Flageolett-Fest

Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich an dieser Stelle über Jon Gomm geschrieben. Der Mann aus Blackpool scheint eine junge Nachfolgerin gefunden zu haben: Bei der Recherche zum Women In (E)motion-Festival in Bremen stieß ich auf Becky Langan aus Manchester, die ähnlich grandios mit Hallräumen, Decken- und Zargen-Percussion, Flageoletts und offenen Stimmungen experimentiert. Ihre Version des Kate Bush-Hits ist grandios: Statt die Originalstruktur nachzuspielen, hat sie einfach eine Phrase aus dem Song herausgelöst und macht etwas völlig Frisches daraus. Becky Langan eröffnet das Festival am 8.3., in einem Doppelkonzert mit der Métis-Musikerin Celeigh Cardinal aus dem kanadischen Edmonton.

Becky Langan: „Running Up That Hill“
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Der Raum zwischen zwei Noten

Behnam Samani & Kayhan Kalhor

Der Cellist Yo Yo Ma hat über die Saitenkunst seines persischen Kollegen Kayhan Kalhor gesagt: “Es gibt etwas in seinem Spiel, das über den Klang, den er erzeugt, hinausgeht. Nicht um die Noten selbst geht es, sondern wie man von einer Note zur anderen kommt. Und Kayhans Musik hat so viel von dem Unhörbaren, Unentdeckten, den unermesslichen Räumen zwischen zwei Noten.“

Das Suchen und Tasten ist ein wesentliches Element der persischen Klangkultur. Ganz anders als in der abendländischen Musik, in der Abläufe von Beginn an meist schriftlich festgelegt sind, entsteht hier anhand des Tonmaterials einer Skala allmählich eine Dramaturgie: Der Solist fühlt sich in die Stimmung einer bestimmten Leiter hinein, erkundet verschiedenste Wege der Ausgestaltung, erschließt sich nach und nach den Übergang in die virtuose Passage eines Stücks. Fast schon ein Sinnbild für dieses Ertasten ist die persische Stachelgeige Kamancheh. Mit ihrem winzigen Resonanzkörper, gefertigt aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz, bespannt mit Fischhaut, schafft sie einen großen Raum der Innenschau: Rauschhafte Obertöne bestimmen ihren Klang, er wirkt filigran, durchscheinend, strahlt intensive Wärme aus, aber zugleich wispernde Schmerzlichkeit. Die Kamancheh besitzt vielleicht den berührendsten Klang aller Vertreterinnen der weit verzweigten Streichlauten-Familie vom Balkan über den Nahen Osten bis China.

Auf diesem genauso unscheinbaren wie erstaunlichen Instrument ist der iranisch-kurdische Musiker Kayhan Kalhor der größte Meister seiner Generation. Er spielte bereits als Teenager in Teheran im staatlichen iranischen Orchester, studierte die Traditionen verschiedener Provinzen, besonders des im Norden liegenden Khorasan und Khordestan. Und selbstverständlich ist er im Radif ausgebildet, dem riesigen Schatz der klassischen Musik Persiens. Doch Kalhor war auch schon in jungen Jahren Kosmopolit, ging nach Rom, später nach Ottawa, siedelte schließlich nach Brooklyn über. An allen Wahlheimaten ließ er sich von den neuen Einflüssen befruchten, die biographischen Reibungen spiegeln sich in seiner grenzenlosen Arbeit.

Kayhan Kalhor, aktueller Preisträger des Artist Awards der Weltmusikmesse WOMEX, hat nicht nur für die großen Stimmen der persischen Klassik komponiert, unter ihnen die Sänger Mohamad Reza Shajarian und Shahram Nazeri. Er gründete auch das Ensemble Ghazal, das Gemeinsamkeiten persischer und indischer Klassik und Volksmusik auslotet. Er wurde ein prominentes Mitglied von Yo Yo Mas Silk Road-Ensemble, das seit mehr als zwanzig Jahren Musiker von Amerika bis Fernost zu kreativen Höhenflügen vereinigt und 2016 einen Grammy gewann.

