Volksheld und Staatsfeind

Ein simpler Halbton auf der Bouzouki – und jeder wusste Bescheid, was da kommt. Absteigend über mehrere Stufen, wiederholt mit Verzierungen, schließlich mündend in einen rasanten Sirtaki. Wer ab Mitte der 1960er aufwuchs, konnte diesem Instrumental nicht entkommen. Die soghafte Titelmelodie aus „Zorba The Greek“, der Verfilmung eines Nikos Kazantzakis-Romans mit Anthony Quinn in der Hauptrolle, ist einer der großen Welthits seit 55 Jahren. Mikis Theodorakis, der Mann, der diese Musik geschrieben hat, ist nun im fast biblischen Alter von 96 Jahren in Athen gestorben.

Auch wenn sein „Zorba“ der einzige Berührungspunkt zwischen Millionen Menschen und ihm gewesen sein mag: In seiner fast ein Jahrhundert währenden Vita spiegelt sich Zeit- und Kulturgeschichte – nicht nur die griechische – wie in ganz wenigen anderen Biographien. Dreimal inhaftiert und gefoltert, aber auch dreimal Mitglied des Parlaments. Volksheld und Staatsfeind. Kommunist, aber auch Parteiloser. Komponist von angeblich 1000 Liedern, aber auch symphonischer Bombastiker. Im Zentrum seines musikalischen wie politischen Wirkens stand dabei stets die Suche nach Freiheit und Frieden.

1925 auf der Insel Chios geboren, begeistert er sich früh für verschiedenste Volksmusiken, die er durch häufige Umzüge der Familie kennenlernt, er schreibt Lieder, gründet einen Kirchenchor. Genauso früh wird Theodorakis politisch aktiv: Er arbeitet im Widerstand gegen die Nazis, landet, kaum volljährig, im Gefängnis, die Befreiung Athens gestaltet er auf Seiten der Linken mit. Der anschließende Bürgerkrieg bringt ihm wiederum Haft und Folter in der Strafkolonie auf Ikaria ein, nur knapp überlebt er das Martyrium. Auf Kreta kann er erstmals als Orchesterchef arbeiten, studiert in den 1950ern in Paris bei Olivier Messiaen. Theodorakis‘ erste Erfolge liegen in der klassischen Sphäre: Ballettmusiken, Sonatinen, Filmmusiken, ein symphonisches Debüt, das sein Beitrag zur Versöhnung nach dem Bürgerkrieg ist. Versöhnung geschieht bei ihm auch stilistisch: Die Tonleitern der Volkskulturen lässt er in seine Orchesterwerke einfließen, er sieht das hellenische Rohmaterial als geeignetes Mittel, die Krise der modernen Kunstmusik zu bewältigen. Und in den Liederzyklen, beginnend mit „Epitaphios“, verknüpft er pionierhaft ländliche Folklore mit dem Rembetiko, der urbanen Musik, die in den Hafenkneipen entstand. Grigoris Bithikotsis singt sie zunächst, doch ab der „Ballade von Mauthausen“ wird 1963 Maria Farantouri die herausragende Interpretin seiner Gedichtvertonungen, mit denen er Volksmusik auf eine höhere Stufe heben will.

Politisch erlebt Theodorakis in den 1960ern und 70ern die gewaltigen Eruptionen seines Landes mit: Zunächst ist er Abgeordneter für die Linken, als 1967 die Obristen putschen, geht er in den Untergrund. Als eine solche Bedrohung empfinden sie ihn, dass sie per Armeebefehl das Singen und Hören seiner Musik, sogar den Besitz seiner Platten unter Strafe stellen. Auf Druck von Leonard Bernstein, Harry Belafonte und Dmitri Schostakowitsch kommt er aus erneuter Folter frei, unterstützt den Kampf gegen die Faschisten von Paris aus, wird zur Symbolfigur der europäischen Studentenbewegung. Währenddessen entsteht sein genauso gewaltiges wie lyrisches Oratorium „Canto General“, eine Vertonung von Pablo Neruda-Texten.

