Songbird aus den Yorkshire-Mooren

Olivia Chaney
Shelter
(Nonesuch/Warner)

Die in Florenz geborene Britin kennt man schon als Sängerin von Offa Rex oder als Sidewoman vom Folk Songs-Album des Kronos Quartets. Nach dem Genuss ihrer zweiten, in den Mooren von Yorkshire geschriebenen Scheibe stellt man endgültig fest: Das UK schenkt uns eine große Stimme, wie sie viele Jahre aus dem Inselreich nicht kam. Chaneys Mezzosopran trägt weit und kraftvoll, sie phrasiert mit der Souveränität einer großen Bardin, übersteigt Grenzen zwischen schlichtem Folksong („Arches“), großer Popballade („Dragonfly“, „I O U“) und Klassik: Ganz herausragend ist ihre Adaption von Henry Purcells „O Solitude“.

In der Tat ist diese Stimme ist so stark, dass die Gebetsmühlen-Vergleiche mit Kate Bush auf der einen und Sandy Denny auf der anderen tunlichst verstummen sollten. Thomas Bartlett (The Gloaming, The National, Sufjan Stevens) schafft viel Raum und viel Atem in den sparsamen Arrangements mit Klavier, Akustikgitarre, Mellotron und Geige. Der Liederzyklus sei getragen vom Gefühl des Schutzfindens, des Aufgehobenseins, der Zugehörigkeit, sagt Chaney. Tatsächlich fühlt man diese Wärme in vielen Songs von Shelter ganz zentral.

© Stefan Franzen

Olivia Chaney: „Shelter“
Quelle: youtube

Bartlos in Seattle

Rochen diese Songs nicht nach würzigem Waldboden, nach Frühtau, der über den Wiesen liegt? Nach der Verheißung von Wurzeln jenseits des entfremdenden urbanen Getriebes? Gesänge, als hätte man die Vokalschichtungen von Beach Boy Brian Wilson mit einem gregorianischen Chor gepaart, als stünden vervielfältigte Simon & Garfunkels in einer romanischen Kirche. Drumherum: Akustikgitarren, Mandolinen, Pauken, Glockenspiel. Als die Fleet Foxes aus Seattle um Sänger Robin Pecknold 2008 ihr Debüt veröffentlichten, sättigten sie die Americana mit ruralen Farben. Und sie wurden zu den zwar nicht ersten, aber erfolgreichsten Ikonen für die neue Generation der Bärtigen und Flanellhemdenträger, wie ausverkaufte Hallen von Los Angeles bis Sydney bewiesen. Auch der Nachfolger Helplessness Blues von 2011 folgte dieser folkigen, mythischen Naturphilosophie, angereichert mit mehr Raffinesse, Tempowechseln, jazzigen Einsprengseln.

Dann war erst mal Schluss, derweil andere den Sound der neuen Empfindsamen pflegten. Mumford & Sons, Sufjan Stevens, William Fitzsimmons, Iron & Wine etwa – aber niemand hatte diese erhabenen Stimmenschichtungen der Füchse. Und während allerorten die Hipster ihre Bärte kultivierten, rasierte Oberfuchs Robin Pecknold sich die Manneszier ab, knabberte an einer Trennung, schrieb sich an der Columbia University in Kunst und Literatur ein, lernte surfen und kletterte am Everest herum. Neue Songs kamen ihm dabei vorerst nicht in den Sinn. Drummer Joshua Tillman ging im Streit, benannte sich in Father John Misty um und gibt den Apokalyptiker, der für die digitale Gesellschaft nur noch Zynismus übrig hat. Seine Ex-Band dagegen antwortet jetzt, nach sechs Jahren Pause auf das absurde Welttheater völlig anders.

Crack-Up („Zusammenbruch“) als Konzeptalbum zu bezeichnen, wäre untertrieben. Es ist Hörspiel, Folk-Oper und Traktat: Die Inspiration für den Titel empfing Pecknold aus einem Essay von F. Scott Fitzgerald, in dem dieser postulierte, ein großer Geist müsse völlig entgegengesetzte Ideen gleichzeitig verarbeiten können, ohne verrückt zu werden. Folgerichtig durchlebt die Hörerschaft während 55 Minuten unerwartete Moll-Eintrübungen und Dur-Aufhellungen, Wechsel von folkiger Stille in triumphale Breite, von introvertiertem Gemurmel, zu plötzlich aufstrahlendem Sologesang und diesen nach wie vor einzigartig kristallinen Chören. Anfangs mögen sich Vergleiche mit Pet Sounds von den Beach Boys aufdrängen.

