Wall Of Sound der Wildnis (#13 – Canada 150)

Foto: Nick Davis

The Besnard Lakes (Saskatchewan)
aktuelle Alben: The Besnard Lakes Are The Divine Wind (EP) /
A Coliseum Complex Museum (beide: Jagjaguwar)


Kanadas Rockmusik ist in meiner Serie bislang etwas kurz gekommen. Vielleicht liegt das daran, dass ich ein wenig Vorbehalte habe, ist man doch als Kind der 70er und 80er durch Leute wie Bryan Adams oder Alanis Morissette nicht optimal vorgeprägt. Doch jenseits des Mainstreams ist die Rockszene des Ahorn-Landes spannend, vielfältig, untergründig, psychedelisch, sphärisch – ein bisschen von alldem findet sich im Sound der Besnard Lakes um das Ehepaar Jace Lasek und Olga Goreas, die in Montréal wirken, aber ihre tiefen Wurzeln in der Einsamkeit von Saskatchewan haben. Mit Lasek habe ich mich bereits im letzten Sommer, vor meiner Kanadareise unterhalten.

Jace, ihr habt die Band nach einem See benannt, und wenn man eure Cover anschaut, könnte man vermuten, dass die Natur euch eine sehr große Inspirationsquelle liefert.

Jace Lasek: 80 bis 90 Prozent unserer Bevölkerung sitzen ja an der kanadisch-amerikanischen Grenze, und der Rest ist einfach Wald und Wildnis. Wir haben unheimlich viel offene Landschaft, das macht es leicht, campen zu gehen. Zum Besnard Lake gehen meine Frau und ich seit 20, 25 Jahren immer wieder hin. Er hat etwas Besonderes, wie jeder Ort, an dem du den Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten verlierst. Es ist sehr abgelegen, du bekommst das Gefühl, dass du dort der einzige Mensch bist. Ich kann da wirklich vom Montréaler Alltag abschalten, wo ich lebe und Platten produziere. Es ist eine so schöne Landschaft, sie inspiriert mich. Wir nehmen manchmal Gitarren mit und schreiben, meistens aber gehen wir dahin, um einfach nichts zu tun und uns zu re-setten, was für jeden Menschen wichtig ist. Weiterlesen

Pazifisch-arabisches Powerhouse

Haram (British Columbia)
aktuelles Album: Her Eyes Illuminate (Songlines Recordings)

Gegen Ende meiner Canada 150-Serie schiebe ich außer Plan ein Sonderkapitel ein – aus freudigem und aktuellem Anlass: Das Tentett Haram um den Oud-Spieler Gordon Grdina wird in wenigen Tagen in Basel im Parterre gastieren.

Wer den außergewöhnlichen Songwriter Dan Mangan kennt, der ist auch schon mit zwei Namen vertraut, die in den Reihen dieses Kollektivs aus Vancouver Island wirken. Bandleader Gordon Grdina ist ein Weggefährte Mangans und steht hier mit seiner irakischen Oud im Zentrum der Arrangements, Drummer Kenton Loewen spielt ebenso in Mangans Reihen. Die Violinen-Position ist prominent besetzt: Jesse Zubot ist für seine experimentellen Bogenführungen bei der Inuit-Avantgardistin Tanya Tagaq bekannt und berüchtigt.

Experiment wird auch bei Haram großgeschrieben, auf der anderen Seite sind sie tief in einer Tradition verankert. Doch da es in British Columbia wenig eigene Wurzeln gibt, auf die man zurückgreifen könnte, wie schon Jaron Freeman-Fox im Rahmen dieser Serie bekräftigte, treten Haram eine ungewöhnliche Flucht nach außen an: Im Zentrum stehen ihre Versionen von Stücken der populären arabischen Musik vergangener Jahrzehnte: Sie greifen Kompositionen des Libanesen Ziad Al-Rahbani, des ottomanischen Komponisten Cemil Bey oder des syrischen Gesangsstars Farid El Attrache auf, bauen sie zu gewaltigen Kollektiv-Improvisationen aus.

