Äquinoktien-Klang


Auch wenn das Eis auf den Pfützen es vielleicht nicht verrät: Heute ist astronomischer Frühlingsbeginn. Zu den ersten Äquinoktien 2021 teile ich hier ein frühes Frühlingslied in doppelter Hinsicht: Gustav Mahler hat es mit Anfang Zwanzig für Stimme und Klavier geschrieben, man hört es – wie alle seiner 14 Jugendlieder – eher selten. Das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) unter Daniel Grossmann hat den ganzen Zyklus kürzlich in der Synagoge Hainsfarth mit dem Bariton Ludwig Mittelhammer eingespielt, in einer wunderbar feinfühligen Adaption für Kammerensemble.

Es lohnt sich im übrigen, auf der Seite des JCOM zu stöbern: Grossmann und sein Orchester haben es sich zum Ziel gesetzt, jüdische Kultur aus allen möglichen Hörwinkeln zu beleuchten, passend zum großen Jubiläum, das 2021 hierzulande begangen wird: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Jewish Chamber Orchestra: „Frühlingsmorgen“ (Gustav Mahler)
Quelle: youtube

Saint Quarantine #21 : Heiliger Dankgesang


Dieses Jahr mit einem Dankgesang enden zu lassen, scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht passend zu sein. Ganz zu schweigen von den Situationen für die vielen Alten und Kranken, die Menschen im Pflege- und Krankenhausbetrieb, war 2020 für die Kulturszene ein oft existenz-, wenn nicht lebensbedrohender Spießrutenlauf, der leider noch lange nicht zu Ende ist.

Es bleibt die Hoffnung und das Ausharren. Mir hat dabei dieses Jahr vor allem die Rückbesinnung auf klassische Musikwerke geholfen, in denen Stärke aus Innerlichkeit erwächst. Ohne das Adagio aus Schuberts Streichquintett C-Dur, ohne Mahlers „Lied von der Erde“ und die Ecksätze seiner 9. Sinfonie, ohne die Klaviermusik von Federico Mompou, und vor allem ohne die späte Kammermusik des Jubilars Beethoven hätte ich dieses Jahr nicht so gut gemeistert.

Daher möchte ich 2020 auch mit einer Reverenz an Ludwig van Beethoven beenden. 1825 hatte er eine schlimme Darmentzündung, die ihn für etliche Wochen in seiner Schöpferkraft komplett lahmlegte. Als er wieder genesen war, komponierte er einen 20-minütigen langsamen Satz, der in sein 15. Streichquartett eingeflossen ist, als „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“.

Das Danish String Quartet spielt dieses ruhige, erhabene und schlichte Gebet, das zweimal von hoffnungsfrohen, jubilierenden Ausbrüchen der Gesundung unterbrochen wird, wie kein anderes Ensemble – mit grandioser Hingabe an jeden einzelnen Ton. In diesem Sinne: Möge die Gesundheit zurückkehren und die Welt danach im positiven Sinne nicht mehr dieselbe sein.

Danish String Quartet: „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“ (Ludwig van Beethoven)
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Listenreich I: 20 Songs für 2020

Bab L’Bluz (Marokko/Frankreich): „Gnawa Beat“
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Camané & Mário Laginha (Portugal): „Se Amanhã Fosse Domingo“
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Joy Denalane (Deutschland): „I Believe“
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Electric Jalaba (UK/Marokko): „Daimla“
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Erdmöbel (Deutschland): „Beherbergungsverbot“
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Yumi Ito (Schweiz/Japan/Polen): „What Seems To Be“
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Bastien Keb (UK): Rabbit Hole“
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Kefaya & Elaha Soroor (Afghanistan/UK): „Jama Narenji“
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Awa Ly & Brahim Wone (Frankreich/Senegal): „Mesmerizing“
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Bongeziwe Mabandla (Republik Südafrika): „Khangela“
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Gustav Mahler: „Phantasie“ (Jewish Chamber Orchestra Munich)
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Masaa (Deutschland/Libanon): „Herzlicht“
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Jono McCleery (UK): „Follow“
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David Myles & Lydia Persaud (Kanada): „For The First Time“
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Sílvia Pérez Cruz (Katalonien): „Tango De La Vía Láctea“
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San Salvador (Frankreich): „Fai Sautar“
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Oumou Sangaré (Mali): „Kamelemba“
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Myles Sanko (UK): „Rainbow In Your Cloud“
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Santrofi (Ghana): Odo M’Aba“
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Anoushka Shankar feat. Alev Lenz (UK/Indien): „Bright Eyes“
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Versuch über Mahlers Metaphysik II

Um Aufschlüsselungen über Gustav Mahlers metaphysische Vorstellungen zu erlangen, eignet sich kaum etwas besser aus seinem Werk als die Ecksätze der 9. Symphonie. Warum? Sie beide haben ein langsames Tempo, und bei Mahler, der heute vor 160 Jahren geboren wurde, finden die Auseinandersetzungen zwischen Dies- und Jenseits vor allem in langsamen Sätzen statt, während die Scherzi und Rondosätze das „Getümmel der Welt“, das „Unterhaltungsdelirium“ (Schönberg) in der menschlichen und auch der tierischen Welt in oft sarkastischer, grotesker Art abhandeln.