Im abendländischen Kontext spielt Kalhor mit renommierten Kammermusik- oder Jazzensembles, etwa mit dem Kronos Quartet. Von Sufi-Mystik und türkischer Musik ist er ebenso inspiriert wie von den Troubadouren der Renaissance und Versen aus der Feder Walt Whitmans. Zudem hat Kalhor die Spielmöglichkeiten der Kamancheh schrittweise ausgedehnt. Er entwickelte mit der Shah Kaman auch eine neue Variante, eine Kreuzung aus Kamancheh und zwei ihrer Verwandten, der chinesischen Erhu und der türkischen Tanbur. Sie öffnet durch eine fünfte Saite die unteren Register, und so gewinnt ihr Klang an spiritueller Tiefe. Für Kalhor war die Entwicklung dieser neuen Kamancheh-Version eine Reaktion auf die Unruhen in seiner Heimat, die 2009 starteten und immer wieder niedergeschlagen wurden. Den politischen Turbulenzen wollte er mit klanglicher Innenschau, mit Erdung und Festigkeit begegnen.

Diese braucht es umso mehr in der aktuellen Großwetterlage, in der iranische Kulturschaffende nicht nur die Schikanen des eigenen Mullah-Regimes ertragen müssen, sondern auch durch wirtschaftlichen Boykott und militärische Bedrohung seitens der nicht minder menschenverachtenden Trump-Administration aufgerieben werden. Es ist bemerkenswert, dass der Künstler nach 24 Jahren in den USA nun in seine Heimat zurückgekehrt ist. Im vergifteten Klima wollte er als Einwanderer nicht mehr leben. Er und sein Frau wurden angefeindet, die Propaganda von Teilen der Medien gegen den Iran konnte er nicht mehr ertragen, wie er kürzlich dem Magazin Songlines sagte.

Bei seinem ersten Auftritt in Freiburg überhaupt wird Kayhan Kalhor mit dem Perkussionisten Behnam Samani konzertieren, der von Deutschland aus mit seinen Ensembles Dastan und Zarbang als herausragender Vermittler iranischer Trommelkunst wirkt. Auch er ist ein Erneuerer der Schlagwerkkunst auf der Bechertrommel Tombak und der Framedrum Daf, hat mit der Zarbang Udu ein eigenes Instrument geschaffen. Viele Größen der persischen Klassik haben sich während ihrer Auslandstourneen auf ihn als einfühlsamen Rhythmusgeber und Arrangeur berufen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 10.02.2020

Tourdaten Kayhan Kalhor:
14.2. Moods Zürich – 15.2. Jazzhaus Freiburg – 16.2. Gasteig Black Box, München

Kayhan Kalhor – NPR Music Tiny Desk Concert
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Juliette en allemand

Zum 93. Geburtstag einer Grande Dame, die mich nun seit fast 50 Jahren immer wieder auf meinem musikalischen Weg begleitet.

Sie, die zu Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ein großzügiges, verzeihendes Verhältnis entwickelte, hat – was relativ unbekannt ist – auch eine Handvoll ihrer Chansons in unserer Sprache eingesungen. „Die Gammlerin“ heißt im Original „La Rôdeuse“ und stammt aus dem Jahre 1969.

Bon anniversaire, Juliette!

Juliette Gréco: „Die Gammlerin“
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Globalisierung aus Ghanas Augen und Ohren

Ein Blick aus ghanaischer Perspektive auf die Globalisierung – das ist das zentrale Thema von „Contradict“, einem Film der Schweizer Regisseure Peter Guyer und Thomas Burkhalter, letzterer auch bekannt als Gründer der Musikplattform Norient. Wie sieht man den Wertewandel unserer Zeit vom afrikanischen Kontinent aus? Wie will man ihm entgegentreten, widersprechen? Und können neue Visionen für die Zukunft neue globale Realitäten werden? Mit diesen Fragen setzt sich „Contradict“ auseinander. Die Rahmenhandlung besteht aus einer provokant-ironischen Spendenaktion für Amerika, die von den beiden Musikern M3nsa und Wanlov The Kubulor (die FOKN Bois) durchgeführt wird.