Für vokale Festigkeit in der arabischen Welt sorgt der Sänger Emad Armoush, der den Folk des Nahen Ostens und die klassische Musik verklammert. Mitunter bekommen die arabischen Klangtableaus Farben aus dem Free Jazz der experimentellen Szene Vancouvers und die Energie von ungestümem Rock. Oum Kalthoum ist an Kanadas Westküste angekommen – wohl selten lagen Mittelmeer und Pazifik näher beieinander.

© Stefan Franzen

Haram live:
Parterre Basel, 15.6., veranstaltet von Eclipse Concerts

Haram In Studio
Quelle: youtube

Von der Karibik nach Québec (#12 – Canada 150)


Maritza (Québec)
aktuelles Album: Libérons-Nous (Ste-4 musique)


Maritza Bossé-Pelchats Geschichte spiegelt Kanadas multikulturelle Struktur wider: Sie stammt aus der Donimikanischen Republik und wurde von einer Familie bei Québec Ville adoptiert. Dort ist sie auch aufgewachsen und hat ihre ersten musikalischen Schritte gemacht. Maritza konnte ich vor dem Release-Konzert ihres neuen Albums
Libérons-Nous im prächtig-plüschigen Cabaret Lion D’Or beim Montréal en lumière-Festival zu einem kurzen Gespräch treffen.

Maritza, kannst du deine frühen musikalischen Einflüsse skizzieren?

Maritza: Ich wuchs in L’Ancienne-Lorette auf, das ist bei Québec Ville. Meine erste große Liebe war das Tanzen, aber ich war in einem Schulchor, einfach zum Spaß. Am meisten Spaß machte es mir aber, Choreographien zu erfinden und Shows in meiner Schule zu organisieren. Zu der Zeit hatte ich noch überhaupt keine Ambitionen, Musikerin zu werden, ich hatte auch keine musikalische Ausbildung. Aber die Musik hatte schon eine große Wirkung auf mich, denn ich war sehr introvertiert. Musik half mir, weinen zu können. Ich hörte viel Janis Joplin, ihr „Cry Baby“, Tracy Chapman, hatte auch eine Countryphase, in der ich Johnny Cash hörte…

…aber der war kein Gesangsvorbild für dich….

Maritza:…nein! Außerdem Whitney Houston und Maria Carey, und ich ahmte sie ein bisschen nach, diese 80er-Stimmen, ohne dabei daran zu denken, selbst Musikerin zu werden. Weiterlesen

Eine andere Musikgeschichte Kanadas (#11 – Canada 150)

Foto: Stefan Franzen

Während der 150. Geburtstag Kanadas näher rückt, ist nicht allen zum Feiern zumute. Diejenigen, die vor 1867 schon seit Jahrtausenden auf kanadischem Boden gelebt hatten, mussten nach der Ankunft der Kolonisatoren Vertreibung, Missbrauch und Ermordung über sich ergehen lassen. Die lange Leidensgeschichte der First Nations, Inuit und Métis wird seit 2008 durch die Truth & Reconciliation Commission aufgearbeitet, doch die Aufklärung der Verbrechen ist nur ein erster Schritt. Wer mit den Ureinwohnern sprechen möchte, deren Kultur in Kanada am 21.6. mit dem National Aboriginal Day geehrt wird, trifft oft auf Einsilbigkeit oder Schweigen – ich habe das auf meiner Reise selbst erfahren müssen.

Doch das Thema ist in der öffentlichen Diskussion angelangt und wird auch musikalisch aufgearbeitet. Im letzten Herbst hat Gord Downie, der krebskranke Sänger der Rockband The Tragically Hip mit seiner Platte The Secret Path die Geschichte des 12-jährigen Anishinaabe-Jungen Chanie Wenjack erzählt, der 1966 in einer kirchlichen Residential School in Ontario missbraucht wurde, floh und auf seinem 600 Kilometer langen Nachhauseweg an Entkräftung neben den Bahngleisen starb. Ihm bleibe noch Zeit, eine Geschichte zu erzählen, sagte Downie, und es war klar für ihn, dass es diese sein müsse.

