Alpin-experimentelle Weblinien

Barbara Schirmer / Carlo Niederhauser
Zeitverlust
(www.hackbrett.com)

Die Schweizer Hackbrett-Meisterin Barbara Schirmer hat das Spiel für ihr Instrument wie keine andere Musikerin bei den Eidgenossen entgrenzt. Bekannt wurde sie bei uns vorrangig durch ihre Projekte mit dem Stimmenkünstler Christian Zehnder. Für ihr neues Werk ist sie eine Liaison mit einer anderen, dieses Mal instrumentalen Klangfarbe eingegangen. Zusammen mit dem Cellisten Carlo Niederhauser entwirft Schirmer auf Zeitverlust Klangtableaus, in denen der Zeitbegriff gedehnt und aufgehoben wird. Das wird in denkbar unterschiedlicher Gestalt ausgeformt.

Da verfangen sich alpine Ländler-Reminiszenzen in wandernden Minimal-Loops („Altenalptürm“), Sakrales („Betruf“/ „Gäge Ds Ungmach“) und stille Jahreszeitenbilder durchdringen sich, losgebunden von Taktgebungen. Man hat das Gefühl durch einen akustischen Freiraum zu schreiten, in dem das Zifferblatt der Uhren stehen geblieben ist, man wie auf einem Naturspaziergang plötzlich unendlich viel Zeit hat, auf knisternde und wispernde Geräusche zu achten („Sommer In Walde“).

Die Textur zwischen dem kristallinen Hämmern und den warmen Saiten schafft dabei beglückende Dialoge, die auch mal mit Humor zu nehmen sind, etwa beim Porträt einer wiederkäuenden Kuh („Kau-trance“). Experimentell wird es bei der Reflektion der pandemischen Ausnahmezeit: Da geistert plötzlich Hitchcocks „Psycho“ ins Ohr und man begreift den Titel: Die letzten 14 Monate haben uns viel weggenommen und Einiges wiedergeschenkt.  Vor allem Letzteres ist hier auch für eine Zeit nach Corona eingefangen.

© Stefan Franzen

Eine Stax-Legende in Nashville

Egal, welche Platte aus dem Katalog von Stax Records bis 1971 man aus dem Schrank zieht: Die Wahrscheinlichkeit, dass Steve Cropper als Gitarrist, Produzent und Songschreiber daran beteiligt war, ist sehr hoch. Ob bei den Instrumental-Combos Mar-Keys oder Booker T. & the MGs, ob bei Otis Redding, Wilson Pickett, Eddie Floyd oder Mavis Staples – Croppers markante Licks und sein Pult-Knowhow zieren Unmengen von Hits des Soul-Labels aus Memphis. Mit 79 hat der Veteran mit Fire It Up (Provogue/Mascot Label Group) wieder ein R&B-Soloalbum produziert. Der Vorgänger – zumindest der, den Cropper selbst gelten lässt – datiert von 1969.

„Vergnügt“ ist das Wort, das einem sofort in den Sinn kommt, als Steve Croppers Gesicht im Zoom-Fenster erscheint. Mit seiner akkurat getrimmten Variante eines Bardo-Barts sitzt er in bester Laune vor dem Bildschirm, eingerahmt durch eine goldene Schallplatte und die Wintersonne von Nashville, die durch die Jalousien dringt. Dass der R&B-Gitarrenheld aus der Soulville Memphis seinen Alterssitz ausgerechnet im Country-Mekka genommen hat, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Für seine neue Scheibe aber ein Glücksfall, schließlich ist dort auch sein langjähriger Kumpel Jon Tiven zuhause, alter Producer-Hase im Soulgeschäft und treibender Netzwerker hinter Fire It Up!

„Schon bei unserem ersten Treffen in den Neunzigern stimmte die Chemie einfach“, sagt Cropper, der sich eisern jeden Dienstag mit Tiven zum Songschreiben trifft. „Jon brachte mich 2011 für ein Album mit Felix Cavaliere (Anm.: u.a. Sänger der Ringo Starr & His All Starrs Band) zusammen. Davon sind eine Menge Songs übriggeblieben. Aber wäre nicht der Lockdown gewesen, hätten wir die vielleicht nie fertigproduziert.“ Tiven ließ seine Verbindungen bis an die Ostküste spielen, wo er den ehemaligen Punk-Popper Roger C. Reale für die Vocals einbestellte. „Der Typ war mir komplett unbekannt“, gibt Cropper zu. „Aber als er mir ein paar Aufnahmen schickte, musste ich zugeben: Mannomann, wenn der singt, meint er es ernst! Da sind Jahrzehnte von Schmerz in seiner Stimme.“ Die Lyrics der Songs sind voll von den Dramen des Herzens, von Verlassen und Verlassenwerden, von aufregenden Achterbahnfahrten mit der Liebsten, aber auch, wie in der Single „Far Away“, vom Reflektieren über die absurde Welt von 2021.