Weitere Musiker der aktuellen ghanaischen Szene, die mit Interviews und eigens für den Film erstellten Videoclips und Songs zu Wort kommen, sind Adomaa, Worlasi, Akan, Mutombo Da Poet und Poetra Asantewa. Sie alle erheben ihre Stimme im postkolonialen Kampf, für die Gleichstellung der Frauen und gegen die Umweltverschmutzung ihrer Heimat. Ihr Mittel ist dabei eine Klangkunst, die sich auf die rapiden Verbreitungsmöglichkeiten der digitalen Welt stützen kann. „Contradict“, auf den Solothurner Filmtagen gerade begeistert aufgenommen, läuft ab jetzt in den Programmkinos von Zürich, Basel, Bern und Luzern. Wir wünschen uns bald auch Termine in Deutschland.

contradict-film.com/

„Contradict“ auf den Solothurner Filmtagen
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Goodbye UK, it’s hard to die

Es ist ein Tag zum Heulen.
Wenn ihr musikalisch mit mir trauern wollt:

Today is a day of mourning.
If you wanna do some grief work with me:

John Smith: „England Rolls Away“
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Genesis: „Dancing With The Moonlit Knight“ (Selling England By The Pound, live 1973)
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Transglobal Underground: „London’s Calling“
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Kate Bush: „Oh England, My Lionheart“ (live 1979)
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Sam Lee: „The Garden Of England“
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Ralph Vaughan Williams: „Norfolk  Rhapsody“
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ELO: „Last Train To London“
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Fairport Convention: „Farewell, Farewell“
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Gigantengipfel: Hugh und Tony


Zwei Giganten der afrikanischen Musik, einer bereits nicht mehr unter uns, veröffentlichen am 20.3. ihr einziges gemeinsames Album. „Rejoice“ ist eine Erinnerung an eine einzigartige Freundschaft und künstlerische Partnerschaft zwischen dem 2018 verstorbenen Hugh Masekela und Tony Allen.

Der südafrikanische Trompeter und der nigerianische Drummer kannten sich seit den 1970ern und strebten über Jahrzehnte an, zusammen eine Platte aufzunehmen. Geklappt hat es erst 2010, als sich in London ihre Tournee-Wege kreuzten. World Circuit-Pultarchitekt Nick Gold profitierte von der Gunst der Stunde und fing intime Sessions ein, in denen Masekela auch als Sänger zu hören ist und zu denen er die junge Generation der britischen Jazz-Kapitale hinzuzog (etwa Tom Herbert oder Joe Armon-Jones). Allerdings blieben die Aufnahmen unvollendet, posthum hat Gold sie jetzt fertiggestellt, mit Allen, der das Ergebnis launig als „a kind of South African-Nigerian swing-jazz stew“ charakterisiert.

Tony Allen wird die Sessions mit seinem verstorbenen Freund auch zum Thema einiger seiner Europa-Shows machen, unter anderem im Berliner Club SO36 am 8.5.

Hugh Masekela & Tony Allen: „We’ve Landed“
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Das Schöpfen aus Armeniens Erbe


aktueller Konzerthinweis: Das Naghash Ensemble tritt am 23.1. im Freiburger E-Werk auf!

