
Misagh Joolaee hat diese stille Zeit des zweiten Lockdowns genutzt, seine zweite CD aufzunehmen, in der er die Auslotung neuer Techniken in freieren Improvisationen noch konsequenter vorantreibt. Zur Kehrseite der Pandemie zählen natürlich auch abgesagte Konzerte: Das Haus der Kultur, ein rühriger Verein unter Leitung des iranischen Konzertpianisten Shafagh Nosrati, hatte einen Abend mit ihm und Flaig im Freiburger Humboldtsaal gebucht, der entfallen muss. Doch nach etlichen Bemühungen, so der aktuelle Stand, konnte das Konzert durch Verlegungen in die nahe Schweiz gerettet werden.
CD: „Ferne“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Live: Misagh Joolaee & Sebastian Flaig, Kleines Museum Klingental Basel, 28.11., 20h (Beschränkung auf 15 Personen) und Kulturscheune Liestal, 29.11. 14h30 und 17h, (Beschränkung auf 30 Personen), Infos: www.hausderkultur.com
Misagh Joolaee: „Fern der Geliebten“
Quelle: youtube
Auch wenn sie nur mit einem winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz ausgestattet ist, erzeugt die persische Kamancheh einen einzigartigen Klang mit rauschhaften Obertönen, filigran, wispernd, schmerzlich. Der in Deutschland lebende iranische Stachelgeige-Virtuose Misagh Joolaee aus der nördlichen Provinz Mazandaran hat das Spektrum des Instruments spannend erweitert: Verblüffende neue Techniken lotet er aus, vor allem den Pizzicato-Gebrauch hat man auf dieser Geige selten so gehört. Joolaee bricht aber auch die herkömmlichen Skalen der persischen Kunstmusik auf, er arbeitet mit ungewöhnlichen Intervallen und mit Griffen auf mehreren Saiten. Das ist mehr als Experiment und Wagnis, das ist erfolgreiches, gelungenes Ausloten anderer Möglichkeiten, wie sich auf seinem Album Ferne zeigt.
Der Ausdruck der elf Stücke reicht von intensiver Innerlichkeit („Gefährten“), melancholischer Meditation über Trennung und Distanz (ganz stark in seinem Schmerz: „Fern der Geliebten“) bis hin zu virtuoser Komplexität („Unverhofft“), schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen („Berauscht“). Begleitet wird der Iraner vom Freiburger Perkussionisten Sebastian Flaig, der auch schon mit den bulgarischen Frauenstimmen und Lisa Gerrard musiziert hat. Flaigs frische Schlagwerkkunst, immer in enger Achtsamkeit auf die Geige, erzeugt eine kongeniale Partnerschaft. Ferne ist ein berührender, wortloser Spiegel von intensiven Seelenzuständen – eines Liebenden und eines Exilanten zugleich. (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)