Steve Cropper: „Far Away“
Quelle: youtube

Ein kompakter Saxophon-Satz und Keyboards, alles von Tiven eingespielt, sorgen für die Textur – und dann kommen wir zum Kern der Sache, der Rhythm Section: Steve Croppers auch nach 60 Jahren R&B-Business taufrisch klingende Gitarrenlicks und acht (!) verschiedene Drummer, darunter auch ein Omar Hakim. Insgesamt ein kompaktes Tanzalbum mit Songs in der Spieldauer von klassischen Stax-Singles. Nur in „One Good Turn“ wird auf Balladentempo gedrosselt – eine Nummer, die ein wenig an „The Dock Of The Bay“ erinnert. Cropper schrieb sie 1967 mit Otis Redding, die wunderbaren Licks in den hohen Lagen kennt jeder. „Mir war der Rhythmus und das Tanzen immer das Wichtigste in der Musik“, stellt Cropper klar. „Und gerade jetzt ist es an der Zeit, dass die Leute wieder tanzen und lachen. Wie damals: Als wir mit Booker T. und den MGs am Wochenende unterwegs waren, hat unser Drummer Al Jackson von der Bühne runter die Tänzer beobachtet – und ab Montagmorgen haben wir dann zurück in den Stax-Studios ihre neuen Schritte in neue Grooves übersetzt. Denn Plattenmachen ist wie Angeln: Du musst auch mal den Köder wechseln, damit die Fische anbeißen.“

Dass die Fische dank Croppers Talenten anbissen, merkt Stax-Chef Jim Stewart in den frühen Sechzigern schnell. Der auf einer Farm in Missouri geborene Autodidakt auf der Gitarre kommt über die Royal Spades (später Mar-Keys) zum 1958 gegründeten Label, wird mit dem Organist Booker T. Jones, Bassist Donald Dunn und Drummer Al Jackson zur Hausband für unzählige schwarze Sänger, übernimmt immer mehr Pult-Arbeiten und Songwriting-Aufgaben. Sogar Atlantic bucht für seine Stars Sessions bei Cropper in Memphis. Zwei Markenzeichen etabliert er in den Sechzigern: Zum einen die prägnanten „hammer tones‘, kurze Fills in den Vokalpausen der Songs, die sich nur auf einer Telecaster-Gitarre wegen des knochentrockenen, Feedback-freien Sounds spielen lassen. Den Cropper-Sound können Soul-Liebhaber deshalb gut von dem seiner Kollegen Cornell Dupree und Jimmy Johnson unterscheiden. Das Mojo Magazine listet ihn dieser Kunst wegen als zweitbesten Gitarristen der Welt hinter Jimi Hendrix.

Zweites Markenzeichen: die markanten Intros. „Mir fiel auf, dass die DJs im Radio immer quatschten, bis der Gesang einsetzte. Also schrieb ich Intros, die so laut und fett waren, dass sie das nicht mehr machen konnten. Das fing an mit Wilson Picketts ‚In The Midnight Hour‘, ab da war ich der ‚Intro Guy‘. Und als Isaac Hayes für Sam & Dave ‚Soul Man‘ schrieb, riss er mich mitten aus einer Session und sagte: ‚Hey Steve, ich komme nicht weiter, schreibst du mir ein Intro?‘ Heute scheint es mir, dass Musik nur noch zu Poetry gesetzter Sound ist. Bei uns war immer erst die Musik da, und das ist auch auf dem neuen Album noch so.“