Was hat es mit dieser Final-Neunten, der letzten großen der klassischen Musikgeschichte auf sich, diesem 80-minütigen Koloss, der das Ende der Spätromantik verkörpert und so intensive Gefühlsausbrüche in sich birgt, dass das Hören zur gewaltigen seelischen Erschütterung geraten muss? Man stelle sich einen Mann von knapp 50 Jahren vor. Als Hintergrundrauschen trägt er täglich die Furcht mit sich herum, dass sein diagnostiziert schwaches Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, er leidet mit jedem Atemzug unter dieser Beklemmung. Seine geliebte Tochter ist ihm vor zwei Jahren gestorben und mit der Vitalität seiner viel jüngeren Frau kann er nicht Schritt halten. Als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York bricht er unter permanenter Arbeitsüberlastung fast zusammen. Um seiner eigentlichen Berufung, dem Komponieren, nachgehen zu können, bleiben Gustav Mahler nur die Sommermonate, die er im idyllischen Toblach in den Sextener Dolomiten verbringt. Hier hat er sich unter Fichten eine schlichte Bretterhütte zimmern lassen, und in diesem entrückten „Komponierhäusl“ vollendet er im Juli und August 1909 vier Sätze, wie sie die Symphonik zuvor noch nicht gekannt hat. Es ist eine schöne Vorstellung, dass er die Schlusstakte des Adagios komponierte, während mein Großvater 600 Kilometer entfernt geboren wurde.

Man kann die paar Quadratmeter heute noch besichtigen, der Verschlag hat die 110 Jahre überdauert. Inmitten eines Streichelzoos mit Wildsauen, Ziegen und Emus steht das „Häusl“, karg bestückt mit Fototafeln. Drumherum die mächtigen Felszinnen der Kalkalpen, und sie müssen in diesem auch heute noch behäbigen Kurort auf Mahlers Schöpferkraft abgefärbt haben. Ja, man kann die Neunte, Mahlers letzte vollendete, mit ihren vielen Hornrufen und volksmusikhaften Drehfiguren sehr oberflächlich auch als „alpin“ hören. Doch sie erzählt vor allem vom metaphysischen Kampf eines hochsensiblen Künstlers, der sein Ende kommen spürt.

In der Neunten stellt Gustav Mahler alle herkömmlichen Regeln der Symphonik auf den Kopf, Satzabfolge, thematische und harmonische Entwicklung. Nach einem suchenden Tasten durch einzelne Cello-, Harfen- und Blechbläsertöne schwingt sich das Hauptthema des ersten Satzes, des ersten Adagios auf: ein leiser, filigraner, fast feinstofflicher Triller, dem ein Seufzer aus zwei Ganztonschritten abwärts antwortet, in der Wiederholung eine Terz höher. Feinste Regung aus zwei ganz einfachen musikalischen Vokabeln. Das tönt nach ergreifendem Gesang aus der ländlichen Volksseele, es ist eigentlich ein Klang gewordenes Ein- und Ausatmen von Wehmut, wie es das so oft in Mahlers Werken gibt – und ein eigentümlicher Swing wohnt diesem Thema inne, fast tänzerisch, man mag an einen Walzer denken, obwohl das Geschehen im 4/4-Takt stattfindet.

Der sich anschließende innige Gesang von Hörnern, Holzbläsern und Geigen, immer wieder stürzt er mehrfach in düstere bis schlichtweg brutale Abgründe.  In der Mitte – was Alban Berg als Hereinbrechen des Todes deutete – Hammerschläge, gefolgt von fahlen Streichern, die das Fürchten lehren. Die letzten drei Minuten wie ein feines Gespinst aus Flöten- und Geigensoli, das ansatzweise schon auf das hinweist, was im Schlusssatz geschehen wird. Und tatsächlich, nachdem in diesem Satz mehrfach 120 Musiker sich kollektiv aufgebäumt haben, ruft die Klarinette ein „Lebwohl“ und ein einzelner Flötenton setzt den Schlusspunkt. Es ist in dieser Symphonie der erste Moment von Auflösung in die Stille hinein.

In Bruchstücken springt einem im nachfolgenden Ländler die österreichische Volkskultur als Totentanz entgegen, ein groteskes Rondo schließt sich furios lärmend an, heute würde man diese Musik als „industrial“ bezeichnen: Die Welt aus den Fugen, ihr Getümmel ein absurdes Theater. Doch wir wollen unser „metaphysisches Ohrenmerk“ auf das Schlussadagio lenken, es ist für mich das größte und ergreifendste der abendländischen Musikgeschichte. Teodor Currentzis hat es „Vehikel zur Unendlichkeit“ genannt.

Mahler zitiert Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“ und zugleich das trostsuchende anglikanische Kirchenlied „Abide with me“. Bleibe bei mir, Herr, verlasse mich nicht. Mahlers Abend ist der seines Lebens. Doch Gott scheint zunächst kein verlässlicher Begleiter auf diesem letzten Weg, nach nicht mehr als vier Tönen wandelt sich der Choral zu einem herzblutenden Gesang, der fast taktweise zwischen Gebet, Hingabe, Sehnsucht, Furcht vor dem Tod und Auflehnung gegen das Schicksal schwankt. Mahler führt den Choral in einen Doppelschlag hinein, wieder solch eine „volksmusikalische“ Spielfigur. Doch dieser Doppelschlag, er ist ins Unermessliche gedehnt, eine Verzierung, die nicht mehr wie im 1. Satz feinstofflich ist, sondern ein verzweifeltes Klammern an die Materie. Dieser Doppelschlag spannt die Choralmelodie quasi auf ein Folterrad, führt sie in verwegene harmonische Abwege und Ableitungen, sie droht zu zerspringen, sie ist in Mahlers Gestalt ein gewaltiges Schluchzen, ein reines Destillat des Zweifels und der Verzweiflung.

