Jeder Ton ein Kuss

Marisa Monte
ZMF Freiburg
02.08.2024

„Samba, Bob Marley und Stevie Wonder haben in meinem Innern immer in Frieden gelebt“, hat sie dem Autor dieser Zeilen einmal gesagt. Aufgewachsen im Umkreis von Rio de Janeiros Sambaschule Portela war Marisa Monte seit ihren frühen Alben der 1990er immer eine Brückenbauerin zwischen den Rhythmen Brasiliens und dem international verständlichen Pop. Sie ist eine der wenigen Brasil-Stars, die in Rio, New York und Berlin fast gleichermaßen bekannt sind. Jetzt ließ die 57-Jährige auf dem ZMF ihre Laufbahn schon mal Revue passieren.

Stimmige Gesamtkunstwerke mit leicht theatralischem Touch sind Montes Bühnenmarkenzeichen: Sie überrascht im eleganten schwarzen Flamencokleid samt Cordobés-Hut, wirkt unglaublich gelöst und kommunikativ. Ihre Hände fließen, ihre Augen scheinen im Rund des vollen Zeltes wirklich Jede und Jeden zu suchen. Und diese Stimme! In ihrer fruchtigen Bittersüße und ihrer schmerzlichen Wehmut immer präzise. Mit dem zeitlosen Porträt einer (freiheits-)liebenden Frau, „Maria de Verdade“ hat sie das Publikum sofort – die zahlreichen jungen, textsicheren Brasilianerinnen sowieso, die mit verzückten „Linda“- und Maravilhosa“-Rufen die Pausen garnieren. Marisa Monte ist ihre Taylor Swift.

Die eher ruhigen Songperlen aus Montes Fundus bestimmen große Teile der Show: das geheimnisvolle „Infinito Particular“ mit schwebenden Harmonien, der zirpende Walzer „Vilarejo“, oder das rhythmisch fast freie „Diariamente“ mit sprachspielerischen Plopp-Versen. Zu Brasiliens heimlicher Hymne, dem fast hundert Jahre alten „Carinhoso“, faltet sie die Hände zur Rose und zaubert chromatisches Melos. Zum Hinterhof-Samba „De Mais Ninguém“ mit dem Ukulelen-Instrument Cavaquinho und Brasiliens Mandolinen-Variante Bandolim wird an der Seitenlinie versunken getanzt. Hier ist jeder Ton ein Kuss, jede Phrase eine Umarmung.

Die Band bleibt dienend und unauffällig: Schöne Bassläufe schickt der unglaublich relaxte Altmeister Dadi Carvalho, Gitarrist Davi Moraes streut mal ein glitzerndes E-Gitarren-Solo ein, textiert sonst viel mit Liegetönen, und Drummer Pupillo ist eine Blaupause für Ruhepuls. Über der Perkussion thront ein Siebzehnjähriger: Pretinho da Serrinha tupft mit Conga, Holzblock, Tamburin und Brummtopf, ist auch ein Meister des Cavaquinho. Seine Feinheiten hört man selten, denn wieder einmal bleibt das Dauerärgernis ZMF-Sound: Angenehm in der Lautstärke zwar, aber so seltsam abgemischt, dass die Musiker wie hinter Gaze agieren, und Montes Stimme oft in der Band untergeht, statt sich über sie erhebt. Das tut dem Tanzfinale keinen Abbruch: Songs aus dem „Tribalistas“-Projekt wie der Ohrwurm „Já Sei Namorar“ mit Jubelrefrain und die wendige Funkyness von „A Menina Dança“ reißen alle von den Stühlen. Rio zu Gast am Mundenhof inklusive tropischem Regen – ein Abend purer Glückseligkeit.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 05.08.2024