An dieser Stelle des Gesprächs beginnt Cropper, in Anekdoten zu schwelgen. Nein, beim besten Willen könne er keinen Lieblingshit aus dem Stax-Katalog benennen, er sei auf alle stolz. „Aber wenn du mich fragst, bei welchem ich es bedauere, dass er kein Hit geworden ist, ist die Antwort klar: Otis Reddings ‚Nobody‘s Fault But Mine‘. Dabei hatte der einen so grandiosen Groove!“ Besonders gern erinnert er sich an die Sessions für Mavis Staples‘ erstes Solo-Album. „Ihr Vater Pops war sehr zurückhaltend mit Songmaterial außerhalb des Gospelbezirks. Ich musste Mavis feinfühlig Material auf den Leib schneidern. Wir starteten mit Jimmy Webbs ‚A House Is Not A Home‘, damit war er einverstanden. Und von da an gab er seinen Segen.“

Zu dieser Zeit, 1969, hatte Stax mit dem neuen schwarzen Vize-Chef Al Bell schon eine turbulente Phase überstanden. „Lass mich eines ganz klar sagen.“ Cropper zieht die Brauen hoch. „Es gab bei Stax keine Hautfarbe. Wir waren Menschen, die zusammenkamen, um Musik zu machen. Als Dr. King erschossen wurde, gab es vorübergehend auch Spannungen bei uns. Doch die Stax-Studios waren das einzige Gebäude im Viertel, das während der Unruhen nicht abgefackelt wurde. Denn es war bekannt: Hier ist ein gesegneter Ort, und zwar für alle.“ Trotzdem war die Blütezeit von Soulville vorbei, Cropper verließ das Label 1971 und eine neue Welt tat sich für ihn auf: Er spielte auf Alben von John Lennon und Ringo Starr, wurde schließlich einer der Blues Brothers. An die Deutschlandtourneen mit der Filmcombo erinnert er sich immer noch gerne: „Wir haben die Ballrooms bei euch gerockt!“ Später luden ihn Bob Dylan, Eric Clapton und Neil Young auf die Bühne, mit einer wiedererstandenen Version der MGs. Booker T. Jones sieht er immer noch regelmäßig, in der letzten Dekade musizierte er mit ihm im Weißen Haus und in der Royal Albert Hall bei einer Tom Jones-Gala.

Was er sich für die Zukunft wünscht? Er schließt mit einem gewaltigen Understatement. „Jemand hat mal gesagt: Alles was du auf deinem Instrument produzieren musst, ist eine Note! Und dann versuchst du dein Leben lang, diese eine Note auf verschiedene Positionen zu übertragen. Damit bin ich immer noch zugange. Aber ich werde wohl sterben, ohne zu wissen wie man richtig spielt.“ Und das als zweitbester Gitarrist der Welt.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #138

Steve Cropper: „Fire It Up“
Quelle: youtube

Malisches Kammerflirren II

Toumani Diabaté & the London Symphony Orchestra
Kôrôlén
((World Circuit/BMG)

Einen Dialog zwischen einem außereuropäischen Instrument und einem westlichen Orchesterapparat herzustellen, kann zur Quadratur des Kreises werden, auch ein Ravi Shankar ist daran schon gescheitert. Umso beachtlicher Kôrôlén, Toumani Diabatés jetzt veröffentlichtes Teaming Up mit dem London Symphony Orchestra für das Barbican Centre von 2008. Auf dieses Teamwork aus eurozentrischer Perspektive zu blicken, wäre fehl am Platz: Schon während des Mande-Reiches im 13. Jahrhundert spielten die Griots, die musizierenden Geschichte(n)-Erzähler, auf Stegharfen und Spießlauten eine melodisch und rhythmisch hochkomplexe Musik für Könige, die getrost als „höfische Klassik“ bezeichnet werden darf. Zu einer Zeit, als sich in Europa gerade mal eine frühe Mehrstimmigkeit herausschälte.

Toumani Diabatés Vorfahren waren damals schon in direkter Linie dabei. Wenn hier also malische Musik auf abendländische Symphonik trifft, geschieht das auch aus rein historischer Überlegung auf Ohrenhöhe. Dank der Arrangeure Nick Muhly und Ian Gardiner liegen in der Begegnung des Griots in der 37. Generation nicht nur Streicherteppiche unter den westafrikanischen Kora-Linien, sondern Bläsergruppen nehmen Motive auf, dialogisieren, verbünden sich mit dem Balafon, und die Geigen setzen Kontrapunkte. Ein symphonisches Ambiente, das räumliche Tiefe bietet statt kitschigen Unterbau.