Es ist der diametrale Gegensatz zur festen Burg des Klopstock-Chorals am Ende der Zweiten, der nach seinem Eintritt aus der Stille noch wie ein Sog zur Apotheose führte, ohne fragend zurückzublicken. Erhellend ein Hinweis auf das Hauptthema aus dem Adagio einer anderen Neunten: die 1894 von Anton Bruckner beendete. Auch sein Thema ist geprägt von einer in mehreren Bogenbewegungen aufwärts strebenden Melodie, eingeleitet durch einen gewaltigen Seufzer. Ob Mahler sich bewusst hat inspirieren lassen, oder ob am Ende der Tonalitätsepoche der Weg ganz einfach zu diesen mächtig ausgreifenden, „stöhnenden“ Melodiebögen gehen musste? Als finale Möglichkeit, Expressivität nochmals zu intensivieren? Spannend ist, ans Ende der Melodie zu schauen: Während sich bei Mahler das melodische Material gleichsam in Tonartwechseln und chromatischen Verdichtungen zerfasert, findet Bruckner innerhalb dieses einzigen Themas von einem verzweifelten Aufschrei zu einem strahlend-leuchtenden, fast entschwebenden Gesang, der sich in reines Dur ordnet. Die Zweifel werden bereinigt, im himmlischen Vertrauen endet das Thema – und nicht zufällig steht über der 9. Symphonie als Widmung „An den lieben Gott“.

Hier dagegen ein „Wunderland des Schmerzes“, wie es Teodor Currentzis nannte, und er erzählt dazu eine selbsterlebte Geschichte: Als Student in St. Petersburg grübelt der angehende Dirigent über die Bedeutung der verzweifelten Passagen des Adagios. Für wen bloß ist diese Musik, fragt er sich. Ein Freund führt ihn zu verlassenen Gleisen, an denen eine Frau sitzt, leergeweint, doch immer noch sehnend und hoffend auf einen Zug, der nie kommen wird. In diesem Adagio wohnt aber nicht nur die Frau von den Gleisen, hier wohnt auch jeder Sterbliche, jeder Zweifelnde, jeder von uns. Doch dieser zutiefst bewegende Gesang, der sich ans Leben klammert, wird mehrfach von eigenartigen, leisen Passagen mit Fagott und Flöte zerschnitten. Ein Schatten- und Zwischenreich tut sich auf, ein Fegefeuer in Stase, in dem wie aus einer anderen Dimension Johann Sebastian Bachs strenger Kontrapunkt nachhallt. Wie aus der Zeit gefallen scheinen diese Einschübe, man fühlt sich in einem reinen,  Vakuum jenseits menschlicher Gefühlswelten. Komponierte Mahler hier das Unbegreifliche, das Mysterium?

Nach langem Widerstreit zwischen diesem Bezirk des Unbegreiflichen und dem Gesang des bohrenden Zweifels schimmert endlich etwas Zartes, ja, Zärtliches am Horizont. Die Reihen im Orchester lichten sich, in mehrfacher Bedeutung. Fast übernehmen die Pausen die Hauptrolle, der irdische Zeitbegriff ist außer Kraft gesetzt. Und schließlich löst sich alles in körperloses Nichts, die feinstofflichen Gebilde, die übrigbleiben, bilden offene Harmonien, keine harmonische Auflösung. Ein Blick in die Anderswelt ist uns erlaubt, ohne dass wir sie ergründen könnten. Mahler, das ist die Deutung von Leonard Bernstein, ist nach schmerzvollem Abschied von der Schönheit der Erde nun bereit, sein Ich aufzugeben, ohne zu wissen, was ihn „drüben“ erwartet. Bruckners Schlusstakte sind teleologisch eingebunden: bei ihm setzt sich ein gefestigtes Streicherdur durch. Kein Entschweben ins All, kein Auflösen der Materie. Bruckner malt einen katholischen Himmel. Wie Mahler hingegen eine endgültige Hingabe ans Ungewisse in Töne gefasst hat, ist vielleicht keinem anderen Komponisten in so zutiefst menschlicher Ehrlichkeit gelungen. Die Größe des Zweifelnden: sich der anderen Welt zu überantworten, ohne von ihr Kenntnis zu besitzen und ohne festen Glauben zu haben. Musikalisch ließ sich das nur durch eine Komposition der Auflösung umsetzen. Das im Konzertsaal mitzuvollziehen, kann ein Leben verändern. Die Tür ins Jenseits schwingt auf – und auch in eine neue musikalische Epoche.