Gord Downie: „The Stranger“
Quelle: youtube

Auch in die klassische Musik sind Versöhnungsversuche eingeflossen: Der Komponist Christos Hatzis lässt in seiner Musik zum Tanztheaterstück Going Home Star, das eine ähnliche Story wie die von Chanie Wenjack erzählt, Katajaq, First Nation-Gesänge und eine Orchesterpartitur aufeinander treffen. Mit We Are The Halluci-Nation hat die in Ottawa beheimatete Band A Tribe Called Red ein HipHop-Statement für die Fortdauer der First Nation-Kultur veröffentlicht. Und schließlich treten auch Inuit-Künstler wie die progressive Tanya Tagaq oder die tanzbaren Jerry Cans für das Erstarken eines neuen arktischen Selbstbewusstseins auf den Plan. An dieser Stelle möchte ich gerne nochmals verweisen auf mein Anfang des Jahres auf diesem Blog veröffentlichtes Interview mit den beiden Inuit-Frauen Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq.

Mit einem zweiten Interview möchte ich jetzt nachlegen: Der Plattensammler Kevin Howes vom Label Light In The Attic, Experte für marginalisierte Musikkulturen seiner Heimat, ist der Protagonist. Nach fünfzehn Jahren Nachforschungen in unzähligen Plattenläden und den Archiven der Canadian Broadcasting Corporation hat er 2015 Native North America, ein CD-Buch mit 34 Titeln von First Nations- und Inuit-Künstlern kompiliert, die von Mitte der 1960er bis in die 1980er entstanden. Das von mir transkribierte Interview hat mein Kollege Peter Disch mit Howes geführt – ich stelle Exzerpte daraus vor. Weiterlesen

Engagierte Bounciness (#10 – Canada 150)

Alysha Brilla (Ontario)
aktuelles Album: Human ( SunnyJam Records)

Mitten in einem Schneesturm treffe ich in der Zwillingsstadt Kitchener-Waterloo südlich von Toronto ein. Ein besonders kurioses Beispiel für Kanadas Einwanderergeschichte: Bis in die 1920er hieß der Ort aufgrund der vielen Deutschstämmigen Berlin. Dabei wäre München passender: Im Zentrum der Stadt thront ein Laden, in dem sich Dirndl und Bierkrüge erstehen lassen, und eine riesige Mehrzweckhalle kündet vom alljährlich stattfindenden Oktoberfest, angeblich das zweitgrößte der Welt.

Die Nachbarstadt Waterloo dagegen ist in der Hand von Studenten. Nur mit Mühe finde ich in den Schneeverwehungen ein kleines vegetarisches Restaurant, wo ich mit Alysha Brilla verabredet bin. Sie hat mich zum Interview hierher eingeladen, denn sie will, dass ich ihre Heimatstadt kennenlerne. Mit beschlagener Brille stolpere ich die enge Treppe hinauf und stehe erst einmal in einem Plattenladen: Vollgestopft mit Vinyl-Raritäten bis unter die Dachschräge. Alysha aber sitzt unten bei einer heißen Suppe. Biographisch und musikalisch ist sie eine Art Bilderbuchmodell für die kanadische Diversität: die Mutter weiße Christin, der Vater indo-tansanischer Muslim.

Ich möchte mit deinem gemischten Hintergrund starten: Wie waren als Kind und Jugendliche deine Erfahrungen als Tochter einer Kanadierin und eines Indo-Tansaniers? Fühltest du dich als Außenseiterin?

Alysha Brilla: Ich fühlte mich mit meinem gemischten Erbe schon ein bisschen als Außenseiter, als ich jünger war, denn ich kannte nicht viele Leute, die auch diesen Background hatten. Klar, die Leute aus der Karibik durch ihre Vorfahren, aber ich kannte nicht viele, deren Mum aus einem und deren Dad aus einem anderen Land kamen. Das hat dazu geführt, dass ich viel über die Bedeutung von Identität nachgedacht habe. Meine Eltern hatten ja auch verschiedene Religionen: Meine Mutter wuchs als Christin auf, mein Großvater war ein Geistlicher, wohingegen mein Vater ein Schiit ist. Manchmal gingen wir zur Kirche, manchmal zum Jamatkhana-Gotteshaus, manchmal waren wir sehr westlich angezogen, wenn wir zur Jamatkhana gingen dagegen indische Kleidung. Und auf der Basis dieses gemischten Hintergrunds gab es immer viele politische Diskussionen in meinem Elternhaus. Weiterlesen

Wanderer durchs Grasland (#9 – Canada 150)