© Stefan Franzen

Toumani Diabaté & the London Symphony Orchestra: „Haïnamady Town“
Quelle: youtube

Malisches Kammerflirren I

Ballaké Sissoko
Djourou
(NoFormat/Indigo)

Um die pure Schönheit akustischer afrikanischer Kammermusik zu genießen, ist der malische Kora-Spieler Ballaké Sissoko immer eine gute Adresse, etwa in Gesellschaft mit seinem sagenhaften Trio 3MA oder mit dem Cellisten Vincent Ségal. Auf seinem neuen Opus Djourou öffnet sich der Malier ungewöhnlichen Begegnungen, die westafrikanische Stegharfe tritt in in Zwiesprache mit vielen Gästen. Sissokos gambische Instrumentenkollegin Sona Jobarteh ist im geradezu höfisch tönenden Titelstück eine naheliegende Duopartnerin, und auch mit Landsmann Salif Keita teilt der Griot den Nährboden. Die Überraschungen passieren aber auf dem internationalen Parkett: Frankreichs Popsängerin Camille gestaltet mit ihrer fruchtigen Sinnlichkeit eine grandioses Liebesständchen für die Kora, und Piers Faccini fühlt sich wiegend in eine Sahel-Ballade ein.

Besonders berührend ist sein Aufeinandertreffen mit Rapper Oxmo Puccino, der ihm eine Poesie über seine Spielhände zugeeignet hat – hier vereinen sich auf dem Papier unvereinbare Welten zu einer Vision von afrikanischem Erbe und Moderne. Der Spagat geht mit Klarinette und Cello bis hinüber zur Klassik in Gestalt einer freien Adaption von Berlioz‘ „Symphonie Fantastique“. Und selbst die Rocker von Feu! Chatterton zähmt der flirrende Saitenklang. Die Kora als funkelnde Hauptperson in ganz unterschiedlichen Kulissen der verschiedensten Musikgenres: ein Juwel, das durchaus auch für Hörergruppen funkeln könnte, die dem Instrument bisher fern geblieben sind.

© Stefan Franzen

Ballaké Sissoko & Sona Jobarteh: „Djourou“
Quelle: youtube

Butterweich und feinpinselig

Foto: Thomas Radlwimmer

Festlegungen sind nicht die Sache des vielgesichtigen Gitarristen, Posaunisten, Komponisten, Arrangeurs und Bandleaders Emiliano Sampaio: Seine Musik wandelt zwischen intimem Triosetting, Nonett und Bigband, greift die Farben Brasiliens von Frevo bis Samba auf, geht aber auch in unerwartete Gefilde hinein, etwa Kooperationen mit Slam-Poeten. Erstmals hat Sampaio sich nun mit seinem Meretrio (Luis André, dr, und Gustavo Boni, b) ganz der Musik seiner ersten Heimat verschrieben. Sein neues Album hat die Corona-Not zu einer Tugend gemacht: In reizvoll reduzierter Trio-Konstellation greift Choros Klassiker und unbekanntere Stücke aus dem nun schon 140 Jahre währenden, zeitlosen Genre Brasiliens auf, lässt die Melodien von Pixinguinha oder Jacob do Bandolim mit ungewohnten Harmonien, komplexen Arrangements und jazziger Improvisationswürze neu aufscheinen.

Mit einer wunderbar clean gespielten E-Gitarre, umtriebigem E-Bass und feinpinseligem Schlagzeug bekommt der Choro einen zeitgemäßen Spin und bleibt doch Chamber Music. Ein Vibraphon leuchtet in Pixiguinhas „Ingénuo“ auf, ein wenig Street Parade-Feeling blitzt durch die bukolische Posaunenarbeit in „Na Gloria“. Und die Läufe aus Jacob do Bandolims „Assanhado“ und „Santa Morena“ hat man noch nie so butterweich gehört.

Für die Jazzfacts des Deutschlandfunks habe ich ein ausführliches Interview mit Emiliano Sampaio geführt. Mein Porträt ist am Donnerstag, den 8.4. zwischen 21h05 und 22h zu hören und steht danach 7 Tage im Podcast zur Verfügung.

Meretrio: „Santa Morena“
Quelle: youtube

Soulman auf Jazzpfaden

Das Beste aus zwei Welten: die Energie des Soul und die Harmonien des Jazz, so definiert Myles Sanko sein Schaffen. Mit seinem neuen Werk Memories Of Love (Légère Recordings) vereint der Mann aus Cambridge sie in einer ungewöhnlichen Dramaturgie von Liebesliedern.