© Stefan Franzen
(wird fortgesetzt)

Teodor Currentzis & das SWR Symphonieorchester mit Gustav Mahlers 9. Symphonie sind hier zu hören.
Quelle: SWR Classic

 

Versuch über Mahlers Metaphysik I


Foto: Stefan Franzen

Es gibt Menschen, die mit Vorliebe ihre Reisen rund um Besuche von Gräbern berühmter Persönlichkeiten organisieren. Zwar habe ich 2019 Jahr bereits ausgiebig den Père Lachaise in Paris besucht, dabei ging es mir aber um die winterlich-melancholische Atmosphäre im Ganzen, weniger darum, zu Jim Morrison oder Oscar Wilde zu pilgern. Über letzteren, bzw. seine letzte Ruhestätte stolperte ich eher zufällig, das Grab des Doors-Chef habe ich gar nicht gefunden, weil ich es auch nicht gesucht habe. Viel lieber sind mir Begegnungen mit lebenden Künstlern – doch der, der mir in der klassischen Musik am meisten bedeutet, weilt nun mal heute seit 109 Jahren nicht mehr unter uns. Und so fand ich mich drei Monate nach dem Gang über den Père Lachaise, in ganz anderer Begleitwitterung auf dem Friedhof des Grinzinger Friedhofs bei Wien, um Gustav Mahler zumindest an seiner Gedenkstätte meine Aufwartung zu machen.

Die Laute, die ich an Mahlers Grab hörte: ein Buchfink, eine Goldammer (ein Goldhähnchen?) und ein Kuckuck. Jener Vogel, der schon im Erwachen der Natur zu Beginn von Mahlers symphonischem Schaffen erklingt. Und leider auch: ein Laubbläser, eine der größten akustischen Seuchen unserer Zeit. Was hätte Mahler zu diesem Ungetüm gesagt?

Schon wenige Wochen, bevor ich an Mahlers Grab stand, wurde mir, vor meinem 51. Geburtstag bewusst, dass ich jetzt älter bin, als Mahler es je war. Für mich war das eine fast erschreckende Erkenntnis. Denn Mahler starb mit den letzten Dingen auf den Lippen, mit seinen Spätwerken machte er einen Spaltbreit die Tür ins Jenseits auf. Musikalisch „sah“ er Dinge, die nie zuvor jemand gesehen hatte. Hätte er weitergelebt, hätte sich die Tür für ihn vielleicht so weit geöffnet, dass er  – und wir – es nicht ertragen hätten. 51 ist heute kein Alter, in dem man sich schon mit den letzten Dingen beschäftigt? Oder doch?

Man könnte das in einer Art Paradoxie formulieren: Mahler liebte das Leben so sehr, dass er immer über den Tod schrieb, ja, schreiben musste. Dieses Schreiben über den Tod, der stetig präsente metaphysische Ton, äußerte sich in seinem früheren Schaffen, vor allem in der 2. Symphonie noch völlig anders als in der Triade seiner letzten Werke.

Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ (1892-97) ist mit festem Glauben auf das Jenseits gerichtet. Man kann dieses Wort „Ausrichtung“ ganz konkret verstehen: Tod und Auferstehung hat Mahler programmatisch, chronologisch, ja, sogar räumlich auskomponiert, die Metaphysik wird hier fast haptisch erfahrbar. Der junge Komponist, er war während des Schaffens 28-34 Jahre alt, vertonte die christliche Vorstellung von Grablegung, dem Öffnen der Gräber, dem Gang durch einen Tunnel bis ins himmlische Reich – die christliche Mystik übte Faszination auf ihn aus, doch das Jüngste Gericht löste er auf in eine Chor-Apotheose von umfassender Liebe. Warum er konvertierte, darüber streiten sich heute noch die Biographen. Möglicherweise aus praktischen Gründen, da er als Jude nicht Direktor der Wiener Hofoper werden konnte. Doch gleichzeitig fühlte er sich zu jener frühen Lebensphase vielleicht dem christlichen Glauben durchaus verbunden, auch wenn ihm die Idee von der Unsterblichkeit künstlerischen Schaffens, die das Individuum erst zu einem solchen macht (hier war er geprägt durch Gustav Theodor Fechner und Hermann Lotze), immer über allen konfessionellen Glaubenssätzen stand.

Schon in der 3. Symphonie wandte er sich im Finale ab vom christlichen Gott hin zur allumfassenden Liebe, die sowohl himmlische wie auch irdische Züge trägt, ein alles durchwirkendes Prinzip, das – entgegen der Deutung etlicher Mahlerforscher – für mich allerdings nicht nur gütig und verzeihend wirkt, sondern auch von den Schmerzen berichtet, die einem eben diese Liebe zufügen kann. Wie ein Rätsel steht dann die Apotheose der Vierten vor den Hörern: Nach der gewaltigen, 90minütigen Geschichte des Universums von der Entstehung der Natur bis zum Feinstofflichen, die die Dritte war, erhebt hier ein Sopran nach einer fast klassizistischen Symphonie seine Stimme, um vom himmlischen Leben zu erzählen. Das Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ malt mit bukolischen, ausgelassenen Bildern, wie die Heiligen in süßem Saus und Braus leben und für ihr Bankett nicht zögern, Tiere zu schlachten. Wie auf Erden, so im Himmel, könnte man sagen, ein naives Sittengemälde aus der Sicht eines Kindes. Es scheint, als ob Mahler, ohne seinen abgründigen und grotesken Humor abzulegen, Urlaub genommen hat von den Fragen nach den letzten Dingen. Als ob er diese kindliche Antwort zwischenschaltet, weil er selbst noch keine „erwachsene“ gefunden hat.