Poor Nameless Boy (Saskatchewan)
aktuelles Album: Bravery (Chronograph Records)

Auf meiner Reise durch Kanada habe ich mich insgeheim immer wieder gefragt, welche Sorte Musik der typisch kanadische Musiker macht, was den typischen Kanadier überhaupt auszeichnet. Ich war schon wieder zurück in Europa, als ich in Basel Joel Henderson traf, der so ein paar Klischees erfüllen könnte – von wegen Holzfällerhemd, Bart, Landbursche aus der Prärie. Doch im Gespräch wurde mir schnell klar, dass das mit den Stereotypen im Kopf schnell ad acta gelegt werden muss. Warum Henderson sich als Künstler Poor Nameless Boy nennt, aus welchen Quellen er für sein Songwriting schöpft, und welche Gedanken er sich zur aktuellen politischen Situation in Kanada und zum 150. Geburtstag des Landes macht, lest ihr hier im 9. Teil meiner Serie.


Joel, du bist in Saskatchewan aufgewachsen, eine Provinz, die von der Weite der Landschaft, der Prärie geprägt ist. Wie wirkit sich das auf dein Songwriting aus?

Henderson: Songwriter haben ja eine Antenne dafür, was um sie herum passiert. Und in Saskatchewan ist da eine Stille, du siehst den weiten Himmel. Besonders da, wo ich herkomme, gibt es nicht viel Wälder oder Bäume, du musst gezielt nach ihnen suchen. Wo ich herkomme, da gibt es einfach nur Landwirtschaft, Menschen und manchmal Städte.

Es wird ja auch unglaublich kalt dort. Ist der Winter deine kreative Zeit?

Henderson: Ja, ich denke, das ist der Fall. Der Winter bringt deine nachdenkliche Seite zum Vorschein. Du willst es warm haben, am Feuer sitzen, dann willst du schreiben und zu singen anfangen, es ist ruhiger. Wenn es neun Uhr abends ist und draußen bitterkalt, dann willst du etwas Poetisches, Schönes schaffen.

Welche musikalischen Einflüsse hattest du als deine Karriere anfing? Waren das eher Leute aus deiner Umgebung oder auch aus dem Ausland?

Henderson: Die Faszination für Songwriter habe ich erst vor fünf, sechs Jahren entwickelt. Ich wuchs vielmehr auf mit der Musik der Fünfziger und Sechziger, das war der Einfluss meines Vaters. Während meiner Studien habe ich dann aber alles gehört von R&B über Rap bis zu Punk. Ich habe alles aufgesogen. Mit 20 habe ich angefangen, eigene Songs zu schreiben, und erst da kam ich dann eher in Berührung mit kanadischen Songwritern. Heute kommt der größte Einfluss, den ich habe, von den Menschen, die ich treffe, Musiker, mit denen ich die Bühne teile, denn ich sehe dann live was sie tun, nicht nur wie sie spielen, sondern auch wie sie mit dem Publikum umgehen.

Eine sehr offensichtliche Frage: Warum trittst du nicht unter deinem richtigen Namen auf?

Henderson: Der Name entstand, weil ich nach einem anderen letzten Namen suchte. In Saskatchewan erinnern sich noch viele Leute daran, wie sie mit meinem Dad in einer Band spielten, und auch mein Bruder ist sehr aktiv in der Musikszene, auch meine Onkel und andere Familienmitglieder. Der Name „Henderson“ hat also schon eine Vergangenheit. Zu der Zeit habe ich die Musik noch nicht so ernst genommen, ich wollte einfach einen Namen. Und weil ich mir keinen neuen ausdenken konnte, sagte mein Vater im Witz zu mir: „Hey, poor nameless boy!“ Aber ich ging nach Hause und merkte, ja, das ist der Name, der mir gefällt und der auch meine Musik widerspiegelt. Auch heute noch. Weiterlesen

Ein Inselvogel in Paris (#8 – Canada 150)


Alejandra Ribera (Ontario)
This Island
(Pheromone Recordings/Rough Trade)