Im Video zu seiner neuen Single „Freedom Is You“ geht Myles Sanko ins Wasser. Mit den besten Absichten, denn dort erwartet ihn ein weißgewandeter Mann für die Taufe. „Ich bin kein religiöser Mensch“, stellt Sanko klar, „aber durchaus spirituell. Und in dieser Hymne an die Musik habe ich in Bilder gefasst, wie gut es tut, von Tönen ganz umflossen zu werden wie vom Wasser. Musik ist mein Leben, mein Alles, meine Zukunft.“ Man mag von seinem strahlenden, manchmal etwas plakativen Sound angetan sein oder nicht: Diese Aussage ist absolut glaubhaft, haben seine Songs doch immer die Aura der Hingabe.

Myles Sanko, der 1980 als Sohn eines bretonischen Seemanns und einer Ghanaerin geboren wird, hat eine unstete Kindheit, die er rückblickend aber doch als „fantastisch“ ansieht. „Als Fischer gehst du dahin, wo der Fang gut ist, und das hieß für mich, ein Leben zwischen der ghanaischen Hafenstadt Tema, dem togolesischen Lomé, Abidjan in der Elfenbeinküste und dem Senegal.“ Liebgewonnene Erinnerungen hat er vor allem an Ghana, wo die Lieder, mit denen die Fischer ihre Netze einholten oder mit denen der Zimmermann das Haus baute, ihm so etwas wie einen Urkick für sein rhythmisches Empfinden gaben. Doch schließlich schlug Sanko in Cambridge Wurzeln, wo er sich in der lokalen Szene die Hörner abstieß. Von seiner ursprünglichen Liebe, dem Rap ausgehend, entdeckte er durch die dort verwendeten Samples immer mehr die Vorläufergenres.

„Wir hatten hier eine kleine Soul- und Funk-Szene, die aber gerade groß genug war, um mir das Rüstzeug zu geben“, erinnert er sich. „Ich habe hier gelernt, wie man auf der Bühne agiert.“ Und genau das wurde auch zu seinem Leitgedanken: Ein guter Sänger muss ein geborener Performer sein. Daher offenbart Sanko auch eine ausgeprägte Liebe für die Rampensäue James Brown und Otis Redding, bewundert gerade bei letzterem, wie er von delikater Sensibilität auf Explosionskraft umschalten kann. Weitere frühe Heroen: Donny Hathaway und Bill Withers, dem er attestiert, er sei eigentlich ein Jazzer, man müsse sich nur eingehend mit seinen Kompositionen beschäftigen. Auch in Sankos Timbre hat sich Mr. Withers unverkennbar als seelenverwandter Vokalist niedergeschlagen.

Myles Sanko: „Freedom Is You“
Quelle: youtube

Mittlerweile hat sich Myles Sanko von den Vorbildern und dem unverkennbar auf Retro gepegelten Sound der Frühwerke emanzipiert. „Ich denke, dass ich jetzt allmählich weiß, wo ich hinwill und dass ich akzeptiert habe, wer ich selbst bin. Ich bin gespannt, wie mein weiterer Weg verlaufen wird, denn ich habe mir vorgenommen, vor der Rente 15 Alben aufzunehmen! Memories Of Love hat einen sehr kraftvollen Sound, den ich zusammen mit meinem langjährigen Pianisten Tom O’Grady ausgeklügelt habe. Früher habe ich nicht viel mit Background Vocals gearbeitet. Aber jetzt habe ich mich gezielt entschieden, Chöre zu verwenden, viel Gospelanklänge zu verwenden. Das verleiht dem Album eine Spannung, eine Präsenz, und genau den richtigen Schwung.“ Was aber nicht heißt, dass alle elf Songs immer straightforward an die Bühnenkante gehen. Es gibt viel Platz für Improvisationen für Sax, Trompete und vor allem für O‘Gradys quirliges Klavier, auch mal unerwartete Progressionen.