Listenreich I: 21 Songs für 2021

Amanda Gorman (USA): „The Hill We Climb“
Quelle: youtube / ABC News
Susana Baca (Peru): „Sorongo“
Quelle: youtube
Steve Cropper (USA): „Fire It Up“
Quelle: youtube
Dos Santos (USA): „City Of Mirrors“
Quelle: youtube
Carwyn Ellis a Cherddorfa Genedlaethol y BBC (Wales): „Ynys Aur“
Quelle: youtube
Thiago França feat. Verônica Ferriani (BRA): „Carnaval Do Arco-Íris“
Quelle: youtube
Dobet Gnahoré (Côte D’Ivoire): „Yakané“
Quelle: youtube
Yumi Ito & Szymon Mika (Schweiz/Polen): „Float & Drift“
Quelle: youtube
Leléka (Ukraine): „Karchata“
Quelle: youtube
Sadiqa Madadgar (Afghanistan): „O Yak Shab Barani“
Quelle: youtube / Zeitgenössische Oper Berlin
Marisa Monte (BRA): „Medo Do Perigo“
Quelle: youtube
Gabriele Muscolino (Italien): „Il Ragazzo Che Saliva Sugli Alberi“
Quelle: youtube
Muthoni Drummer Queen feat. Sauti Sol (Kenia): Love Potion
Quelle: youtube
Katherine Priddy (UK): „Indigo“
Quelle: youtube
Guillem Roma & Sílvia Pérez Cruz (Katalonien): „La Profecia“
Quelle: youtube
Tania Saleh (Libanon): Korneh Ni Albak“
Quelle: youtube
Ballaké Sissoko & Camille (Mali/Frankreich): „Kora“
Quelle: youtube
Becca Stevens & The Secret Trio (USA/Türkei/Macedonien/Armenien): „California“
Quelle: youtube
Urban Village (Republik Südafrika): „Dindi“
Quelle: youtube
Martha Wainwright (Kanada): „Malaise De Falaise“
Quelle: youtube
Barbora Xu (Tschechien/Finnland); „Olin Ennen“
Quelle: youtube

 

Listenreich II: 21 Alben für 2021

Rodrigo Amarante (Brasilien): „Drama“ (Polyvinyl)
Susana Baca (Peru): „Palabras Urgentes“ (RealWorld)
Purbayan Chatterjee (Indien): „Unbounded“ (Sufiscore)

Steve Cropper (USA): „Fire It Up“ (Provogue/Mascot Label Group)
Carwyn Ellis & Rio 18 (Wales): „Yn Rio“ (Légère  Records/Zebralution)
Florian Willeitner, Georg Breinschmid, Igmar Jenner (Österreich/Deutschland): „First String On Mars“ (ACT/edel)

Renaud García-Fons (Frankreich/Katalonien): „Le Souffle Des Cordes“ (e-motive records/Galileo)
Yumi Ito & Szymon Mika (Schweiz/Polen): „Ekual“ (Hevhetia/Unit)
Joan As Police Woman, Tony Allen, Dave Okumu (USA/Nigeria/Österreich): „The Solution Is Restless“ (PIAS)

Misagh Joolaee (Deutschland/Iran): „Unknown Nearness“ (Pilgrims Of Sound)
Fabia Mantwill Orchestra (Deutschland): „EM.perience“ (Xjazz Records/Membran)
Meretrio (Brasilien/Österreich): „Choros“ (Sessionwork Records)

Marisa Monte (Brasilien): „Portas“ (Sony)
Muthoni Drummer Queen (Kenia): „River“ (Yotanka)
Schaghajegh Nosrati (Deutschland): „Johann Sebastian Bach – Partitas BWV 825-830“ (Cavi Music/Harmonia Mundi)

Katherine Priddy (UK): „The Eternal Rocks Beneath“ (Navigator)
Tania Saleh (Libanon): „10 A.D.“ (Kirkelig Kulturverksted)
San Salvador (Frankreich): „La Grande Folie“ (Pagans/MDC/Galileo)

Becca Stevens & The Secret Trio (USA/Türkei/Armenien/Macedonien): „Becca Stevens & The Secret Trio“ (Ground Up)
Martha Wainwright (Kanada): „Love Will Be Reborn“ (Cooking Vinyl)
Barbora Xu (Tschechien/Finnland): „Olin Ennen“ (Nordic Notes)


…und in Ermangelung umfassender Live-Ereignisse wie in normalen Jahren hier immerhin 6 wirklich herausragende Konzerte:

Ian Fisher (USA) – Mensagarten Freiburg, 26.7.

Misagh Joolaee & Sebastian Flaig (Iran/Deutschland) – Innenhof Museum für Neue Kunst, Freiburg, 13.8.

