Fliehkraft aus dem Fado

cristina-branco                                                                     Foto: Pedro Ferreira

Als Nationalgenre übt der Fado in Portugal eine solche Gravitation aus, dass es schwierig ist, sich konsequent von ihm zu lösen. Cristina Branco hat es geschafft, genügend Fliehkraft zu entwickeln, indem sie sich mit der Indierock-Szene zusammengeschlossen hat. Kurioserweise ist Menina (VÖ 6.1.2017) gerade dadurch ihr reifstes Album geworden. In Köln konnte ich Cristina Branco zu ihrem neuen Werk befragen.

Auf Ihrem letzten Album Alegria sind Sie in die Schuhe von verschiedenen Persönlichkeiten geschlüpft. Auf Menina geht es weiter mit diesen Charakterporträts. Wie unterscheiden sich die beiden Alben?

Auf Alegria habe ich zwölf verschiedene Charaktere geschaffen, die ich verschiedenen Autoren gegeben habe. Die Charaktere waren nicht zwangsläufig Frauen, auch ein Clown war zum Beispiel dabei. Menina handelt aber ausschließlich von Frauen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Stärke. Im Portugiesischen können Frauen vom Moment ihrer Geburt bis zu ihrem Tod „menina“ genannt werden. Es ist das kleine Mädchen, die Tante, die eine alte Jungfer geblieben ist, die Witwe, die lange Beziehungsgeschichten hinter sich hat, auch die Prostituierte. Nur die verheiratete Frau heißt „senhora“. „Menina“ ist ein Kosewort, um Weiblichkeit zu feiern. Es wird auch verwendet, wenn man das Alter einer Frau nicht einschätzen kann. Ein blödes Beispiel: Als mir neulich ein Postbote ein Päckchen brachte, fragt er mich: „Sind Sie Menina Cristina Branco?“ „Und ich sagte: „Ja, das bin ich!“! Da war ich natürlich geschmeichelt. Ich fragte für dieses Album sehr junge Autoren an, sie kommen aus der portugiesischen Indierock-Szene. Ich bat sie, über mich zu schreiben. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ich heute bin, was ich bis jetzt getan habe, und versuchen, etwas über die Voraussetzungen zu schreiben, was es bedeutet, eine Frau zu sei. Eine Sichtweise junger Leute darauf. Und es geht nicht nur um mich: Es geht um ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Schwestern. Weiterlesen

(he)artstrings #4: Unerbittlicher Wind

carminho-portraitCarminho
„Escrevi Teu Nome No Vento“ (Jorge Rosa / Raul Ferrão)
(aus: Fado, 2009)

Die portugiesische Fadolyrik ist voll von Meeres- und Wettermetaphern, mit denen sich Tausende von Schattierungen des Innenlebens einfangen lassen. In diesem Fado wird der Wind zum tragischen Spielpartner: „Ich habe deinen Wind in den Namen geschrieben, überzeugt davon, dass ich ihn aufs Papier des Vergessens schrieb. Doch ich rechnete nicht damit, dass der Wind sich in deinen Namen verlieben würde. Und so steigert sich meine Qual, wenn der Wind sich aufbäumt.  Glaub‘ mir, ich möchte dich vergessen, aber jedes Mal wird der Wind nur noch stärker.“

Um diese große Dramatik umzusetzen, braucht es eine Jahrhundertstimme.  Carminho ist mit ihren 32 Jahren auf dem besten Weg dazu. Sie weiß genau, wie sie die Phrasierungen ausgestalten muss, um den Wind aufheulen zu lassen und das Weh des lyrischen Ichs effektvoll in Szene zu setzen. Und –  das gibt es so nur im Fado: wie kurz vor dem Ende alles noch einmal für Sekunden innehält, der Atem angehalten wird, ja, der Weltenlauf stoppt, bevor sich der Schmerz ein letztes Mal erlösend Bahn brechen darf.

Ich habe Carminho das zum ersten Mal im Herbst 2012 live singen hören. Danach war ich für eine ganze Weile schockgefroren und schweißgebadet zugleich. Meistens singt sie das Lied vom Wind als Zugabe – eigentlich müsste man sie Hingabe, wenn nicht Verausgabung nennen.

Carminho: „Escrevi Teu Nome No Vento“
Quelle: youtube

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