In den drei Spätwerken, die zwischen 1907 und 1910 entstanden, ist von diesem festen Glauben nichts mehr übrig. Man kann das biographisch festmachen, Mahler hatte in der Zwischenzeit viele Schicksalsschläge erlebt. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, dem in dieser stetigen Beklemmung die Tochter wegstirbt, der vielleicht schon ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, und der unter permanenter Arbeitsüberlastung an der Hofoper leidet, die nur durch kurze Sommerpausen unterbrochen wird. In diesen Pausen bringt er sein Innerstes zu Papier, lässt er in der Abgeschiedenheit eines Komponierhäuserls seinen Seelenregungen freien Lauf. Doch ich meine, dass allein durch das musikalische Material – und im „Lied von der Erde“ helfen einem ja auch die Texte – seine veränderte Metaphysik offenbar wird.

Nein, Mahler macht es einem nicht einfach, das Hören seiner Spätwerke ist harte Arbeit fürs Gemüt. Denn er bietet keine einfachen Lösungen mehr an. Das „Urlicht“ der 2. Symphonie, es scheint im „Lied“, in der Neunten und der Zehnten unruhig zu flackern, das Urvertrauen ist dahin. Er schüttet sein fragendes Herz aus, und das ist voller metaphysischer Konflikte. Wir reisen mit ihm einmal mehr durch abgrundtiefe Verzweiflung, durch Ekel vor der Dummheit, durch Erschauern vor dem Tod und schließlich nicht hinein in eine Lösung, sondern in einen Abschied, der einer ins Ungewisse ist. Die Reise von Bowman in den Monolithen von Stanley Kubricks „2001“, sie fand Jahrzehnte früher schon in Mahlers späten Symphonien statt, doch – und das ist ein weiteres Mahlersches Dilemma – er konnte sie für sich nur innerhalb der tonalen Sprache ausdrücken. Selbst diese – musikimmanente – Verzweiflung – hört man den Werken an. Anhand dieser drei Werke bewahrheitet sich, was Bruno Walter über den Unterschied zwischen Bruckner und Mahler gesagt hat, am direktesten: Bruckner widmete sein ganzes Leben Gott, Mahler der Suche nach ihm.

© Stefan Franzen

Fortsetzung folgt.

Saint Quarantine #15: Gustav Mahler-Dokumentationen


Für diese Tage war im Amsterdamer Concertgebouw das Gustav Mahler-Festival geplant, bei dem zum 160. Geburtsjahr des Komponisten eine Komplettaufführung seiner symphonischen Werke zu erleben gewesen wäre. Die Mahler Foundation hat hierfür 10 neue Dokumentationen in Auftrag gegeben, die nun online zu sehen sind. Über ausgewählte Symphonieaufführungen aus vergangenen Jahren gibt es daneben auch Beiträge, die sehr kreativ mit der aktuellen Lockdown- und Reisesperre-Situation umgehen. So hat zum Beispiel das junge britische Orchestra For The Earth (OFE) eine virtuelle Aufführung des Rückert-Liedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ eingespielt, die heute Abend zu sehen ist. Das OFE – hier ein ausführlicheres Porträt –  engagiert sich parallel zu seinen musikalischen Aktivitäten für Umweltschutz, und beruft sich dabei auf die intensive Liebe Mahlers zur Natur.

Orchestra For The Earth: I Am Lost To The World
Quelle: youtube

Saint Quarantine #10: Primal Light

Foto: Stefan Franzen

Mit 16 ist mir dieses Werk erstmals begegnet, und es hat mich bis heute nicht losgelassen. Die 2. Symphonie von Gustav Mahler zählt zu seinen stärksten und erschütterndsten Kompositionen, insbesondere das „Urlicht“ und der gewaltige Finalsatz mit dem „Aufersteh’n“-Choral. Jedes Mal, wenn ich dieses Werk höre, egal ob im Konzertsaal oder als Aufnahme, bin ich tief ergriffen.

Wir hätten das Werk zu dieser Stunde, wo ich das schreibe, mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg hören wollen, doch die Zeiten lassen es nicht zu. Das Konzert hätte den Titel „une cathédrale sonore“ getragen, und tatsächlich ist dieses fast 90-minütige Werk, das von einer Totenfeier über genauso selige wie von Ekel geschütterten Rückblendungen aufs Leben bis hin zum Jüngsten Gericht und der Reise in himmlische Sphären berichtet, eine erhabene Kathedrale aus Tönen.

Vor einigen Tagen war der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel mit den Münchner Philharmonikern auf arte mit seiner Lesart der Auferstehungs-Symphonie im Palau de la Música Catalana Barcelona zu sehen. Ein wunderbarer Ersatz und Trost für das ausgefallene Konzert, gerne teile ich hier den Link. Außerdem untenstehend meine Lieblingsinterpretation des „Urlichts“ mit der Altistin Eva Randova und der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Vaclav Neumann.

Gustav Mahler: „Urlicht“
Quelle: youtube

Listenreich III: 20 Konzerte für 2019

Sílvia Pérez Cruz, Café de la Danse Paris, 7.2.
WINTER
– Sílvia Pérez Cruz &  Marco Mezquida + Quinteto de Cordas (Katalonien) – Cafe de la Danse Paris, 7.2. + 8.2.
– Gyedu Blay-Ambolley (Ghana) – New Morning Paris, 8.2.
– Les Ballets de Monte Carlo (Monaco) – Théâtre des Champs-Elysées Paris, 9.2.
– Mayra Andrade (Cabo Verde) – Moods Zürich, 21.2.

