Zwischen Bach und Sesotho-Gebet


Geschätzt von Yo-Yo Ma, gefeiert bei den BBC Proms, mit einem Bein in der afrikanischen Tradition, mit dem anderen in der Musik der Zukunft: Der Cellist, Komponist, Arrangeur und Sänger Abel Selaocoe aus Südafrika definiert schwarzes Selbstbewusstsein in einer stilentgrenzten Klassik neu. Ich konnte ihn kürzlich über Zoom interviewen, nachfolgend unser Gespräch in ungeschnittener Länge. Selaocoe wird am 6.9. beim Lucerne Festival in der Lukaskirche auftreten.

Abel Selaocoe, gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie erfuhren: Das Cello ist mein Instrument?

Selaocoe: Der erste Einfluss kam von meinem Bruder. Er war ein großartiger Fagottist und so begeistert von Musik, dass er mich mitzog. Als ich mir das Cello aussuchte, hatte ich schon eine Vorstellung davon, was für einen Umfang an Tönen man produzieren kann, dass man sehr hoch „singen“ kann, aber auf einem Instrument auch sehr tiefe Basslinien spielen kann. Mein Bruder sagte zu mir: Wenn du in der Musik wirklich verschiedene Dinge ausprobieren möchtest, wie wir das mit unseren Stimmen gemacht haben, als wir anfingen, dann könnte das Cello das richtige Instrument für dich sein. Aber angefangen hat alles mit der Stimme, und auch auf dem Instrument habe ich dann versucht das auszudrücken, was ich zuvor schon mit der Stimme gemacht hatte.

Hatten Sie auf dem Cello ein Vorbild, ein Idol?

Selaocoe: Ja, eine Rolle bei der Wahl des Cellos spielten natürlich auch die Leute, die damals um mich herum waren. Es war nicht nur das Instrument, das ich liebte, sondern auch die Menschen, die mich inspirierten. Weil ich aus einem Township stamme, in dem ich von viel Armut umgeben war, hielt ich immer nach Menschen Ausschau, die aussahen wie ich, aber außergewöhnliche Dinge machten. Kutwlano Masote war einer von ihnen. Er wurde mein allererster Cellolehrer, und zu sehen, was er auf dem Cello machte, wurde eine große Inspiration für mich. Es war auch sein Charakter, denn er war gleichzeitig auch eine Persönlichkeit im Radio, lotete sehr viele verschiedene Dinge in der Musik aus und spielte mit Leuten aus verschiedenen Stilen. Ich liebte ihn sehr als Person und konnte es nicht erwarten, mich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln.

Ist die Technik, die Sie in ihrer klassischen Ausbildung erlernten, auch heute noch dominant oder gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie beschlossen, sich zu befreien und Ihre eigenen Varianten von Staccato, Spiccato oder Pizzicato zu verwenden, die möglicherweise aus anderen musikalischen Traditionen stammen?

Selaocoe: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Nun, die klassische Musik hilft mir in so vieler Hinsicht als Grundlage für mein Spiel, aber auch wenn es ums Zuhören geht. Klassische Musik besitzt eine Schönheit, einen Reichtum, eine Dynamik. Das Zarteste, das ich je gespielt habe, war eine Stelle aus einer Mahler-Symphonie. Ich wertschätze solche Momente und schöpfe in meinen Improvisationen daraus. Ich lerne eine Menge in der klassischen Musik, besonders was Streichinstrumente angeht. Ich habe mich entschieden, auch Einflüsse von afrikanischen Streichinstrumenten  aufzunehmen. Es gibt eine einsaitige westafrikanische Fiedel, die Goje heißt, und dann gibt es eine andere, die ist aus Äthiopien und Eritrea und hat kein Griffbrett. Du presst von der Seite dagegen, und vom Druck ist abhängig, in welcher Oktavlage der Ton rauskommt. In der klassischen Musik spielen wir immer auf- und abwärts, aber in afrikanischen Kulturen kann man Druck verwenden, um verschiedene Tonhöhen zu erzielen. Das ist unglaublich, Du hast nur fünf Töne, aber es ist so abwechslungsreich. Ich habe gerade angefangen, in dieser Welt zu leben und versuche, ein sehr viel perkussiverer Spieler zu werden. In diesem Zusammenhang bin ich auch inspiriert von einem Instrument namens Ohadi, da schlägt man mit einem Stick auf eine Saite und erzeugt dadurch Obertöne. Manchmal entstehen auch neue Sachen durch Rumalbern im Probezimmer, etwa, in dem ich dasitze und versuche ein Kind zu imitieren, wie es eine Sprache lernt. Das ist die Reise meines Lebens, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Anfang meines Lernprozesses bin, wie ich das Cello spielen kann um Orte zu erreichen, die ich mir nie erträumt hätte. Weiterlesen