Çemil Qoçgîrî (Kurdistan/Deutschland) – Innenhof Museum für Neue Kunst, Freiburg, 14.8.

Ron Carter Foursight Quartet (USA) – E-Werk Freiburg, 25.9.

John Sheppard Ensemble „LUFT“ (Deutschland) – Kirche Maria Magdalena Freiburg, 17.10.

Michel Portal & Roberto Negro (Frankreich/Italien) – Reithalle Offenburg, 18.11.

 

Dreiminutenfluchten


Die Schreckensmeldungen aus Brasilien übertrumpfen sich: Umweltzerstörung, hohe Raten von COVID-Toten und ein Präsident, der mit inhumaner Politik herumwütet. Wie schafft man es da, ein Album mit 16 unbeschwerten Popsongs aufzunehmen, in denen um Natur, Liebe, Kunst geht? Das wollte ich von Marisa Monte wissen, die nach zehn Jahren Solo-Pause Portas (Sony) vorlegt.

In Rio de Janeiro ist es noch morgens, zudem Winter, fröstelnde 17 Grad. Doch Marisa Monte zeigt sich als Frühaufsteherin und in Plauderlaune. „Der Kern dieses neuen Albums sollte auf persönlichen Begegnungen beruhen“, beschloss sie noch Anfang 2020. „Denn es gibt Dinge, die du nur durch das Live-Spielen mit anderen Musikern ausschöpfen kannst, Dynamik, Intensität, das Zusammen-Atmen“, Es ist die bittere Ironie der Pandemie, dass genau dieses Produktionsverfahren für die 54-Jährige dieses Mal nicht möglich sein sollte. Oder doch?

In Rio umgab sie sich mit einer Kern-Band, bestückt mit den Kindern von Berühmtheiten, deren Eltern in den 1970ern etwa die legendäre Band Novos Baianos formten, auch Carlinhos Browns Sohn Chico, mit dem sie etliche Songs geschrieben hat, ist integraler Bestandteil. Und nach dem Einspielen von basic tracks wurde es trotz Corona transkontinental: „Mein langjähriger Freund und Produzent Arto Lindsay war gerade in New York“, erzählt Monte weiter. „Er stellte dort eine Band zusammen. Über Zoom konnte ich wegen dem Delay zwar nicht mit ihnen zu spielen, aber ich konnte in ihren Spielprozess eingreifen, Kommentare zur Geschwindigkeit, der Form, den Arrangements machen. So gelang es uns trotzdem, den Geist des Miteinandermusizierens aufrechtzuerhalten.“

Weitere Spuren wurden in Lissabon mit einem Orchester, in L.A., Barcelona und Madrid mit weiteren Gästen, etwa aus Jorge Drexlers Umfeld hinzugefügt. Drei Arrangeure verschiedener Generationen verpflichtete Monte, unter ihnen auch der legendäre Arthur Verocai, der schon Anfang der Siebziger die Samba Soul-Szene mitbegründet hatte. „Ich liebe das generationenübergreifende Arbeiten“, sagt Monte. „Und wenn du dir das Publikum meiner Shows anguckst, dann siehst du, wie es genau das widerspiegelt.“ Das Ergebnis heißt „Portas“ und beherbergt 16 Songs im klassischen Popsong-Format von drei Minuten, aufgefächert in einem stilistischen Kaleidoskop.

Eine süffige Bossa Nova („Espaçonaves“) und das mit indischer Flöte angehauchte „Praia Vermelha“ siedeln da nebeneinander, es gibt kapverdische Anflüge, mit „Em Qualquer Tom“ einen jazzigen Walzer. „A Lingua Dos Animais“ könnte dem Blues Brothers-Soundtrack entlehnt sein, und „Vagalumes“ ist eine grandiose, wortspielerische Miniatur, die die Glühwürmchen als winzigen und wichtigen Bestandteil des Ökosystems preist. „Man kann nicht über brasilianische Musik sprechen ohne diese Vielfalt, diese Mischung zu thematisieren“, erklärt Monte und verweist zudem auf ihre biographische Prägung: Stevie Wonder, Bob Marley und Michael Jackson haben in ihrem Innern immer in Frieden gelebt mit dem Klangkosmos Brasiliens.