Schauplatz London, Ontario. Die Aeolian Hall ist eines der wenigen historischen Gebäude in der südkanadischen Stadt. Es ist Alejandra Riberas Lieblingssaal, denn er kommt ihr mit seiner theaterhaften Atmosphäre entgegen. Die Konzerte der Kanadierin mit argentinisch-schottischen Genen sind Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Still zieht sie in ihre Gefühlswelt hinein, und hat sie die Zuhörer dann gepackt, überwältigt sie mit überraschenden Ausbrüchen von Intensität. So wie an diesem bitterkalten Märzabend in ihrer Heimat: „Blood Moon Rising“ beginnt als gemächlicher Roadmovie-Walzer, steigert sich am Ende aber mit ungebremster Wucht zur Klage über die Gewehrkugeln, die ein Verflossener in ihrer Brust hinterlassen hat. Riberas Landsleute sind tatsächlich erst einmal erschüttert, wie sich da wisperndes Grollen urplötzlich zum vokalen Vulkanausbruch entwickelt hat. Dann bricht sich der Applaus Bahn. Musik sei für sie Religion, sagt die Sängerin. Und in diesem Sinne auch Heilung.

Die Songs, die Alejandra Ribera ab dem 19.5. bei neuen Liveterminen in Deutschland mit Jean-Sebastien Williams (g) und Cédric Dind-Lavoie (b, p) vorstellt, stammen von This Island. Um diese Lieder zu schreiben siedelte die Kosmopolitin aus Toronto nach einem künstlerischen Intermezzo in Montréal nach Paris über. Nach der Île de Montréal wurde die Île de France zu ihrer Insel. Eine Millionenstadt, in der sie niemand kannte und deren Sprache sie nicht fließend beherrschte, fungierte als Einsiedlerzelle. Durch diese selbstgewählte Klausur nahm ein intimer Zyklus von Liedern Form an, die eher ungewöhnliche Themen haben: Eine Rede Tilda Swintons über das Licht der Rothko-Gemälde als Trost nach dem unerwarteten Tod eines Freundes. Motive aus einem Film von Lasse Hallström als Spiegel einer unmöglichen Liaison. Subtil reflektiert sie in „Undeclared War“ über einen eingewanderten Vater, der Altschulden der Identitätsfindung mit sich herum-trägt, auf die Tochter über-trägt. Und auch die Verzweiflung über das Charlie Hebdo-Attentat, das passierte, als sie gerade frisch in Paris angekommen war, ist dem Album eingebrannt: Das Geheul der Polizeisirenen um sie herum formte Ribera, zusammen mit Bildern aus Virginia Woolfs zu „I Am Orlando“, zu einer fragilen Beschwörung von Wiedergeburt. Hier wird „This Island“ zu „this silent“, so still.

Riberas neue Songs fressen sich bei aller Leidensthematik aber nicht im einem Jammertal fest: Ihre unerschütterliche Hoffnung auf die Liebe und ihr umwerfender Humor, ganz schottisches Erbe, schwingen oft mit, in diesen Songs zwischen Kammerpop und Alternativ-Folk. Aus den augenzwinkernden Betrachtungen des Comediens Billy Connolly über den Schöpfer aller Dinge hat sie eine Art spirituellen Skiffle gestrickt. „Carry Me“ ,die aktuelle Single, hat sie als leuchtende Folk-Hymne auf Geborgenheit in der Fremde geschrieben, und „Led Me To You“ ist ihre Lesart des Gospel, ein Preisgesang auf alle kostbaren Momente von Hoffnung und Wahrhaftigkeit. In „Soft Place To Land“ schließlich wird ihre hauchende, rauchige Stimme ganz zur Brise, die den kleinen Inselvogel trägt, damit er einen Landeplatz finden kann.

© Stefan Franzen

Hier lässt sich noch einmal das Interview nachlesen, das ich im November 2015 mit der Sängerin geführt habe.

Alejandra Ribera: „Undeclared War“
Quelle: CBC Music


Tourdaten:
19.5. Flensburg, folkBaltica – 20.5. Klanxbüll, folkBaltica – 21.5. Bernau, Siebenklang-Festival – 22.5. Hamburg, Nochtspecher23.5. Oldenburg, Theater Laboratorium – 26.5. Erlangen E-Werk – 27.5. Offenbach, Hafen 2

Mont-sur-réal, ma terre-de-sel (#7 – Canada 150)

Saltland (Québec)
A Common Truth
(Constellation Records/Cargo)

Mit der Musikszene Montréals ist es ähnlich wie mit der ville souterraine der Metropole. Man kann sich darin verlie/r/ben. Je tiefer man in die unermesslichen Räume vordringt, umso hoffnungsloser wird der Fall. Und vielleicht stößt man dort unten irgendwo auf ein „Licht der Gnade“.