Klingendes Rauchwerk

Papiers D’Arménies
Guenats Pashas
(Meredith/Broken Silence)

Haben Sie schon mal das harzige Räucherwerk Papiers D’Arménies verbrannt? Sofort stellen sich in der Nase Assoziationen an orientalische Fernreisen ein. Dass das Ensemble um den Ex-Bratsch-Chef Dan Gharibian und seine Tochter Macha sich nach diesem Duftpapier benannt hat, ergibt Sinn. Denn auf dem neuen Werk Guenats Pashas öffnet sich eine Reiseroute vom Balkan über Griechenland in die Türkei und auf den Kaukasus: mit seelenvoller Duduk und Bordun-Chor, beschwingtem Akkordeon-Motor, verträumten Piano-Phrasen zur bluesigen Viola, immer wieder gewürzt durch betörend wehmütige Vokal-Moleküle.

Papiers D’Arménies: „Gulo“
Quelle: youtube

Marimba ist der Nabel

Trio SR 9
Déjà Vu
(NøFormat/Indigo)

Der Nabel der musikalischen Welt des französischen Trio SR9 ist die Marimba. Um sie und weitere Percussion bis hin zur Glasharmonika bauen Paul Changarnier, Nicolas Cousin und Alexandre Esperet mal Neuinterpretationen klassischer Komponisten, und – wie auf dem aktuellen Album Déjà Vu – mit vielen Gästen nun auch aktuelle Popsongs. Pharell Williams’ “Happy” mit der Stimme von Camille, Rosalias “Malamente” mit Camelia Jordana oder Sias “Chandelier” in der Interpretation von Sandra Nkaké erhalten in dieser rein perkussiven Gewandung einen machtvollen, hölzernen Korpus. Die Songs – weitere Andockstationen sind Billie Eilish, Lana Del Ray und Lorde –  werden auf ihre melodische Durchschlagskraft gewissermaßen “abgeklopft”. Den Vogel schießt dabei aber der Kameruner Blick Bassy ab, der über kargen Schlagwerk-Patterns Ariana Grandes “One Last Time” mit seinen glimmenden Falsettchören afrikanisiert.

Trio SR 9 feat. Blick Bassy: One More Time“
Quelle: youtube

Holler love across the nation XII: Bernstein-Soul

Arethas Wechsel der Welten jährt sich heute zum vierten Mal. 50 Jahre zurück liegen die Aufnahmesessions für ihr Album Hey Now Hey (The Other Side Of The Sky), das dann 1973 veröffentlicht wurde – zwar auch auf Atlantic, doch dieses erste Mal nicht unter der Pult-Ägide von Jerry Wexler. Niemand geringeres als Quincy Jones nahm sich der Produktion an, was man dem Sound sofort anmerkt: Orchestrale Stücke sind dabei, die eine ausgefeilte Musikdramaturgie in sich tragen.

