Listenreich II: 22 Platten für 2022

Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Vulture Prince“ (Verve)
Ghalia Benali / Constantinople / Kiya Tabassian (Tunesien/Iran/Kanada): „In The Footsteps Of Rumi“ (Glossa/Note 1)
Tim Bernardes (Brasilien): „Mil Coisas Invisíveis“ (Psychic Hotline/Cargo)

Georg Breinschmid (Österreich): „Classical Brein“ (Preiser)
Sona Jobarteh (Gambia): „Badinyaa Kumoo“ (Eigenverlag)
Misagh Joolaee & Sebastian Flaig (Iran/Deutschland): „Qanat“ (Pilgrims Of Sound)

Eva Kess (Deutschland): „Inter-Musical Love Letter“ (SRF 2)
Kolinga (Frankreich/Republik Kongo): „Legacy“ (Underdog Records/Broken Silence)
Lady Blackbird (USA): „Black Acid Soul“ (Foundation Music/BMG)

Leyla McCalla (USA/Haiti) „Breaking The Thermometer“ (Anti-)
Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya (Katalonien): „Trencadís“ (Propaganda Pel Fet)
Marialy Pacheco (Kuba/Deutschland): „Reload“ (Wanderlust Recordings/Zebralution)

Abe Rábade (Galicien): „Botánica“ (Karonte/Galileo)

Júlio Resende (Portugal): „Fado Jazz“ (ACT(edel)
Emiliano Sampaio Jazz Symphonic Orchestra (Brasilien/Österreich): „We Have A Dream“ (Alessa Records)

Oumou Sangaré (Mali): „Timbuktu“ (World Circuit/BMG)
Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Hae Ke Kae – Where Is Home“ (Warner)
Somi (USA/Ruanda/Uganda): „Zenzile – The Reimagination of Miriam Makeba“ (Salon Africana)

Thee Sacred Souls (USA): „Thee Sacred Souls“ (Daptone)

Vieux Farka Touré & Khruangbin (Mali/USA): „Ali“ (Dead Oceans/Cargo)
Trio SR 9 (Frankreich): „Déjà Vu“ (NøFormat/Indigo)

Maya Youssef (Syrien/Großbritannien): „Finding Home“ (Seven Gates)

Schmerzbewältigung auf Urdu

Foto: Blythe Thomas

Sie ist die erste Musikerin mit pakistanischen Wurzeln, die einen Grammy erhalten hat. Ausgezeichnet wurde Arooj Aftab für ihr drittes Album Vulture Prince, ein meditativer, bewegender Songzyklus, in dem sie Verlust und Schmerz mit Poesie auf Urdu und mit Gästen aus aller Welt einfängt.

Wer sich für eine Stunde in Ruhe begibt, und Aftabs neues Werk Vulture Prince auf sich wirken lässt, erfährt: Klang ist mehr als Worte und lässt eine Welt jenseits von intellektuellem Sinnverständnis zu. Die acht Songs sind immer bewegend und können an bestimmten Stellen des Albums zu Tränen rühren. Im April erhielt dieses Album mit einem Grammy höchste internationale Musikweihen, und das, obwohl kaum jemand der Hörenden im Westen Urdu verstehen wird.

Urdu ist nicht nur die Amtssprache Pakistans, es ist auch von jeher die Sprache der Sufis aus diesem Kulturkreis, die mit ihrer Poesie die Sehnsucht nach dem Göttlichen in romantische Metaphern gefasst haben. „Es hat sich immer gut angefühlt, auf Urdu zu singen“, bekennt Arooj Aftab. „Die Urdu-Poeten sagen komplizierte Dinge in schönen, einfachen, minimalistischen Bildern. Ich bin eine minimalistische Komponistin, und ich mag es nicht, wenn es eine Menge Worte gibt und eine lange Geschichte. Wenn dagegen viel mit wenigen Worten gesagt wird, ist das für mich perfekt. Eigentlich lasse ich den Sound die Geschichte erzählen.“

Arooj (sprich: aruudsch) Aftab kam zwar schon als Teenagerin aus der pakistanischen Metropole Lahore in die USA, ist aber tief geprägt von der Musikkultur ihrer ersten Heimat. In Europa kennt man die vielen starken Frauenstimmen Pakistans kaum: Abida Parveen, Iqbal Bano oder Begum Akhtar standen immer im Schatten des großen Nusrat Fateh Ali Khan, der den Qawwali, den leidenschaftlichen Gesang der Sufis dominierte. Für Aftab sind diese Frauen aber „powerhouses“, Kraftwerke, die sie bei der Suche nach ihrem eigenen Timbre immer begleitet haben. Am renommierten Berklee College of Music in Boston absolvierte sie dann ein Jazzstudium, interessierte sich dabei besonders für die freieren, elektronischen Formen der Sparte. Eines ihrer Alben hat sie lediglich auf Synthesizer- und Gitarren-Klangflächen sowie Stimmenschichtungen aufgebaut, und erzählt damit die Geschichte der betörenden Sirenen der Antike.