Doch Pecknold collagiert weit mehr als Rock‘n‘Roll und Klassik wie einst Wilson: Streicherklänge kollidieren mit marokkanischen Kastagnetten, Gitarrenriffs aus dem Sahel, einem verlangsamten Cembalo und Orgelbrausen – all das allein vereinigt sich in „Mearcstapa“, einem Porträt des einsamen Biestes aus der Beowulf-Saga. Geigen gleißen am Horizont, Klavierlinien kreisen wie ferne Kirchenglocken, Mellotrone liefern glasige Liegetöne. Und auch wenn die Keimzelle oft nur ein Riff auf der Akustikgitarre ist, kaum gibt es ein Stück, das als herkömmlicher Song gelten könnte. Etliche sind Suiten mit Regieanweisungen: Mal befindet man sich auf dem weiten Meer, dann auf den Straßen einer Stadt, unvermittelt wieder in Pecknolds Studentenbude. In majestätischem Folkbombast berichtet die Single „3rd Of May“ von Pecknolds Freundschaft zum zweiten Band-Mastermind Skyler Skjelset, endet aber in einem nüchternen japanischen Klanggarten.

Fleet Foxes: „3rd of May / Odaigahara“ (live)
Quelle: youtube

Kryptisch sind die Texte, oft getragen von einem weihevollen Ton, trotzdem nicht weltfremd: Trauer über Muhammad Alis Tod wird verknüpft mit der über die Erschießungen zweier unschuldiger Schwarzer („Cassius“), „Naiads“ klagt die respektlose Behandlung von Frauen an, in Versen, die auch ein aus der Distanz kommentierender Chor einer griechischen Tragödie so vortragen könnte. Und tatsächlich werden antike Götter und Helden in den Lyrics wie als Gegengewicht zu den politischen Hanswursten von heute beschworen. „Wie konnte alles an nur einem einzigen Tag zusammenstürzen? Was für ein Staat wird uns erwarten?“, fragt Pecknold wie Millionen von Amerikanern am 20. Januar in „If You Need To, Keep Time On Me“. Als schlichter Folksong gemahnt er fast als einziger an die Frühzeit der Band. Am Ende gleicht „Crack-Up“ der epischen Irrfahrt eines modernen Odysseus und Orpheus in Personalunion, die, an den Schiffsmast gebunden, das (Her)einstürzen der Welt und der Wellen erleben. Hilflos? Wappnen können sie sich mit der Macht der Worte und Klänge, die eine neue Wirklichkeit erschaffen. Geht es nach den Fleet Foxes, heißt die Antwort auf den Wahnsinn nicht politische Agitation, sondern poetische Verfeinerung.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes: „Fool’s Errand“
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Slowing Down St. Patrick

the gloaming - 2The Gloaming
2
(RealWorld/PIAS/Rough Trade)

Zum heutigen St- Patrick’s Day, der eher für feucht-fröhliche Kneipenlaune bekannt sein dürfte, ein Ruhepol im turbulenten Guinessschaum. Schon das Debütalbum der irisch-amerikanischen Formation um den Sean Nós-Sänger Iarla Ó Lionáird hatte es mir Ende 2013 angetan. Nun legen die Entschleuniger des irischen Folks neue Metamorphosen der Tradition vor. Die flirrend-kristallinen, obertonseligen Flüge der Geige und Hardangerfiedel, Iarla Ó Lionáirds ergreifender Keltensoul und die Kontrapunkte auf Gitarren und Klavier (von Sufjan Stevens-Mitstreiter Thomas Bartlett) ergeben eine entschleunigte Suite, die mal kontemplativ, mal hymnisch strahlt. Was einst im Pub die schönste Nebensache war, ist jetzt für die feinsten Konzertsäle der Welt zugeschnitten. Gekrönt wird das Werk wieder durch ein Cover der großartigen Fotokünstler Robert und Shana ParkeHarrison.

The Gloaming: „Fáinleog (The Wanderer)“
Quelle: youtube