So etwa das zentrale „Somewhere“ aus Leonard Bernsteins West Side Story: Arethas Version ist ein Paradestück dafür, wie sie sich alle Stile  zu eigen machen kann. Die ins Jenseits weisende Liebesballade ist für sie natürlich eine grandiose prima materia. Sie überträgt sie zum Anfang und vor allem zum Ende mit gewaltig rollenden Pianoakkorden und kurzen Erweckungs-Akzenten in ihre eigene Art des Gospel. Wie sie ab Minute 4 das Orchester mit einem einzigen donnernden Akkord vom Klavier bändigt und die Kanzel übernimmt: Das jagt mir auch noch nach den vielen Jahren jedes Mal einen Schauer durch den Körper. In den Gospel eingebettet sind leuchtend symphonische und jazzimprovisatorische Sequenzen, die in eine ganze andere Welt entführen. Bernstein selbst soll von diesem Arrangement sehr angetan gewesen sein.

„Somewhere“ (album version 1973)
Quelle: youtube

Mit der Veröffentlichung der Box Aretha im letzten Jahr, auf der teils unveröffentlichte Aufnahmen zu finden sind, wurde eine „alternate version“ ohne Orchester bekannt, die Arethas Gesang nochmals mehr in den Fokus rückt.

„Somewhere“ (alternate version 1973)
Quelle: youtube

Und 1995 schließlich hat sie eine dritte Variante eingespielt, als Beitrag zum Tributalbum The Songs Of West Side Story: Hier ist die Gospelatmosphäre getilgt für einen ganz anderen, romantischen Dialog mit dem Orchester, der sich in eine typische Soul-Coda der 1990er löst, mit ornamentaler Vokalakrobatik.

„Somewhere“ (1995)
Quelle: youtube

Lichtmusik

Federspiel
Albedo
(O-Tone Music)

Was für ein gewaltiges, aufbäumendes Crescendo im Opener “<0.90”! Österreichs grandioses Bläserseptett Federspiel widmet sich auf dem neuen Opus Albedo dem Reflektieren und Absorbieren von Licht. Klang gewordene Physik, der hier in vielen Nuancen glimmt, glüht, strahlt und gleißt. Einmal sind da noch Anklänge an austriakische Volksmusik zu vernehmen, in den “Schützentänzen” aus dem Salzkammergut, meist aber ist das zeitgenössische Brass-Musik, die nicht mal mehr in Spuren etwas mit Platteln oder Partyzelt zu tun hat.

Es geht ums Große und Ganze: “Kronos” erzählt die Schöpfung mit Mitteln, die fast schon an Holsts “Planets” erinnern, ein bewegendes Stück wie “Anthem” appelliert an unseren humanistischen Kern in Zeiten der Selbstvernichtung. Musikalische Formen setzen die Sieben sehr variabel ein: Mit “Inside-outside” experimentiert man mit wellenförmigen Echo-Strukturen, der “Freedom Waltz” dagegen beruft sich ganz auf die optimistische Kraft des Dreiertakts. Große Blasmusik für die Zukunft.

© Stefan Franzen

Federspiel: „Freedom Waltz“
Quelle: youtube

„Hausierer“ der Seelentöne

Im Jahre 1976 erschien eine LP mit dem Namen Black Bach, auf dessen Cover er in Gestalt einer Büste abgebildet ist, wie sie in der klassischen Musik üblich sind. Natürlich hinkt der Vergleich mit Bach gewaltig: Auch wenn es auf dem Werk ein „Prelude“ gibt, hat Lamont Doziers Musik mit dem Barockkomponisten nichts gemein. Was uns die Betitelung aber sagen möchte: Hier ist ein Gigant am Werk, und auch ein schwarzer Musiker kann weltweite und langlebige Bedeutung erhalten. Ganz im Sinne von Motown, der ersten von Schwarzen geführten Plattenfirma, deren Arbeit auch mitten ins Hörverhalten junger Weißer traf.