Deshalb ist es jetzt Zeit, das Label Constellation Records vorzustellen, das sich am Sankt Lorenz-Strom um experimentelle Klänge kümmert. Den besten Einstieg bietet eine Neuveröffentlichung der Cellistin und Komponistin Rebecca Foon, die unter dem Namen Saltland firmiert – ansonsten kennt man sie aus den Formationen Esmerine und Thee Silver Mt. Zion. A Common Truth ist ihr zweites Solo-Album.

Foto: Hraïr Hratchian

Foon baut aus ihren meditativen Cello-Linien ganze Kammerorchester, einzelne Linien heben sich melancholisch heraus wie die archaische Gesänge aus dem kaukasischen Kulturraum oder auch mal wie eine Pferdegeige aus den Weiten der mongolischen Steppe. Verfremdete Liegetöne erinnern an die Laute von nächtlichen Waldtieren oder altersschwache Teile einer Industrieanlage. Ihre Stimme bettet sich in rund der Hälfte der neuen Stücke hintergründig ein in die Arrangements, in denen außerdem eine Orgel, ein Piano und eine Geige Textur schaffen. Der soghafte Sound wurde von Jace Lasek geschaffen, ein Musiker aus Saskatchewan, der mit seiner Breitwand-Rockband The Besnard Lakes nun auch in Montréal angesiedelt ist (ein Interview mit ihm folgt in meiner Canada 150-Serie).

Eher bitterer, und nicht salziger Beigeschmack: Während Teile von Montréal in den letzten Tagen in den Frühlingsfluten versunken sind, lerne ich, dass Foon den Klimawandel als übergreifendes Thema für dieses Werk gewählt hat. Sie ist Teil des Künstlerkollektivs Pathway To Paris, das sich dem Kampf gegen die globale Erhitzung widmet und dem sich auch Patti Smith und Thom Yorke angeschlossen haben. Dieses Werk wählt nicht den apokalyptisch-zornigen und auch nicht den defätistischen Weg: Vielmehr fliegt Foon mit ihrer Imagination über eine versehrte Erde, kleidet ihre Besorgnis in feine Klangseismik.

Saltland: „Light Of Mercy“
Quelle: vimeo

 

Side tracks #22: Von Mile End in die Welt (#6 – Canada 150)

Erik West Millette (Québec)
aktuelle Alben: West Trainz / Train Songs (L-Abe)


Ganz am Ende des Künstlerviertels Mile End in Montréal stößt man auf die Avenue Van Horne. Hier ist ein kleiner Park im Gedenken an die 2010 verstorbene Lhasa de Sela eingerichtet, auf einer anderen Freifläche stehen grandiose Schrottskulpturen von Glen Lemesurier, und hinter einer schweren Eisentür verbergen sich die Werkstätten etlicher Künstler. Hier hat auch Erik West Milette sein Headquarter, Chef des West Trainz-Projekt, ich möchte behaupten, des fabelhaftesten musikalischen Eisenbahn-Unternehmens unserer Zeit. Erik empfängt mich am Tor, als Gastgeschenk habe ich eine Ausgabe des deutschen Eisenbahnkuriers zum 125. Geburtstag der Höllentalbahn dabei.  In wenigen Minuten sind wir tief in der Historie der Canadian Pacific Railway drin – und in seiner eigenen Geschichte, die sich von Louisiana bis Québec quer über den nordamerikanischen Kontinent zieht.

Erik, kannst du zu Anfang etwas über deinen musikalischen Werdegang erzählen?