Um den Kontakt mit ihren Fans auch in pandemischen Zeiten zu wahren, hat sie zu jedem einzelnen Songs gleich zwei Videoclips produziert. Der gelungenste ist sicher der zum Titelsong „Portas“, in dem eine Menge Türen geöffnet werden: „Den Song habe ich schon vor vier Jahren geschrieben“, sagt sie. „Und jetzt kam er heraus in diesem verrückten, tragischen Moment, den wir alle durchleben müssen, den ich mir damals aber noch gar nicht ausmalen konnte.“ Für sie stehen die Türen als Symbol der Veränderung, der Wahlmöglichkeiten, und jetzt ganz konkret auch als Chancen der Heilung. „Wenn wir von Nahem draufschauen, dann kann uns diese Zeit nur als eine erscheinen, in denen es eine wahre Schichtung von Krisen gibt, gerade in Brasilien: Die Covid-Krise, die ökologische, die politische und ideologische, man negiert die Wissenschaft, hat einen aggressiven Umgang in der Sprache miteinander. Aber ich denke, da das Leben zyklisch verläuft, werden bald alle Bewegungen, die mit Diversität, Minderheit und Umwelt zu tun haben, eine noch größere Blüte erfahren.“

Während sich viele ihrer Kolleginnen und Kollegen entschieden haben, auf Konfrontationskurs gegen die Politik zu gehen, hat Monte einen fast taoistisch zu nennenden Weg gewählt. Immer wieder betont sie während des Interviews: „Ich habe mich einfach geweigert, dass die ganze Negativität und Ignoranz um mich herum in meine Arbeit eindringen darf!“ Ihr Widerstand ist ein poetischer, und sie hat ihn zu kleinen Klangfluchten von drei Minuten geformt. Und bei 16 dieser kleinen Fluchten landet man ja immerhin schon bei fast einer Stunde.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #140

Marisa Monte: „Medo Do Perigo“
Quelle: youtube

Radiotipp: Der Choro – Brasiliens unbekannte Seele

Pixinguinha, das Choro-Genie

SWR 2 Musikstunde
Der Choro – Brasiliens unbekannte Seele
19. – 23.07.2021, 9h05 – 10h

von Stefan Franzen

Als „musikalische Seele Brasiliens“ bezeichnete ihn Heitor Villa-Lobos: Der Choro entstand vor rund 150 Jahren aus der Begegnung von europäischen Tanzformen mit afrikanischen Rhythmen. Unverkennbar ist er durch seine originelle Instrumentation und seinen melodisch-harmonischen Reichtum. Illustre Persönlichkeiten wie Pixinguinha, Jacob do Bandolim, Waldir Azevedo oder Garoto haben ihn geprägt.

Johann Sebastian Bachs und Antonio Vivaldis Musik wurden in sein Kleid gesteckt. Jazzer wie Wynton Marsalis oder Popgrößen wie Marisa Monte ließen sich durch ihn verführen. Und er hat regelrechte Hits hervorgebracht: „Tico-Tico No Fubá“, „Carinhoso“ (Brasiliens heimliche Nationalhymne) und „Brasileirinho“. Die Musikstunde geleitet durch die wechselvolle Entstehung und Geschichte des Choro mit Seitenpfaden in den Samba und den Jazz, den Barock und die Moderne.

Teil 1: Vom Königshof auf Rios Straßen (19.07.)
Teil 2: Pixinguinha, das Choro-Genie (20.07.)
Teil 3: Ein zweifacher Wettstreit (21.07.)
Teil 4: Flirt mit Barock, Inspiration der Moderne (22.07.)
Teil 5: Wandelbar und zeitlos (23.07.)

Nach der Ausstrahlung ist die Sendereihe ein Jahr im Podcast nachzuhören: Der Choro – Brasiliens unbekannte Seele (1-5) – SWR2
Außerdem wird sie in der ARD Audiothek zum Abruf bereitstehen.