Dass Motown von Detroit aus in den 1960ern um den ganzen Erdball ein Begriff wurde, war ganz maßgeblich ihm zu verdanken: Lamont Dozier, der am Montag im Alter von 81 Jahren in Scottsdale, Arizona gestorben ist. Von Teenagerjahren an ist er Teil der Detroiter Vokalszene, schon seine erste Single erscheint bei Anna Records, einem Sublabel von Berry Gordys Motown. Als Songwriter startet er dann ab 1963 mit seinen Partnern, dem Brüderpaar Eddie und Brian Holland, durch und schreibt in täglicher Arbeit fünf Jahre lang Hits für Martha & The Vandellas („Heat Wave“), die Supremes („Where Did Our Love Go“, „You Can’t Hurry Love“, „Stop! In The Name Of Love“) und die Four Tops („I Can’t Help Myself“, „Reach Out I’ll Be There“). Dozier und Brian Holland kümmern sich um Musik und Arrangement, Eddie Holland um die – oft eine Frauenperspektive einnehmenden – Lyrics und die Vokalproduktion. Die Marke „Holland-Dozier-Holland“ oder kurz „HDH“ erschafft den typischen Motown-Sound wie kein anderes Songwriting-Team der Hitschmiede und wird bei über 200 Songs zum Gütesiegel des Labels, mit Millionen verkaufter Platten und einer Serie von Nummer 1-Hits.

Streitigkeiten über Finanzen und den kreativen Weg resultieren in der Loskoppelung von Motown, ab 1967 versuchen es die Hitlieferanten auf den Eigenverlagen Invictus und Hot Wax Records. Doch hier führt ein erneuter Zwist bald zur Sprengung des erfolgreichen Dreierteams. 1973 unterschreibt Lamont Dozier bei ABC Records und wird Solokünstler. Die Alben dieser Jahre sind geprägt von symphonischem, opulent arrangiertem Streichersoul mit vielen Balladen, aber auch funkigen Einlagen, veritable Single-Erfolge gibt es aber nicht. In seinen Jahren bei Warner veröffentlicht er mit Peddlin‘ Music On The Side sein vielleicht vielfältigstes Album, Gäste wie die Crusaders oder Hugh Masekela färben den Sound jazzig. Dann setzt sich auch in seinem Schaffen mal ein Disco-Sound durch, etwa auf dem Album Bitter Sweet. 1988 schließlich erobert Lamont Dozier auch den Pop, als er sich mit Phil Collins für den Song „Two Hearts“ zusammentut. Bereits in den 1990ern wird er in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen.

Selbstironisch und mit feinem Understatement hat er im Titelstück zu Peddlin‘ Music On The Side seine Situation der späteren, nicht mehr ganz so erfolgreichen Jahre im Musikbusiness auf die Schippe genommen: „Ich gehe mit meiner Musik hausieren, hoffe, dass ich es in die Top 100 schaffe, bete darum, dass das Glück mich auf der Erfolgswelle reiten lässt. Ich will ja gar kein Sound-Prinz werden, einfach nur so viel haben, dass ich meiner Liebsten ein anständiges Leben bieten kann.“

© Stefan Franzen

Lamont Dozier: „Goin’g Back To My Roots“
Quelle: youtube

Caetano 80

„Der Vers vermag es, Welten in die Welt zu schleudern“, schrieb er in seiner bekenntnisreichen Komposition „Livros“. Nach 55 Jahren Karriere und ebenso vielen Alben hat der Begründer des Tropicalismo, jener experimentellen Erneuerungsbewegung der brasilianischen Popmusik, seinem Publikum viele Welten entgegengeschleudert, doch die ein oder andere auch schmeichelnd und zärtlich in den Schoß gelegt. Caetano Veloso hat mich begleitet, seit ich in den 1990ern meine Liebe zur brasilianischen Musik entdeckt habe. Heute geht an ihn ein um einen Tag verspäteter Gruß zum 80. Geburtstag.

Mit zwölfköpfigem Orchester und einem sehr perkussiven, von der Trommelmusik Bahias geprägten Unterbau habe ich ihn am 4. Juni 2000 im Stadtcasino Basel gesehen. Er fühlte sich klimatisch sehr zuhause, schon damals gab es auch Anfang Juni Temperaturen weit über 30 Grad. Einer der Titel, die mir damals sehr gut gefallen haben, war „Mel“ (Honig). Wie ich für die Badische Zeitung schrieb, ein „überschäumender Liebestrank. Die Gabe der Inspiration kann man in seiner reichen Mimik ablesen: Selten strömt eine solche Leuchtkraft aus Mund- und Augenwinkeln.“

Als Gruß an den großen alten, aber immer auch alterslosen Nestor der modernen brasilianischen Popmusik und Dichtung also hier „Mel“ mit einem honigsüßen Text: „Oh Bienenkönigin, mach aus mir ein Werkzeug deines Vergnügens und deines Ruhms. Denn wenn die Nacht sich in komplette Dunkelheit hüllt, probiere ich von der Wabe deines Honigs, grabe ich mich in die ungeschützte Klarheit des Himmels und umfasse die Sonne mit meiner Hand“.

