Eine andere Musikgeschichte Kanadas (#11 – Canada 150)

Foto: Stefan Franzen

Während der 150. Geburtstag Kanadas näher rückt, ist nicht allen zum Feiern zumute. Diejenigen, die vor 1867 schon seit Jahrtausenden auf kanadischem Boden gelebt hatten, mussten nach der Ankunft der Kolonisatoren Vertreibung, Missbrauch und Ermordung über sich ergehen lassen. Die lange Leidensgeschichte der First Nations, Inuit und Métis wird seit 2008 durch die Truth & Reconciliation Commission aufgearbeitet, doch die Aufklärung der Verbrechen ist nur ein erster Schritt. Wer mit den Ureinwohnern sprechen möchte, deren Kultur in Kanada am 21.6. mit dem National Aboriginal Day geehrt wird, trifft oft auf Einsilbigkeit oder Schweigen – ich habe das auf meiner Reise selbst erfahren müssen.

Doch das Thema ist in der öffentlichen Diskussion angelangt und wird auch musikalisch aufgearbeitet. Im letzten Herbst hat Gord Downie, der krebskranke Sänger der Rockband The Tragically Hip mit seiner Platte The Secret Path die Geschichte des 12-jährigen Anishinaabe-Jungen Chanie Wenjack erzählt, der 1966 in einer kirchlichen Residential School in Ontario missbraucht wurde, floh und auf seinem 600 Kilometer langen Nachhauseweg an Entkräftung neben den Bahngleisen starb. Ihm bleibe noch Zeit, eine Geschichte zu erzählen, sagte Downie, und es war klar für ihn, dass es diese sein müsse.

Gord Downie: „The Stranger“
Quelle: youtube

Auch in die klassische Musik sind Versöhnungsversuche eingeflossen: Der Komponist Christos Hatzis lässt in seiner Musik zum Tanztheaterstück Going Home Star, das eine ähnliche Story wie die von Chanie Wenjack erzählt, Katajaq, First Nation-Gesänge und eine Orchesterpartitur aufeinander treffen. Mit We Are The Halluci-Nation hat die in Ottawa beheimatete Band A Tribe Called Red ein HipHop-Statement für die Fortdauer der First Nation-Kultur veröffentlicht. Und schließlich treten auch Inuit-Künstler wie die progressive Tanya Tagaq oder die tanzbaren Jerry Cans für das Erstarken eines neuen arktischen Selbstbewusstseins auf den Plan. An dieser Stelle möchte ich gerne nochmals verweisen auf mein Anfang des Jahres auf diesem Blog veröffentlichtes Interview mit den beiden Inuit-Frauen Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq.

Mit einem zweiten Interview möchte ich jetzt nachlegen: Der Plattensammler Kevin Howes vom Label Light In The Attic, Experte für marginalisierte Musikkulturen seiner Heimat, ist der Protagonist. Nach fünfzehn Jahren Nachforschungen in unzähligen Plattenläden und den Archiven der Canadian Broadcasting Corporation hat er 2015 Native North America, ein CD-Buch mit 34 Titeln von First Nations- und Inuit-Künstlern kompiliert, die von Mitte der 1960er bis in die 1980er entstanden. Das von mir transkribierte Interview hat mein Kollege Peter Disch mit Howes geführt – ich stelle Exzerpte daraus vor. Weiterlesen

Klingende Zukunft der Arktis

katajaq-duoSie sind die Hoffnungsträger ihres Volkes: Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq – zwei moderne arktische Frauen, die in  ihrer zweiten Heimat Ottawa für die Bewahrung der Inuitkultur und -sprache kämpfen. Das tun sie durch ihre Arbeit für die kanadische Regierung und die Filmindustrie, aber auch durch die weltweite Vorstellung des Kehlkopfgesangs Katajjaq, der neben seiner spielerischen Komponente dazu dient, Kontakt mit mythischen Wesen und der Natur aufzunehmen. Ich konnte die beiden im Rahmen des KlangWelten-Festivals 2016 treffen.

Ganz bewusst stelle ich dieses Interview an den Anfang des Jahres 2017: Einige der gewaltigen Herausforderungen, denen wir uns in diesem und den nächsten Jahren gegenüber sehen, können nur bewältigt werden, wenn wir wieder mehr auf die indigenen Völker hören.

Innerhalb des Klangwelten-Festivals stellen Sie den Katajjaq vor, den Kehlkopfgesang der Inuit-Frauen. Erlebt der gerade ein Revival?

Cynthia Pitsiulak: Ja, es gibt auf jeden Fall ein Revival, der Katajjaq war lange Jahre nicht populär. Wann der Katajjaq angefangen hat, lässt sich nicht genau sagen, wir wissen, dass er Jahrhunderte alt ist und von Generation zu Generation übermittelt wurde. Als die Missionare in die Arktis kamen, verboten sie uns den Katajjaq. Wir haben ihn von den frühen 1900ern an verloren, bis er vor 40 Jahren wieder langsam zurück kam in die Inuitkultur. Heute ist er stärker denn je, es gibt viele Inuitfrauen und –mädchen, die ihn ausüben. Weiterlesen