Welche Kultur kann von sich behaupten, sie wüsste, wie ihre Musik vor 1500 Jahren klang? Als eines der ganz wenigen Länder ist Armenien in dieser glücklichen Lage. Sowohl in den sakralen als auch weltlichen Aspekten gehören die Klangschätze der Kaukasusrepublik zu den faszinierendsten der Welt. Den Namen des 1947 gestorbenen spirituellen Lehrers Georges Gurdjieff zum Beispiel hat jeder schon einmal gehört – er hat seine per Gehör verinnerlichten Melodien aus der Volksmusik vom russischen Pianisten Thomas de Hartmann transkribieren lassen, und in dieser Form erklingen sie bis heute in den Konzertsälen. Die Beschäftigung mit Musik aus dem kleinen Land am Rande Europas ist auch immer eine Zeitreise: Armenien erhob bereits 301 als erstes Land das Christentum zur Staatreligion, verfügt über eineinhalb Jahrtausende ungebrochene liturgische Musiktradition, vom Liturgiebegründer Mesrop Mashtots bis zu den Vertretern des 20. Jahrhunderts, allen voran dem Mönch Komitas Vardapet. Dem Bann der Klänge Armeniens erlagen weltweit klassische Musiker genauso wie Künstler, die eher im Jazz beheimatet sind. Starpianist Keith Jarrett wagte sich 1980 an die Einspielung sakraler Hymnen fürs Label ECM, auf dem sich etwa auch Bratschistin Kim Kashkashian und das Hilliard Ensemble mit weiteren Facetten armenischer Tonkunst befassten. Und das enfant terrible unserer Tage, der Pianist Tigran Hamasyan, wandte sich nach ungestümen Jazz-Experimenten den introspektiven Klängen seiner Heimat zu. Er urteilt: „Das ist Musik, die nicht von menschlichen Händen geschrieben wurde.“

Auch für den armenisch-amerikanischen Komponisten, Dirigenten und Pianisten John Hodian ist die Beschäftigung mit armenischen Klängen eine Lebensaufgabe. „Für mich hat die armenische Kultur immer eine etwas unheimliche Melancholie, die zugleich wunderschön ist, bedingt durch die tragische Historie“, sagte er einmal im Interview. In den vergangenen Jahren ist er in Deutschland schon durch sein Epiphany Project bekannt geworden: Mit der Sängerin Bet Williams bettete er da armenische Wurzeln in eine jazzig-folkige Umgebung ein, die auch unverkennbare amerikanische Elemente in sich trägt. Hodian ist an der US-Ostküste aufgewachsen, eine intensive Bindung zum Land seiner Vorfahren hat er erst in einer späteren Etappe seines Lebens aufgebaut. „In Amerika sagt man schon, wenn etwas 200 Jahre alt ist: ‚Mein Gott, was für ein Erbe!’ In Armenien sind Traditionen, die bis in vorchristliche Zeit zurückreichen, im Bewusstsein der Leute verankert.“ Genau aus dieser Dualität bezieht seine Musik ihre Spannung, auch die der neuen Unternehmung.

Hierfür verbindet Hodian geistliche Musik mit Texten des dichtenden Priesters Mrktich Naghash aus dem 15. Jahrhunderts. Der erste Impuls hierfür kam von einem Vokalquintett, das er in einem Tempel bei Jerewan geistliche Musik des Mittelalters singen hörte. Als er sich in Naghashs Texte versenkte, verknüpften sich in seiner Vorstellungskraft die Worte mit Musik aus jener Epoche. Es war der „kreative Blitz“, der für Hodian für jede erfolgreiche künstlerische Arbeit notwendig ist, wie er versichert. Fest stand für ihn auch gleich: Er wollte die beiden Jahrhunderte alten Inspirationsquellen für eine Neuschöpfung nutzen, denn an reiner Wiedergabe traditioneller Quellen war er noch nie interessiert. Hodian folgte dabei weitestgehend seiner Eingebung: 2010 stellt er ein Ensemble zusammen, in dem er den klagenden Ton der Schalmei Duduk, Armeniens Nationalinstrument, die Knickhalslaute Oud und die Dhol-Trommel mit seinem Klavierpart und einem Streichquartett textiert. Die Sphäre des Volksmusikalischen dockt so an der abendländischen Klassik an.