Caetano Veloso: „Mel“ (live 1998)
Quelle: youtube

 

Imaginierte Heimat

Maya Youssef
Finding Home
(Seven Gates)

Wie kein anderes Instrument verkörpert die Kanun die filigrane Seite der orientalischen Musik. Korrekt klassifiziert wird sie als Kastenzither, doch schließt man die Augen und horcht man ihrem Klang, muss man sich zwangsläufig fragen: „Klingt so eine Zither?“ In der Tat fühlt man sich eher an die perlenden Läufe einer Harfe erinner, bei der Fülle von 78 Saiten, die teils in Neunteltönen gestimmt sind.
Im Gegensatz zur Harfe in der europäischen Klassik ist allerdings die Kanun sehr lange Männerdomäne geblieben, für Mädchen galt es als nicht schicklich, sich dem Instrument zu widmen. Erst jetzt beginnt eine Öffnung des Instruments für die Spielperspektive von Frauen, und die in England lebende Syrerin Maya Youssef hat wesentlichen Anteil daran, dass die Sphäre der Kanun nun auch eine weibliche wird.

Vor vier Jahren erregte sie zum ersten Mal Aufmerksamkeit mit ihrem Debütalbum „Syrian Dreams“: Auf dem Erstlingswerk präsentierte sie die Kanun in einem kammermusikalischen Kontext mit Cello und Perkussion. Ein zugleich virtuoses wie wehmütiges Album, das auch der musikalischen Bewältigung des Krieges in Syrien diente. Maya Youssefs Überzeugung ist es, dass Musik Wunden heilen, Traumata lösen kann. Seit dem Beginn des Krieges in Syrien ist Maya Youssef nicht nur Interpretin, sondern auch Komponistin, die Wut und Verzweiflung brachte sie dazu, selbst schöpferisch zu werden. „Musik ist in Kriegszeiten ein wesentliches Mittel, mit dem Gefühl von Verlust und Trauer, dem Leid und der Zerstörung eines Landes umzugehen.“ Diese Überzeugung äußert sie nicht nur mündlich oder auf dem Papier: Dafür bürgen ihre Konzerte und ihre Theaterarbeit mit geflüchteten syrischen Kindern.

Mit Finding Home setzt Maya Youssef ihre Friedensarbeit in Tönen um: „Die Musik bewegt sich auf diesem Album durch Verlust und Verwandlung hindurch, erreicht schließlich einen Ort der Hoffnung“, schreibt sie im Beiheft. Heimat bedeutet für sie – in Zeiten der weltweiten Fluchtbewegung und Kriegshandlungen – nicht unbedingt ein geographisches, vielmehr ein spirituelles wie emotionales Zuhause, ein – auch imaginärer – Ort des Friedens, der Sanftheit. Menschen können ein Zuhause vermitteln genau wie die Natur. Dies immer eingedenk dessen, dass ein syrisches Zuhause, wie es Millionen von Menschen kannten, nicht mehr wiederkehrt, eine Heimat, von der sie sich nicht einmal verabschieden konnte. Und das gleiche lässt sich nun auch von Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen sagen, weshalb Finding Home eine doppelte schmerzliche Aktualität besitzt.

Eine erweiterte Kammerbesetzung dient Maya Youssef, diese Thematik musikalisch aufzufangen. Mit dabei sind der italienische Jazzbassist Michele Montolli, der von Weltmusik bis Avantgarde in vielen Formationen erprobt ist. Das Terrain des britischen Pianisten Al MacSween fächert sich vom Latin-Genre bis nach Indien auf. Ähnlich vielfältig von Klassik über Jazz bis World unterwegs ist die Cellistin Shirley Smart, Perkussionistin Elizabeth Nott weitet ihr Spektrum bis hinein in den Film und die Theaterarbeit.