Nach dem Sturz der Junta ist er ein Volksheld, er wird 1981 zum zweiten Mal ins Parlament gewählt, wo er sich für Erziehung und Kultur einsetzt, ebenso für die Aussöhnung mit der Türkei, die er auf der Bühne auch mit dem Sänger Zülfü Livaneli zelebriert. Weitere Symphonien entstehen, Opern mit antikem Mythen-Stoff, und er wirkt in Athen als Generalmusikdirektor des Orchesters von Rundfunk und Fernsehen. Man schlägt ihn für den Friedensnobelpreis vor, die UNESCO ehrt ihn. Und bis ins hohe Alter meldet er sich politisch zu Wort, gegen Krieg und faschistische Umtriebe, zuletzt als Initialfunke der Bürgerbewegung Spitha. Die Musik bildete für ihn sowohl die „individuelle menschliche Tragödie“ ab als auch eine völkerübergreifende „universale Harmonie“. Für beides stand sein Leben und Schaffen, das so viel mehr war als „Zorba The Greek“.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 3.9.2021

Kopenhagens intimes Klassik-Labor

Danish String Quartet Festival
Bygningskulturens Hus på Nyboder, København
3. – 5.10.2019

Das Danish String Quartet ist eine Klassikinstitution in der dänischen Kapitale. Und das, obwohl Rune Tonsgaard Sørensen (Violine), Frederik Øland (Violine), Asbjørn Nørgaard (Bratsche) und Fredrik Schøyen Sjölin (Violoncello) noch alle in ihren Dreißigern sind – ein junges Ensemble, das sich auf ungewöhnlichen Pfaden im Klassikbetrieb bewegt, denn sie verknüpfen immer wieder Töne der skandinavischen Folklore mit den großen Werken von Barock bis Romantik und kümmern sich auch um wenig gespielte Stücke der Moderne. Jedes Jahr leistet sich das DSQ ein dreitägiges Festival, das im familiären, intimen Rahmen in einem alten Kulturhaus im Norden Kopenhagens stattfindet, und zu dem sich das Ensemble Gäste aus aller Welt einlädt. Das Motto in diesem Jahr war die „spørgsmål“, um genau zu sein, die „ubesvaret spørgsmål“, also die unbeantwortete Frage, die in ihrer Gestalt als Charles Ives‘ „Unanswered Question“ auch im Fokus des zweiten Abends stand.

Als ich an diesem saukalten, windigen Frühoktoberabend meine Schritte in Richtung des Bygninskulturens Hus lenke, komme ich an endlos wirkenden puppenstubenartigen Reihenhäusern vorbei, die im knalligen Gelborange gestrichen sind (OK, ich habe mit dem Filter ein bisschen nachgeholfen): Wie ich später von einer Festivalbesucherin erfahren werde, sind das ehemalige Militärbaracken, die König Christian IV. bereits im 17. Jahrhundert erbauen ließ, für die Marine. Heute leben Hipster darin, die – natürlich, wir sind in Kopenhagen – alle Fahrrad fahren und ein Heidengeld für ihr stylishes Heim hinblättern. In diese Umgebung also ist das Festival eingebettet, auf das sich das Publikum schon frierend in langer Schlange am Eingang freut. Dann werden wir eingelassen, drinnen ein schöner, mit Schnitzereien vertäfelter Raum mit Rundumbrüstung. Ein paar Würfel stehen dekorativ an der Bühne, eine Mini-Montgolfière hängt von der Decke, und an der Bar mit Namen „The Oracle“ blinkt psychedelisch eine Kristallkugel. Zum Biergenuss auch während der Darbietungen wird man geradezu offensiv in den Programmtexten aufgefordert, soviel kann ich übersetzen.

Eröffnet wird das Festival vom angesagten isländischen Pianisten Vikingur Ólafsson, der in seinen Bachbearbeitungen wuchtig bis poppig-dramatisch wirkt, aber auch ein wenig maniriert mit abrupten Ausbrüchen und gezierten Gesten. In Bent Sørensens Komposition „Rosenbad – Papillons“ für Klavier und Streichquartett gefällt er mir besser. Das Stück aus einer Trilogie des bedeutenden dänischen Zeitgenossen, der auch selbst – leider exklusiv auf Dänisch – in sein Werk einführt, wird zur Entdeckung des Abends für mich: In seiner Klangsprache verbindet er einen romantischen Ton mit dissonanten Schichtungen, die Streicherarbeit ist oft ätherisch-glasig, viele Flageoletteffekte kommen zum Einsatz und Tremoli, geisterhafte Dämpfer-Effekte. Selten habe ich zwei musikalische Epochen in einer Komposition so aufregend kombiniert gehört. Beim abschließenden Ernest Chausson tritt noch eine Solo-Violine zur Besetzung hinzu, in Gestalt des Kammermusik-Spezialisten Alexi Kenney aus Kalifornien, der sehr physisch und fast jugendlich-heroisch spielt. Die – sehr beredte und fließende, kaum einmal pausierende – Tastenarbeit übernimmt Wu Qian. Es entsteht ein flimmerndes Spannungsfeld zwischen impressionistischen Harmonien, Wagner-Dramatik und dem melodischen Überfluss eines Schubert. Vor allem die Mittelsätze, eine ohrwurmhaft tänzerische „Sicilienne“ und ein „dickes“, schwermütiges Grave begeistern mich.