Mit „Vulture Prince“ nun fasst Aftab ihr pakistanisches Erbe, ihr Jazzvokabular und ihre experimentelle Seite zusammen. Als “post-minimalistisch, jazzig und semi-klassisch“ bezeichnet sie diesen Songzyklus, der in einer Phase von weltpolitischem und privatem Verlust und Schmerz entstand: „Es ist der Spiegel meines persönlichen Lebens, der Spiegel der Pandemie, von Genoziden, die überall auf der Welt passieren, es geht um Depressionen und Krankheiten. Dann aber auch um die Welt, die dich überrascht, die dich dazu auffordert, weiterzumachen, dir sagt, dass du immer noch wunderbare Dinge machen, Menschen inspirieren kannst. Es ist eine Platte, die nicht losgelöst von den Ereignissen in ihrem eigenen La-La-Land schwebt.“

„Vulture“, der Geier aus dem Titel, hat für sie als mythologisches Tier eine ambivalente Symbolkraft. Er ist in den alten Geschichten königlich, wird bejubelt, aber auch gefürchtet, da er Andere seiner Art frisst. Genau wie ein Prinz, der parallel zu seiner Royalität oft Bösartigkeit, Abweichlerisches ausstrahlen kann. „Da meine Musik auch die dunklen Dinge umfasst, fühlte sich dieses kombinierte Bild als Überschrift für das Album gut an“, sagt Aftab.

Von der Produktionsweise ist es ein typisches Pandemie-Album: Niemals standen zwei Musiker gleichzeitig im Aufnahmeraum. Dass „Vulture Prince“ trotzdem nicht nach Patchwork sondern nach Homogenität klingt, führt Arooj Aftab auf den weiten Horizont der Mitwirkenden zurück: Die Harfenistin Maeve Gilchrist hat zwar einen keltischen Hintergrund, ist aber denkbar weit von jedem Irish Folk-Klischee entfernt. Badi Assad hat das Brasil-Idiom längst abgelegt und konnte auf ihrer Gitarre die richtigen Phrasen finden, um zusammen mit einem Streichquartett in „Diya Hai“ den Worten des indisch-türkischen Dichters Mirza Ghalib zu begegnen. Immer Weltbürgerin von Beginn ihrer Karriere an war Anoushka Shankar, die die Sitar zu einem globalen Instrument erhoben hat – ihr Spiel bereichert das Finalstück „Udhero Na“. „Für mich war wichtig, dass die Persönlichkeiten der Musiker ihre Instrumente übersteigen. Dass sie ihre Farbe einbringen, aber davon ausgehend wie Wasser agieren können.“

Welchen freien Umgang sie mit der Sufi-Poesie pflegt, lässt sich schön in „Last Night“ ablauschen: Die Verse des Mystikers Rumi sind hier in einen trabenden Reggae gekleidet, dessen Rhythmus sich zeitweise aber fast verflüchtigt. Am intensivsten wird das Album in einem Text der Frauenrechtlerin und engen Freundin Annie Ali Khan, die über Misogynie und Unterdrückung der Frauen in Pakistan recherchierte und sich 2018 das Leben nahm. Unterm Eindruck ihres Todes schrieb Arooj Aftab „Saans Lo“ zu einem Gedicht, das ihr Khan hinterlassen hatte. „Im Text heißt es: ‚Die Welt kann dich vor äußerst harte Herausforderungen stellen, kann dir Menschen wegnehmen, die du liebst und bewunderst. Atme, atme, atme – und versuche, dich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen.‘“ Am Ende klingt das Stück in einem friedlichen, orgelartigen Hauchen aus. Arooj Aftabs Album ist wie ein langer, tiefer Atemzug gegen diesen großen Schmerz.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 1.7.2022

Arooj Aftab: „Saans Lo“
Quelle: youtube