Erfahrungen von Schmerz gestaltet Youssef auf ganz verschiedene Art aus: Das Foto einer Mutter, die ihr Kind durch den Bombenhagel trägt, transformiert sie in eine würdevolle, sangliche und wiegende Improvisation, die fast wispernde Geigen begleiten. Berührend, wie sie die Abwesenheit der eigenen Mutter dann mit „In My Mother’s Sweet Embrace“ auffängt, wo eine ruhig schreitende Melodie von einem Bogen aus melancholischem, melismatischem Gesang umspannt wird. In „Jasmine Bayati“ drückt sie ihre Sehnsucht nach der Heimatstadt Damaskus, deren Symbolpflanze der Jasmin ist, in tänzerischer Ausgelassenheit aus. Der Groove wird hier auch durch eine soulig pumpende Orgel vorangetrieben. In die ruhige Melodie von „Silver Lining“ hat sie die dunkle Zeit des Lockdowns gegossen: Die kurzen, „tropfenden“ Motive fließen schließlich in eine Improvisationsstrecke, die in der wirbelnden Rasanz am Ende für ein Aufbäumen neuen Lebenswillens steht.

Rasch fällt auf, dass Maya Youssef sich von einer Tonsprache gelöst hat, die nur „orientalisch“ zu verorten wäre. Die neun Kompositionen schweben in freier Imagination, die sich aus arabischen Quellen genauso speist wie aus einer westlichen Jazzsphäre. Letztere hat auch einen Hang zum Populären. Und so gerät – an wenigen Stellen – diese Sprache auch einmal in repetitive, gefällige Muster, wie etwa „An Invitation To A Dream“, das durch feingliedrige, flächige Gemälde der Libanesin Malerin Huguette Caland inspiriert wurde. Liedhaft und kreisend spielt Youssef in „Walk With Me“ mit dem Dialog zwischen Kanun und Streichquartett. Und „My Homeland“, ein Loblied auf Syrien, das zugleich eine Klage ist, hat mit seiner einprägsamen Lamento-Basslinie im Piano fast das Potenzial zu einer Popballade.

Mitunter am überzeugendsten sind die Passagen, in denen sich Maya Youssef tatsächlich auf traditionelle arabische Formen beruft, diese aber neu auskleidet: „Samai Of Trees“ etwa hat sie im strengen Zehnachtel-Takt geschrieben. Mit Cello, Bass und Rahmentrommel tanzt die Kanun fast schwerelos und lichtvoll in überschwänglicher melodischer Virtuosität. Der größte Wurf gelingt Maya Youssef und ihrem Ensemble schließlich in „Soul Fever“, wiederum angeregt durch ein Kunstwerk: Samira Abbasys „Unravelling“, eine Kohlezeichnung, die eine königliche, auf die ägyptische Diva Oum Kalthoum verweisende Frauenfigur porträtiert, liefert ihr den Stoff für das dramatisch sich steigernde, von feurig-erotischer Spannung getragene „Soul Fever“.

Von Krieg und Entwurzelung zu einem anderen Heimatgefühl, von Pandemie und Lockdown zu neuer Lebenskraft: Finding Home ist eine streckenweise kathartische Reise in ein unsicheres Morgen voller Herausforderungen. Aufrüttelnd und erschütternd, aber auch besänftigend und Trost spendend.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara

Maya Youssef: „Samai Of Trees“
Quelle: youtube

Funk vom Staatsfeind

Cimafunk (Foto: Stefan Franzen)

Cimafunk / La Yegros
Rosenfelspark Lörrach
26.07.2022

Globale Oase, Weltmusik-Wabe des Stimmen-Festivals: Der Rosenfelspark hat seine Pforten geöffnet. Doch diese Sehnsucht nach der einen Welt, die sich immer auch im Kennenlernen von Musik aus fernen Ländern abbildete, wie passt sie in den dritten pandemischen Sommer, in dem auch noch Krieg und Dürre die ach so liebgewonnenen Utopien austrocknen?