Hamilton de Holanda & Wynton Marsalis: „Um A Zéro“
Quelle: youtube

Ne me quitte pas, Brasil

Maria Gadú & Tribalistas
Baloise Session Basel, 2.11.2018

Am letzten Sonntag wurde in Brasilien ein rassistischer, frauenfeindlicher und homophober Ex-Leutnant ins Präsidentenamt gewählt, der sich gerne an die Zeit der Militärdiktatur erinnert. Während dieser düsteren Jahre (1964-85) hatten viele der prominenten Songschreiber und Dichter unter täglicher Gängelung und Zensur zu leiden, mussten teilweise ins Exil gehen. Ein Abend mit großen brasilianischen Musikern, wie jetzt bei der Baloise Session, kann derzeit nicht losgelöst von diesen aktuellen Ereignissen erlebt werden. Zumal sich fast alle Künstler des Landes gegen den Wahlsieger positionierten, jetzt ihre Schockstarre überwinden müssen.

Da ist zum Beispiel Maria Gadú: In der Heimat ist die 31-Jährige als offen lesbische Künstlerin Rollenmodell für Vielfalt und Toleranz. Als er sie entdeckte, nannte der große Caetano Veloso sie einen „Jungen mit der Stimme einer Prinzessin“. Doch Gadú hat sich ganz signifikant gewandelt. Nur mit ihrem Drummer Felipe Roseno kommt sie auf die Bühne, und allein ihr Outfit, roter Arbeiter-Overall und Kriegsbemalung einer Xingu-Indigenen, ist schon eine Kampfansage. Wo sie zu Beginn der Karriere ihre Lieder noch oft im lyrischen Folkpop-Ton sang, fährt sie jetzt mit einer schrundigen Telecaster-Gitarre lautere Geschütze auf. Mit viel Hall-Effekten und ausgefuchster Schlagwerkvarianz ersetzt das Duo in intensivem Dialog eine ganze Band. Gadús Stimme kann noch immer sehr sanft und vollmundig klingen, aber im richtigen Moment auf zornig und ruppig umschalten.

Als sie sich direkt ans hochprozentig brasilianische Auditorium wendet, beschwört sie den demokratischen Zusammenhalt und stellt klar, dass sie natürlich auch weiterhin mit ihrer Ehefrau zusammenleben wird. Völlig unbegleitet lässt sie eine kraftstrotzende Version des berühmten Jacques Brel-Songs folgen, der auch zum Flehen an die Heimat wird: „Ne me quitte pas, Brasil.“ Dafür erntet sie fast geschlossen stehende Ovationen. Und gleich danach der zweite Höhepunkt mit dem afrobrasilianischen „Axé Acappella“: Sie hatte das Lied schon für die Großdemos vor der Fußball-WM geschrieben – es wird nun als Schlachtruf der Straße hochaktuell bleiben.

Nach diesem starken Auftritt wird der ausgelassen feiernde Saal in die Siebziger zurückkatapultiert: Schreiend bunt und hippie-esk treten die Tribalistas an, Brasiliens schillerndste Songwriter-Supergroup, nach ihrem zweiten Album innerhalb fünfzehn Jahren erstmals überhaupt auf Tour. Alle drei für sich schon Stars, kann man ihre gemeinsame Kreativkraft mit dem Output von Lennon-McCartney vergleichen: jeder Song ein Dreiminuten-Ohrwurm-Meisterwerk, melodienselig und mit cleveren Harmonien bestückt. Als Fee im lila Samtmantel singt Marisa Monte ihre schönen Sopranschleifen, Carlinhos Brown wirkt mit seinem Perkussionsarsenal wie ein tropischer Sultan im Glitzerfrack, und der mit abgrundtiefem Bass gesegnete Arnaldo Antunes inszeniert sich in einer Art Priesterkutte.

Jammerschade: Vor allem dem Unisono-Gesang, aber auch dem fantasiereichen Akustikzauber gehen in einem rumpeligen, breiigen Sound die Feinheiten verloren. Und davon gibt es viele: Afrobrasilianische Glocken, marokkanische Kastagnetten, Horntröte, Vogelpfeife. Glockenspiel und Melodica zieren die Arrangements, die immer dann grandios aufleuchten können, wenn sich der Drummer aus der Begleitband zurückhält. Die Botschaft freilich, sie ist auch hier unüberhör- und sehbar: Bekenntnis zur Regenbogen-Pracht statt furchtgesteuerte Politik.