Gyedu-Blay Ambolley, New Morning Paris, 8.2.
FRÜHLING
– JP Bimeni (Burundi/UK) – Schiff Freiburg, 19.3.
– Tonkünstlerorchester, Yutaka Sado (A/JP) – Gustav Mahler, Symphonie Nr.2 – Musikvereinssaal Wien 21.5.
– Franui & Guests (A/Verschiedene) – Festival „Gemischter Satz“, Konzerthaus Wien, 23.5.
– Anna Netrebko u.a. (Verschiedene) –  Umberto Giordano „Andrea Chénier“ – Staatsoper Wien, 24.5.

JP Bimeni, Schiff Freiburg, 19.3.
SOMMER
– Festivalensemble Boswil (Verschiedene) – Gustav Mahler, Das Lied von der Erde – Kirche Boswil 29.6.
– Ali Ghamzari (Iran) – Neumarkt Rudolstadt, 5.7.
– Ivan Vilela (Brasilien) – Theater im Stadthaus Rudolstadt, 7.7.
– Sudan Archives (USA) – Reithalle Riehen, 18.7.
– Andreas Gabriels Verändler (CH) – Museum Tinguely Basel, 30.8.

Ivan Vilela,  Theater im Stadthaus Rudolstadt, 7.7.
HERBST
– Danish String Quartet & Guests (Dänemark/Verschiedene) – Bygningskulturens Hus København, 3. – 5.10.
– Tony Allen (Nigeria/F) – Jazz No Jazz Zürich, 1.11.
– Daniil Trifonov (Russland) – Gewandhaus Leipzig, 7.11.
– Niels Frevert (Deutschland) – Jazzhaus Freiburg, 2.12.
– Arianna Savall Septett (Katalonien/N/D) – Forum Merzhausen, 7.12.
– Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Ltg. Josep Pons (F/E) – Gustav Mahler, Symhonie Nr.6 – Palais des Congrès Strasbourg, 13.12.
– SWR Symphonieorchester, Ltg. Teodor Currentzis (D/GR) – Gustav Mahler, Symphonie Nr.9 – Konzerthaus Freiburg, 20.12.
Tony Allen, Jazz No Jazz Zürich, 1.11.
alle Fotos Stefan Franzen, außer Tony Allen Band (Marqs Kurz)

Ein Blick ins Jenseits

Wenn Teodor Currentzis über Gustav Mahler spricht, erzählt er gerne Geschichten aus seinem eigenen Leben. Wie kürzlich diese, beim Stuttgarter Werkstattgespräch: Als Student in St. Petersburg grübelt der angehende Dirigent über die Bedeutung einer Passage aus dem Adagio der Neunten Symphonie. Für wen bloß ist diese Musik, fragt er sich. Ein Freund führt ihn zu verlassenen Gleisen, an denen eine Frau sitzt, leergeweint, doch immer noch sehnend und hoffend auf einen Zug, der nie kommen wird.

Was hat es mit diesem Werk auf sich, diesem 80-minütigen Koloss, der das Ende der Spätromantik verkörpert und so intensive Gefühlsausbrüche in sich birgt, dass das Hören zur gewaltigen seelischen Erschütterung geraten muss?

Stellen Sie sich einen Mann von knapp 50 Jahren vor. Er weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird und er leidet mit jedem Atemzug unter dieser Beklemmung. Seine geliebte Tochter ist ihm vor zwei Jahren gestorben und mit der Vitalität seiner viel jüngeren Frau kann er nicht Schritt halten. Als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York bricht er unter permanenter Arbeitsüberlastung fast zusammen. Um seiner eigentlichen Berufung, dem Komponieren, nachgehen zu können, bleiben Gustav Mahler nur die Sommermonate, die er im idyllischen Toblach in den Sextener Dolomiten verbringt. Hier hat er sich unter Fichten eine schlichte Bretterhütte zimmern lassen, und in diesem entrückten „Komponierhäusl“ schreibt er 1909 vier Sätze, wie sie die Symphonik zuvor noch nicht gekannt hat.

Man kann die paar Quadratmeter heute noch besichtigen, der Verschlag hat die 110 Jahre überdauert. Inmitten eines Streichelzoos mit Wildsauen, Ziegen und Emus steht das „Häusl“, karg bestückt mit Fototafeln. Drumherum die mächtigen Felszinnen der Kalkalpen, und sie müssen in diesem auch heute noch behäbigen Kurort auf Mahlers Schöpferkraft abgefärbt haben. Ja, man kann die Neunte, Mahlers letzte vollendete, mit ihren vielen Hornrufen und volksmusikhaften Drehfiguren oberflächlich als „alpin“ hören. Doch sie erzählt vor allem vom metaphysischen Kampf eines hochsensiblen Künstlers, der sein Ende kommen spürt.