Offensichtlich lebt sie, trotz aller Hiobs-Meldungen. Denn für einen Dienstagabend ist der Park beachtlich und Generationen übergreifend gefüllt, und es kommt schnell ausgelassene Schwof-Atmosphäre auf, als Musiker mit bunten Federn und Bändern die Bühne betreten. Durch wehmütige Akkordeonlinien und das zehnsaitige zirpende Charango bläht sich ein krachig-erdiger Rhythmus. Mit Stubenfliegenbrille wogt Mariana Yegros heran, magenta-lila-giftgrün in Leggins, Tüll und Teufelsschwänzchen, eine Trash-Gewandung von der Karneval-Resterampe. Was von nun an so off-beatig schlurft und schiebt, ist die Cumbia, einst an der karibischen Küste Kolumbiens Paartanz, längst Lingua Franca der Música Latina schlechthin, von Mexiko City bis Buenos Aires. Dort ist La Yegros Platzhirschin des Genres, und sie zeigt uns auch, warum.

Bei ihr verschmilzt die Cumbia mit verwandten Tänzen wie dem nordargentinischen Chamamé zu einer packenden Synthese aus staubiger Dorfkirmes und neonschwangerem Großstadt-Club. Ihr beileibe nicht immer lupenreiner Gesang ist genauso marktschreierisch wie melancholisch, es stecken Rap-Passagen drin wie auch süffige Melodien. Andenflöten pusten, traurigen Vögeln ähnlich, ihre Weisen. Mit silbriger Patina scheppert die kleine Quetschkommode. Und die dumpfe Zylindertrommel Bombo wettstreitet mit dem Programming aus dem Keyboard, das satt farzende Bässe rausdrückt. Dazu bewegt man sich in behäbigen Moves, die das Publikum schnell versteht, und die auch noch bei irre hohen Temperaturen zu bewältigen wären. Glückliche Gesichter beim Armeschwenken und Hüftewiegen.

Mit sanftem Wiegen und Schlurfen ist es dann bei Erik Alejandro Iglesias Rodríguez vorbei. Der 31-jährige mit dem markanten Flat-Top ist das Leuchtfeuer der neuen Musik Kubas schlechthin, er steckt Son und Salsa mit dem Funk des Staatsfeindes USA unter eine Decke und beruft sich im Künstlernamen Cimafunk auf die Cimarrones, Sklaven, die sich durch Flucht der kolonialen Barbarei entzogen. Ein Freigeist, der mentale und stilistische Fesseln abgeschüttelt hat, sein Black Empowerment aber nicht zum offen politischen, vielmehr zum physischen Manifest macht. Das zeigt sich auf der Bühne wirkmächtig, gewaltig Zunder in der Hütte ist bei der achtköpfigen Band, vom ersten Takt an.

Bass und Rhythmusgitarre liefern ohne Wimpernzucken die perfekte synkopische Verzahnung. Flexible Eleganz gewinnt das Fundament durch Bongo und Conga, und immer wieder schmieren von den Tasten aus die typischen Ostinati der Música Cubana das Getriebe dieser dampfenden Funk-Lokomotive. Dass die Bläsersektion auf Trompete verzichtet, schattiert den Sound weg von der Brillanz der gewohnten Salsa-Combos hinein ins Dunkle. Nicht nur die heimlichen Stars sind Ilarivis Garcia Despaigne an Posaune und Katerin Ferrer Llerena an Saxophon (im George Clinton-Look mit fetter Sonnenbrille und quietschbunten Flechtsträhnen), auch choristisch und choreographisch eingespannt. Und da! Despaigne stellt mit einer scharfzüngigen vokalen Anmache den Chef plötzlich mal in den Schatten.