Erik West Millette: Ich bin klassisch ausgebildet, auf dem Kontrabass, dem Cello und in Komposition. Ich habe auch elektroakustische Musik gespielt. Ich habe in Russland studiert, danach einige Meisterklassen in Lübeck besucht. Es war fantastisch, sechs Monate lang in Norddeutschland zu sein. Da ging es hauptsächlich um historische Musik, Bach und andere Organisten. Da war ich zwanzig, später war ich am Rimsky-Korsakoff-Konservatorium, um Prokojieff und Rimsky-Korsakoff zu studieren, auch Meisterklassen auf dem Kontrabass zu machen. Danach habe ich eine Weile in Südfrankreich studiert, bevor ich nach Québec zurückkam, nach Montréal. Ich habe auch Gitarre, Keys und die Hammond B3 gespielt, die liebe ich. Sehr bald finge ich an, selbst Instrumente zu entwerfen, denn ich bin ein Klangforscher und suche nach der Seele des Sounds.

Dein Großvater war Eisenbahner, hat das dein Interesse für das ganze Thema geweckt?

West Millette: Auf jeden Fall. Mein Großvater Leo West hat für die CNR gearbeitet, die Canadian National Railway. Als ich vier Jahre alt war, hat er mich mit allen Leuten in der Kaboose bekannt gemacht, dem letzten Waggon, in dem die Arbeiter mitfahren, auch mit dem Lokomotivführer, und ich war sehr beeindruckt. Das war eine Diesellok, den Geruch fand ich toll. Meine Familie kam über New Orleans, Kansas, Chicago und New York hierher nach Montréal, mein Opa war Afroamerikaner und verliebte sich in eine Upper Class-Lady aus Québec City. Ich habe also immer noch Familie in Louisiana und Florida. Mein Urgroßvater arbeitete außerdem für die Canadian Pacific Railway und parallel war er musical director – vielleicht kam von ihm die Inspiration, die Themen Musik und Eisenbahn zu mischen. Weiterlesen

Die Weite Manitobas, der Puls von Montréal (#5 – Canada 150)

Geneviève Toupin (Manitoba)
aktuelles Album: Willows (Productions Sirène des Plaines)
aktuelles Projekt: Chances


Nachdem ich einen spannenden Songwriter-Abend im Verre Bouteille in Montréal verbracht hatte, entdeckte ich am Ausgang einen Flyer, auf dem ihr neues Projekt „Chances“ angekündigt wurde. Geneviève Toupins Musik kannte ich schon, seitdem Ulrich Schuwey, der wohl rührigste Experte franko-kanadischer Klänge unserer Breiten mich auf sie aufmerksam gemacht hatte. Grund genug, das Établissement im Norden der Stadt wieder aufzusuchen und Geneviève spontan für ein Interview zu treffen. Während des anregenden Gesprächs über Identitätsfindungen und -trennungen durch zwei Sprachen und drei kulturelle Wurzeln habe ich gelernt, dass die französische Diaspora über ganz Kanada verstreut ist – und ich habe auch zum ersten Mal richtig das Französisch von der anderen Seite des Atlantiks verstanden.


Geneviève, vor einigen Jahren hast du parallel ein Album auf Französisch und eines auf Englisch veröffentlicht. Sind da zwei Welten, zwei Identitäten in deinem Kopf? Weißt du bei den ersten Ideen für ein Lied schon, das wird auf Englisch oder das wird auf Französisch sein?

Geneviève Toupin: Das ist wirklich eine gute Frage. Ja, ich spüre, dass ich zwei Identitäten habe. Wenn ich auf Englisch schreibe, ist das ein ganz anderer Prozess. Die Melodien, selbst die Themen, über die ich schreibe, unterscheiden sich, es ist eine andere Intimität da. Auf meinem letzten Album Willows habe ich versucht, beide Welten ein bisschen zu vermischen. Es war ein interessantes schöpferisches Experiment, zu gucken, was dabei herauskommen wird. Ich habe gemerkt, dass ich trotzdem weiterhin getrennt in den beiden Sprachen kreiere. Und ja, sobald ich ein paar Akkorde für einen Song habe, weiß ich, ob ich ihn auf Französisch oder Englisch schreiben werde. Warum das so ist, kann ich dir nicht einmal sagen, das geht nach meinem Instinkt – und ich bin eine sehr instinktive Schreiberin. Es ist einfach so, dass ich merke, dass dieses oder jenes Gefühl in der einen bestimmten Sprache ausgedrückt werden möchte. Weiterlesen