Mahlers Komponierhäusl in Toblach, Foto: Herbert Franzen

Musikalisch über den Tod nachgedacht hatte Gustav Mahler seit seiner zweiten Symphonie immer wieder. Doch während er zuvor Sterben, Jüngstes Gericht und Auferstehung ganz plastisch auskomponierte, ist in seinen späten Jahren diese katholische Gewissheit weggefegt. Um sein Verzweifeln abzubilden, stellt er in der Neunten alle herkömmlichen Regeln der Symphonik auf den Kopf, Satzabfolge, thematische und harmonische Entwicklung. Im langsamen Eröffnungssatz stürzt das innig von Hörnern, Holzbläsern und Geigen gesungene Lebewohl mehrfach in düstere bis schlichtweg brutale Abgründe. In Bruchstücken springt einem im nachfolgenden Ländler die österreichische Volkskultur als Totentanz entgegen, ein groteskes Rondo schließt sich furios lärmend an, heute würde man diese Musik als „industrial“ bezeichnen: Die Welt aus den Fugen, ihr Getümmel ein absurdes Theater.

Und dann das Schlussadagio, das größte und ergreifendste der abendländischen Musikgeschichte. Teodor Currentzis hat es letzte Woche in seinem Stuttgarter LAB-Gespräch „Vehikel zur Unendlichkeit“ genannt. Mahler zitiert Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“ und zugleich das trostsuchende Kirchenlied „Abide with me“. Doch Gott scheint kein verlässlicher Begleiter auf diesem letzten Weg, nach wenigen Tönen wandelt sich der Choral zu einem herzblutenden Gesang, der fast taktweise zwischen Gebet, Hingabe, Sehnsucht, Furcht vor dem Tod und Auflehnung gegen das Schicksal schwankt. Currentzis nennt das ein „Wunderland des Schmerzes“. Hier wohnt die Frau an den Gleisen, aber hier wohnt auch jeder Sterbliche, jeder Zweifelnde, jeder von uns.

Zerschnitten wird dieser zutiefst bewegende Gesang mehrfach von eigenartigen, leisen Passagen mit Fagott und Flöte, ein Schattenreich, in dem wie aus einer anderen Dimension Johann Sebastian Bachs strenger Kontrapunkt nachhallt. Nach langem Widerstreit glüht zart himmlisches Licht auf, schließlich löst sich alles in körperloses Nichts. Die Pausen übernehmen die Hauptrolle. Der irdische Zeitbegriff ist außer Kraft gesetzt. Mahler, das ist die Deutung von Leonard Bernstein, ist nach schmerzvollem Abschied von der Schönheit der Erde nun bereit, sein Ich aufzugeben, ohne zu wissen, was ihn „drüben“ erwartet. Dieses endgültige Hingeben in Töne zu fassen, ist vielleicht keinem anderen Komponisten in so zutiefst menschlicher Ehrlichkeit gelungen. Es im Konzertsaal mitzuvollziehen, kann ein Leben verändern. Denn am Ende schwingt die Tür ins Jenseits auf – und auch in eine neue musikalische Epoche.

Stefan Franzen
dieser Text erschien in einer gekürzten Form in Der Sonntag, Ausgabe 15.12.2019

Teodor Currentzis dirigiert Mahlers 9. Symphonie, SWR Symphonieorchester:
16.12. Konzerthaus Wien, 18.12. Elbphilharmonie Hamburg, 19.12. Konzerthaus Dortmund, 20.12. Konzerthaus Freiburg, 22.12. Mozartsaal Mannheim

 

Mahler-Herbst II: Schön scheitern in Dobbiaco

Um von Gustav Mahlers frühester Lebensstation zu der seiner letzten drei großen Werke zu gelangen, braucht es auch heute noch eine 12-stündige Zugfahrt. Zwischen dem tschechischen Jihlava und Toblach in Südtirol sind es zwar nur knapp 600 Kilometer, aber die Züge bummeln, abgesehen von der Strecke Salzburg – Innsbruck so vor sich hin wie wohl auch zu Lebzeiten des Komponisten. Daher komme ich auch erst zu komplett dusterer Abendstunde im eisigen Dobbiaco an, mein Wirt hat die Abholung vergessen, und um nicht mit Koffer am Seitenstreifen der unbeleuchteten Schnellstraße entlangzutingeln, muss ich einen absurd teuren Zubringdienst in Anspruch nehmen.

Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, zum Finale der Interrail-Reise durch sieben Länder die paar Quadratmeter zu besuchen, auf denen die für mich erschütterndsten Werke der spätromantischen Symphonik entstanden sind. Etwas abgelegen vom Ort haben Alma und Gustav Mahler in den Jahren 1908-1910 im Gasthof der Familie Trenker die Sommermonate verbracht. Mahler, der hochsensible Geräuschphobiker, ließ sich noch etwas weiter abgelegen vom Hof unter Nadelbäumen ein Komponierhäusl zimmern. In diesem Verhau, heute ein winziges Museum, schrieb er „Das Lied von der Erde“, die Neunte Symphonie und das Particell zur nicht beendeten Zehnten – die für mich heiligen letzten drei Werke. Sich seines baldigen Endes bewusst, schrieb er sie, herzkrank aber nicht nur in biologischem Sinne, denn hier flog auch Almas Seitensprung mit Walter Gropius auf.