Alle seine Bandmitglieder stammen aus Londons junger Jazzszene, zu der sich Sanko selbst nie zugehörig fühlte. „Ich als Außenseiter in dieser Londoner Jazzwelt, die Mischung macht’s!“, so sein Urteil. „Was mich im Soul manchmal stört, ist seine Schlichtheit, nach der aber manche der klassischen Songs des Genres gerade verlangen. Im Jazz dagegen fehlt mir zuweilen das tiefe Gefühl und die Leidenschaft. Mein Ziel ist es, das Beste aus beiden Welten zu vereinen, und die Würze sind die Streicher, der Gospel, ein Hauch Funk und HipHop.“ Sanko geht sogar so weit, dass er seinen Hörern auf dem Album zwei Songs in verschiedenen Versionen anbietet, einmal eher die jazzige Stripped Down-Version, einmal die seelenvolle Opulenz. „Wenn ein Song in reduzierter Form funktioniert, dann kannst du mit ihm nachher anstellen was du willst. Ich hoffe, ich kann meinem Publikum mit diesen Alternativfassungen auch verschiedene Reiserouten durch diese Songs ermöglichen.“

Eine mögliche Reiseroute ist auch die Landkarte der Liebe. Für Myles Sanko hat das überhaupt nichts Kitschiges oder Sentimentales. Sein Liederzyklus feiert nicht nur die Kraft der glücklichen Liebesbeziehung, er reicht auch oft ins Melancholische und Bittere, beinhaltet eben all das, was seine Erinnerungen an die Liebe triggert. Ganz offenkundig ist das im luxuriös gewandeten „Where Do We Stand“, mit dem er die problematische Beziehung zu seinem Vater aufarbeitet. „Er war ja nie da, immer auf See, ich hatte nie eine kontinuierliche Vaterfigur. Durch diesen Song können wir uns beide aneinander annähern, Heilung ermöglichen. Ich hoffe, dass das bei vielen Menschen eine Resonanz hervorruft, denn jeder schleppt ja solche biographischen Themen mit sich rum.“

Auch in „Never My Friend“ wird die eher zähe Seite der Liebe beleuchtet, die eines sich ständig ungeliebt fühlenden Pubertierenden, der neidisch die Liebespärchen um sich herum beobachtet. Hier leuchten deutliche Reverenzen an Hathaways balladeske Schwermut auf, und der Schlagzeuger hat Kaffeepause. „Viele kämpfen ja lange Jahre darum, eine Liebe zu finden, sie scheint immer ganz nah zu sein, entzieht sich dann wieder. Bei mir war das auch so, bis ich endlich meine Liebe fand.“ Ihr hat er „In The Morning“ gewidmet, eine Hymne auf die Schönheit, die mit neckischen Trompeten-Riffs und Philly-Strings gespickt ist.

Eine andere große Soulballade entfaltet er mit „Streams Of Time“, in der die Gitarre jubilierende Interludien liefert, bevor sich ein mächtiger Gospeldonner aufbaut. Und mit einem ganz unerwarteten Liebeslied klingt Memories Of Love aus. Der „Blackbird Song“ outet Myles Sanko als Naturliebhaber: „Ich habe mir neulich in Südfrankreich eine Villa gekauft. Eines Morgens war ich oben auf dem Dach, um was zu reparieren. Da fing eine Amsel zu singen an. Ich ließ den Hammer fallen und hörte einfach nur zu. In diesem Gesang, der ja so unverwechselbar ist, kamen so viele Erinnerungen hoch, an den Frühling und Sommer meiner früheren Jahre. Das war wie ein Schleusentor.“


© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #137

Radiotipp: SRF 2 Kultur sendet am Dienstag den 6.4. in der Sendung Jazz & World aktuell mein Interview mit Myles Sanko

Myles Sanko: „Blackbird Song“
Quelle: youtube

Holler love across the nation VIII

Foto: Teresa Grau Ros

Sie fehlt immer noch.

Zweieinhalb Jahre nach ihrem Tod möchte ich sie heute, an ihrem Geburtstag, zur Abwechslung mal nicht selbst singen, sondern sie von der britisch-pakistanischen Sängerin Rumer ehren lassen.

Es gibt nicht viele Tribute Songs, die Aretha Franklin direkt ansprechen, aber von den wenigen ist dieser hier einer der schönsten.

Rest In Power, Sister Ree!

Rumer: „Aretha“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #25: Eastern Winds

Fotos: Yoshi Toscani / Ellen Schmauss

Die verdienstvolle Streaming-Initiative inFreiburgzuhause habe ich schon vor einigen Wochen vorgestellt. An diesem Freitag geht sie in eine neue Live-Runde, die eine wunderbare Brücke von osteuropäischer und orientalischer Musik zur Klassik und zum Jazz schlägt.