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 5.11.2018

Maria Gadú: „Ne Me Quitte Pas“ live
Quelle: youtube

Triângulo maravilhoso

15 Jahre mussten wir warten – bis Brasiliens schönste Ménage à trois wieder ins Studio ging. Über das zweite Album der Tribalistas schweigt der Kritiker vorerst in Verzückung: zeitlos schöne Popmusik auf einer Stufe mit den Beatles – mindestens.
Obrigado,  Marisa, Carlinhos & Arnaldo!

Tribalistas: Baião Do Mundo“
Quelle: youtube

Jobim zum Neunzigsten

carminho jobim

Carminho
Canta Jobim
(Warner)

Heute wäre Antônio Carlos Jobim, Erfinder der Bossa Nova, 90 Jahre alt geworden. Portugals jüngster Fado-Superstar wagt zum Jubiläum den Sprung über den Atlantik nach Rio. Ein Spagat zwischen tropischer Coolness und lusitanischem Pathos: In den impressionistisch geprägten Balladen wie „Sabiá” oder „Modinha” gestaltet die expressive Stimme aus Lissabon die Melancholie grandios aus. In „Luiza“ schafft sie es, die Wagnerianische Schwüle herauszuarbeiten. Ein gestalterischer Höhepunkt ist „Estrada Do Sol“: Im Duett mit Marisa Monte umwinden, flattern und schweben die beiden Stimmen tatsächlich diese Sonnenstraße entlang. In „A Felicidade” oder „Meditação“ wird deutlich, dass die pathetische Phrasierung des Fado in der brasilianischen Sphäre auch bemüht klingen kann, und der gealterte Samba-Poet Chico Buarque kann in „Falando De Amor“ nur bedingt neben der jungen Kollegin glänzen. Die Instrumentalabteilung mit Jacques Morelenbaum und den Jobim-Nachkommen (Sohn Paulo an der Gitarre und Enkel Daniel am Piano) ist allerdings über jeden Zweifel erhaben: Unter diesem Aspekt werden Erinnerung an das Jahrhunderttribut „Casa“ wach, das Jacques und Paula Morelenbaum vor 15 Jahren mit dem Japaner Ryuichi Sakamoto eingespielt haben.

Carminho & Marisa Monte: „Estrado Do Sol“
Quelle: youtube

(he)artstrings #6: Inbrunst gegen Trockenheit

marisa-monte

 Marisa Monte
„Segue O Seco“ (Carlinhos Brown)
(aus: Verde, Anil, Amarelo, Cor-de-Rosa & Carvão, 1994)

Mit Rose & Charcoal (so der kurze englische Titel des Albums) und Carlinhos Browns Alfagamabetizado hat meine Brasilien-Affinität ihren Lauf genommen. Etliche Jahre, bevor ich selbst das erste Mal hingeflogen bin, reimte ich mir Vieles übers Hören von Liedern wie diesem zusammen – und natürlich war dann nachher alles ganz anders. Die brasilianische Musik ist mir bis heute in all ihren Schattierungen geblieben, von Choro über Bossa bis zum Experimental-Pop. Und Marisa Monte, die ich inzwischen auch interviewen konnte, steht mit Paula Morelenbaum unantastbar im Olymp der Frauenstimmen des Landes.

„Segue O Seco“ ist ein inbrünstiges Flehen um Regen, eine persönliche Ansprache an den Himmel, dass er doch endlich die Tropfen hinuntersenden möge in den Sertão, das knalltrockene Hinterland des Nordeste. Die erbarmungslose Dürre, die es nicht kümmert, dass der Bach und der Pfad längst ausgetrocknet sind und sogar das Schicksal vertrocknet, sie wird hier grandios mit tränenreichem Akkordeon, spindeldürrem Musikbogen Berimbau und klagenden Afro-Chören ausgestaltet.

Marisa Monte: „Segue O Seco“
Quelle: youtube

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Tropischer Fado-Flirt

carminhoFoto: Leo Aversa

Carminho ist Portugals größte Fadosängerin der heutigen Generation. Mit ihrem Quartett eröffnet die 30-jährige am 1.10. die Saison im Lörracher Burghof und bringt ihr drittes Album Canto mit. Hier folgen zur Einstimmung Auszüge aus zwei Interviews, die ich mit Carminho in den letzten Monaten geführt habe. Weiterlesen