Ein Tag reicht locker für den kurzen Pilgermarsch vom Dorfzentrum dorthin, doch als ich am Sonntagmorgen aufwache, ist der Himmel derart blau, die Luft derart klar, dass ich einer hochalpinen Versuchung erliege: Nicht zum Häusl im Tal, sondern zu den Drei Zinnen zieht es mich, zumal es der letzte Tag ist, an dem der Bus aufs Ausgangsplateau auf 2200 Meter hochfährt. Die Umrundung der drei berühmt-berüchtigten dolomitischen Felsentürme – gegen den Uhrzeigersinn, so wie die tibetischen Bön ihren heiligen Kailash umrunden – ist genauso umwerfend, wie sie sich auch dahinzieht. Ich will ehrlich sein: Sie ist so überwältigend, dass ich bei einer Rast beim Umpacken meinen Geldbeutel liegen lasse und den grandiosen Weg zweimal genießen darf.

Von der Höhenluft völlig ermattet, würde der Gang zum Häusl nach der Rückkehr zum Ding der Unmöglichkeit geraten. Sense. Heute geht wirklich nichts mehr. Fürs Häusl bleiben also nur noch zwei Stunden am Montagmorgen vor der  – wiederum 12-stündigen – Zurückschaukelei durch Pustertal, Vinschgau und Engadin nach Hause. Ich stolpere dann noch eher unfreiwillig in ein Gala-Diner meiner Herberge hinein und werde von meinen Tischnachbarn während des opulenten mehrstündigen Mahls über die Freuden der Alpendurchquerung per Motorrad unterhalten. Endlich: Ich darf ins Bett.

Eine gewisse Panik steigt in mir auf, als ich am nächsten Morgen mit schnellem Schritt am Waldsaum entlanghaste. Plötzlich ist das Häusl nicht mehr ausgeschildert. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Die Zeit wird knapp. Keuchend male ich mir aus, wie Mahler hier mit Alma und befreundeten Komponisten spazieren ging, wahrscheinlich im gleichen Tempo, denn mit ihm konnte kaum jemand Schritt halten. Eine Kuh steht mit Grandezza auf dem Weg und hinter ihr eine Hütte, wie es sie hier vielfach gibt. Mahlers Refugium ist das nicht. Da lichten sich die Wipfel und ich stehe vor dem trutzigen Trenkerhof. Hier haben die Mahlers gewohnt, unverkennbar weist eine Tafel stolz darauf hin, die Nachfahren der Wirtsfamilie sind auch heute noch Besitzer des Anwesens.

Gegenüber ein breiter, hoher Zaun, der Eingang zum „Wildpark“, in dessen Mitte das Komponierhäuschen liegt. Er ist mit einem dicken Schloss versperrt. Mit bösen Vorahnungen klingele ich am Hof. Fensterläden öffnen sich, die Wirtin lugt heraus. Ob sie den Wildpark aufmachen könnte für einen großen Gustav Mahler-Fan? Das ginge auf keinen Fall, sagt sie bestimmt, schließlich sei jetzt schon Wintersaison, demnächst drohe der Schnee, Reparaturarbeiten seien im Gange, die Tiere gar nicht im Gehege, und wenn mich auch nur eine Katze ins Bein beiße, müsse sie, die Wirtin, dafür haften. Ich riskiere einen Blick hinüber.

In der fast sommerlichen Sonne grasen friedlich Wildsauen, Emus und anderes zahmes Getier in seinen Gehegen, eine pastorale Atmosphäre, gegen die auch Mahler nichts gehabt hätte, sofern die Tiere sich schön ruhig verhalten hätten. Ich bettele, ich flehe, ich ziehe schließlich die Journalistenkarte: Ich sei mitten in Recherchen über eine Gustav Mahler-Story fürs Radio und habe eine 12-stündige Anfahrt hinter mir. Im Grunde ist es ja nicht einmal gelogen. Nein, die Trenker-Donna ist unerbittlich. Der Park bleibt zu. Ob ich denn nicht im Internet geschaut hätte? Da stünde, dass ab Oktober geschlossen sei. Aber halt nicht unter dem Suchbegriff „Gustav Mahler“ und „Komponierhäusl“, sondern unter „Wildpark“, denke ich innerlich seufzend.

Es hilft nichts. Die Fensterläden klappen wieder zu, ich stehe vor dem Zaun, der nach allen Seiten hoch und unüberwindbar um das Gelände gezogen ist. Was hätte Gustav dazu gesagt, dass sein Häusl 110 Jahre nach der Entstehung seiner letzten Werke inmitten eines Streichelzoos von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird? Ich hätte alles darum gegeben, einmal auf den Brettern zu stehen, auf denen der zutiefst berührende „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ entstand, die erschütternden Adagios der 9. und 10., mit denen er einen Blick ins Jenseits wagte. In denen er tiefsten seelischen und physischen Schmerz und die bohrende Ungewissheit über das Leben nach dem Tode in Töne fasste, und sich dieser Ungewissheit schließlich übergab. Der Moment kommt mir fast banal vor, angesichts der Größe dieser Musik.  Einmal noch linse ich in Richtung der Baumgruppe, die das Komponierhäusl vor mir verbirgt. Dann lenke ich sehr rasch meine Schritte weg von diesem Gatter, an dem ich am Ende der Reise gescheitert bin.

Stefan Franzen

Konzerthinweis: Am 20.12. dirigiert Teodor Currentzis das SWR-Symphonie-Orchester im Konzerthaus Freiburg – das einzige Werk des Abends: Mahlers Neunte.

alle Fotos © Stefan Franzen