„Eastern Winds“ unternimmt einen Dialog zwischen der preisgekrönten ukrainischen Pianistin Marina Baranova, dem Perkussionisten Murat Çoskun, bekannt durch sein Festival Tamburi Mundi, und dem Freiburger Streichquartett der Camerata Academica (Martina Wündrich, vl – Vera von Kap-Herr, vl – Anne-Françoise Guezingar, va – Georg Rudiger, vc).

Baranova wird in filigranen Eigenkompositionen  zunächst mit einer Solo-Sektion starke musikalische Bilder erschaffen. Im Anschluss führt die Klangreise mit dem Streichquartett in die georgische Musik hinein, im Fokus stehen dann Werke des Komponisten Zulkhan Zinzadse, der volksmusikalische Themen zu seinen „Miniaturen“ verarbeitet hat, vom Quartett frisch und espritvoll interpretiert. Beide Programmhälften wird Çoskun mit seinen perkussiven Fingerfertigkeiten begleiten.

Hier der direkte Link zum Konzert und unten ein kleiner Vorgeschmack.

„Eastern Winds“ (Trailer)
Quelle: youtube

Saint Quarantine #24: Place and Displays

Diese und die nächste Folge von Saint Quarantine widmen sich meiner Heimatstadt Freiburg. Nicht im bösesten Traum hätte ich gedacht, dass diese Rubrik ein Jahr lang gefüllt werden kann / muss. Doch – unter anderem – da den Entscheidungsträger*innen hierzulande ein Jahr lang Freiheitshäppchen lieber sind als wenige Wochen harter Lockdown, ist die Pandemie noch nicht bezwungen. Das macht gerade jetzt die schon lange darbende Kulturszene – neben vielen anderen Branchen – richtig kaputt.

Mit zwei virtuellen Musikereignissen unter der künstlerischen Leitung des Pianisten, Arrangeurs und Jazzprofessors Ralf Schmid (Bossarenova) stemmt sich Freiburg gegen die Pandemie. Sie finden an diesem Donnerstag und Freiburg mit nahezu 30 Mitwirkenden statt. Eingebettet sind die Konzerte in die online stattfindende 28. Ausgabe des Kongresses EAS (European Association for Music in Schools), auf dem Lehrer, Künstler und Forscher über Musikunterricht an Schulen debattieren. Vom 24. bis 27. März sind dieses Mal unter dem Motto „Music Is What People Do“ die Freiburger Musikhochschule und die Pädagogische Hochschule die Gastgeberinnen.

Während des Streaming-Konzerts „PLACE and DISPLAYS“ am 25. 3. ab 20 Uhr performen Musiker auf Straßen, Dächern und Bühnen Freiburgs ein Hybrid-Konzert mit Barockviolinen, Beatmakern, Pianoimprovisateuren und Freestyle-Rappern. Mit einer Audience-Feedback-App können die Zuschauer dabei live gespielte Improvisationen beeinflussen. Am 26.3. geht es ab 18 Uhr um die Zusammenarbeit bildender Künstler und Musiker, die in der Filmdoku „Sculpting Soundspheres“ eingefangen wurde. Hier wird beleuchtet, wie Improvisation und Komposition äußere und innere musikalische Prozesse reflektieren, die auch im Bereich der bildenden Kunst zu finden sind.

„Place & Displays“ (Trailer)
Quelle: vimeo

Äquinoktien-Klang


Auch wenn das Eis auf den Pfützen es vielleicht nicht verrät: Heute ist astronomischer Frühlingsbeginn. Zu den ersten Äquinoktien 2021 teile ich hier ein frühes Frühlingslied in doppelter Hinsicht: Gustav Mahler hat es mit Anfang Zwanzig für Stimme und Klavier geschrieben, man hört es – wie alle seiner 14 Jugendlieder – eher selten. Das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) unter Daniel Grossmann hat den ganzen Zyklus kürzlich in der Synagoge Hainsfarth mit dem Bariton Ludwig Mittelhammer eingespielt, in einer wunderbar feinfühligen Adaption für Kammerensemble.

Es lohnt sich im übrigen, auf der Seite des JCOM zu stöbern: Grossmann und sein Orchester haben es sich zum Ziel gesetzt, jüdische Kultur aus allen möglichen Hörwinkeln zu beleuchten, passend zum großen Jubiläum, das 2021 hierzulande begangen wird: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Jewish Chamber Orchestra: „Frühlingsmorgen“ (Gustav Mahler)
Quelle: youtube