Enger geschnürt wird die Besetzung zunächst am zweiten Abend, das Eingangswerk hat aber ebenso Raritätencharakter: Ernst von Dohnányis C-Dur-Serenade für Streichtrio glänzt mit schönen Einfällen, etwa dem Bratschenthema im 2. Satz oder einer einfallsreichen Textur aus Pizzicati und Tremoli, ab und an bricht in der ersten Geige ein slawisch tönendes Schluchzen heraus. Mit dem anschließenden Mosaik um Ives‘ „Unanswered Question“ habe ich Schwierigkeiten: Das Ausgangsstück wird räumlich aufgefächert, die Streicher, Flöten und die Trompete gruppieren sich oben in den Ecken der Brüstung. Romantische Impromptus auf dem Klavier, fetzen- und floskelartige, aggressive bis geräuschhafte Miniaturen auf der Bratsche (Jennifer Stumm) und eine tieftraurige Schostakowitsch-Cellosonate (grandios in seinem intensiven, vollen Ton: Toke Møldrup) konterkarieren unten auf der Bühne, bis sich das Geschehen schließlich in ein Barockfenster öffnet: Henry Purcells „Chacony“ spielt das Danish String Quartet mit fast verzweifeltem Kreisen – hier wird die Frage nach dem Sinn musikalisch in großartiger Schmerzlichkeit eingefangen, mehr als 40 Jahre vor Bachs berühmter d-moll-Chaconne aus der zweiten Partita für Solovioline.

Geradezu konservativ nimmt sich dagegen der Finalabend aus: Aus dem Schumannschen Klavierquartett bleibt mir ein fliegender, „gehetzter“ zweiter Satz in Erinnerung, er erinnert mich and das Spukhafte aus den „Märchenbildern“. Und zum Schluss endlich wieder Skandinavisches: Das Streichoktett von Johann Svendsen ist so reich an verschiedenen Konstellationen und Zueinandergruppierungen und Dialogen von Stimmen, dass es nie langweilig wird. Mit seiner Ausreizung eines ständig präsenten Springrhythmus wirkt der erste Satz zwar fast ermüdend, doch im zweiten gibt es vielschichtige Anlehnungen an norwegische Folklore mit Doppelgriffen,Tremoli und Zupfpassagen, es riecht förmlich nach Tanzboden. Auch im langsamen Satz drückt die Atmosphäre der Volksmusik durch, wenn auch gemessener, subtiler, wie eine traurige, gesungene Weise, bevor spritzige, miniaturhafte Einwürfe das Finale prägen. Und als Zugabe: Eine bewegende, feingesponnene dänische (?) Volksweise in majestätischer Achter-Stärke.

alle Fotos © Stefan Franzen

Ein Festival in einem Land zu besuchen, dessen Sprache – und daher auch Ansagen und Programmtexte – ich nicht ansatzweise verstehe, war eine interessante Erfahrung. Denn so musste ich mich jenseits jeglicher vorauseilender Deutung auf die Aussagekraft der Musik selbst konzentrieren – und zwangsläufig blieben eine Menge Fragen offen. Doch vielleicht ist es genau dieser Effekt, den die vier Herren ohnehin erzielen wollten – denn wie schrieben sie im Geleitwort: „Normalerweise stellen wir Fragen, wenn wir Wissen erwerben möchten. Aber die wichtigen, ewigen Fragen sind die, bei denen die Antwort nicht klar und messbar ist.

© Stefan Franzen

…demnächst mehr: die „Gustav Mahler-Passage“ dieser herbstlichen Interrail-Tour in Tschechien und Südtirol…

Danish String Quartet: „Æ Rømeser“
Quelle: youtube