Aber klar, auch wenn er öfter mal das Spotlight freigeben mag für Soli seiner Mitstreiter, stetiges Epizentrum dieses Bebens ist Rodríguez dann doch selbst. Schnell ist sein Vintage-Shirt Geschichte, im Schweiße seines Oberkörpers, notorisch mit den Beinen zappelnd und beckenschwingend zelebriert er einen aufgekratzten, knackig-nasalen Gesang, durchbrochen von wildem lautmalerischem Silben-Stakkato. James Brown? Ein lahmer Hund dagegen. Nahtlos und rasend schaltet die Band zwischen den Songs, die oft von körperlichen Freuden künden: In „Rompélo“ („Hör auf dein Fleisch, wenn es schreit!“) schleicht sich ein Hauch Studio 54-Discoschwüle hinein, „El Regala’o Se Acabó“ kreiert über dem Slap-Bass einen drängenden Sog, der auch wirklich Jede und Jeden im Publikum mitnimmt.

Am Ende umtanzt man den Star zum Hit „Me Voy“ auf der Bühne: „Wenn du mit mir nach Hause kommst und es willst, dann gebe ich dir den Chuchu.“ Nochmal kehren die „Cimafunker“ zurück, um fast so etwas wie eine Ballade anzustimmen, über der Akkordfolge von „I Will Survive“. Werden wir klug genug sein, um zu überleben? Wenn ja, muss Cimafunk unbedingt auf die ewige Party-Playlist eines neuen Utopia.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 28.07.2022

Kleinzellig und panafrikanisch


Drei Sommertipps aus der Kreativschmiede junger senegalesischer und ghanaischer Künstler*innen.

Panafrikanisch gleitet der Senegalese Alune Wade durch die zwölf Titel auf Sultan (yellowbird enja/edel). Paradebeispiel dafür, wie schillernd kleinzellig in einem einzigen Stück Wandlungen vollzogen warden ist “Donso”: ein Sahel-Groove, der mit erst trabendem, dann galoppierendem Large Ensemble mit herrlichem Laid Back-Klavier, reichem Blech und aufgekratzter Nomadenflöte ausgestaltet wird. Auch ansonsten Opulenz: Arabische Sphärenmusik (“L’Ombre De L’Âme”), ein schwerer Wüstenfunk (“Nasty Sands”), jazzig vebrämter Wolof-Rap “(Uthiopic”), eine schmelzende Ballade in “Dalaka” oder äthiopische Skalen “(Lullaby For Sultan”). Und all das taktweise fantasievoll und ganz ohne Poser-Gehabe: ein Meisterwerk.

Alune Wade: „Nasty Sands“
Quelle: youtube

Die trockenen Sounds des ghanaischen Nordens, die den süffigeren des Südens entgegenstehen, bekommen immer mehr internationale Aufmerksamkeit: Dazu dürfte auch Linda Ayupuka mit ihrem Album God Created Everything (Mais Um) beitragen. Diese Sounds, angesiedelt zwischen Afro-Gospel und den Traditionen der FraFra-Ethnie, stützen sich hier kräftig auf Auto Tune und Synth-Programming. Trotzdem sind die Melodien so aufgekratzt melismatisch, die Drums so lebendig pumpend, Ayupukas Stimme so charakterstark erdig, dass sich die Produktion nie klebrig anfühlt.

Linda Ayupuka: „Yine Faamam“
Quelle: youtube

Mit richtig großem Besteck hantiert die anglo-ghanaische Formation Isaac Birituro & The Rail Abandon auf ihrem zweiten Album Small Small (Wah Wah 45s): Hier fließen im opulenten Bigband-Bett Afrobeat und Highlife mit den eher der Mandinke-Kultur zuzurechnenden Balafon-Patterns und pentatonischen Frauenchören zusammen. Clever auch, wie großartige Percussion-Layers mit popmusik-kompatiblem Strophengesang zusammenfinden (“Ta Soo Maa Yele”), oder wie über dunkel schattierten Beats verträumte Vokal- und Violinimpros herumschwirren (“Told You So”). Gastauftritte von Dele Sosimi und Queen Ayesha würzen das satte Gebräu.

© Stefan Franzen

Isaac Birituro & The Rail Abandon: „Ta Soo Maa Yele“
Quelle: youtube