Über den Instrumenten agiert ein dreiköpfiges weibliches Gesangsensemble mit zwei Sopranen und einem Alt. Seine Chorsätze für die drei Frauenstimmen sind mal archaisch getönt, mal legen sie eine fast popkulturelle, eingängige Leichtigkeit an den Tag. Die dunkelmütige Schwere, die in Armeniens Klängen oftmals lauert, ist tatsächlich weitestgehend abwesend. Das Ergebnis ist eine einzigartige Musik, die auch ohne das Verständnis der philosophischen Texte von Naghash für uns Zeitgenossen zugänglich ist. Und die trotzdem eine seelenvolle, beglückende Tiefe besitzt – denn sie schöpft aus einer der ältesten Klangtraditionen der Erde.

Naghash Ensemble: „Agahootyan“
Quelle: youtube

Norient – Neustart

Während der letzten zwei Jahrzehnte war die Plattform Norient eine der führenden journalistischen Internet-Angebote rund um die globale Musik und viele Nachbardisziplinen. Nun ist ein neuer Norient Space mit dem Namen „The Now In Sound“ am Entstehen, „eine virtuelle, transdisziplinäre Galerie und Community-Plattform zwischen Kunst, Journalismus und Wissenschaft“. Dafür hat Norient eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen, die bis zum 31.01. 999 Gründungsmitglieder werben will.

„Wir wollen unsere über viele Jahre gewachsene Community von über 700 Denker*innen und Künstler*innen aus 50 Ländern enger zusammenführen, Aufträge generieren, faire Honorare zahlen und ihre Ideen für die Zukunft einer breiten Öffentlichkeit vorstellen“, heißt es zur Begründung der Transformation in der Presseerklärung. Ziel soll es sein, „politischer, tiefgründiger, verspieltet und experimenteller“ als bisher jenseits von Eurozentrismus, Exotismus und Diskriminierung über die aktuelle Musik des Planeten zu berichten. greenbeltofsound unterstützt diese Idee, denn in Zeiten eines zunehmend oberflächlichen Kulturjournalismus in Print und Radio braucht es gerade im Netz Konzepte für die Klangnischen und globalen Farben dieser Welt!

Mehr Infos zum Start von „The Now In Sound“ und zu den Möglichkeiten der Unterstützung gibt es hier:
https://norient-beta.com/

Südpolare Klangtableaus

Foto: Alex Kozobodis

Das Penguin Café ist kein konkreter Ort, es ist ein künstlerisches Idyll. Hier ist alles möglich. Von diesem Ort der Spontaneität, des Zufalls, des Irrationalen hatte der Gitarrist Simon Jeffes 1972 nach einer überstandenen Fischvergiftung geträumt. Und er wollte ihm hörbare Formen geben. Das gelang ihm mit dem Zusammenschluss eines lockeren Ensembles von etwa zehn Freunden, die auf Gitarre, Cello, Violine, Ukulele, Piano, Klarinette, Oboe, Posaune eine einzigartige Klangwelt zwischen Klassik und Popularmusik schufen. Gegen alle Trends und Stiletikette veröffentlichten die Musiker auf einem Label ihres Förderers Brian Eno präzise getimte Kammermusik, die so eingängig war wie Pop, so loop-verliebt wie Minimal Music und die immer ein Fünkchen britischen Humors in sich trug.

Einmal entwickelte Jeffes ein reizendes kleines Stückchen um ein Telefon-Besetztzeichen herum, ein anderes Mal schrieb er ein Stück für ein Harmonium, dass er in Japan auf der Straße gefunden hatte. Die Inspirationen waren grenzenlos, vom Barock bis zur afrikanischen Trommelwelt, immer organisch, nie elektronisch. Trotzdem – auch das gehört zu den Kuriositäten des Penguin Café Orchestras – hatten sie ihren ersten Live-Auftritt im Vorprogramm von Kraftwerk. Ihre Musik schaffte es in Werbespots der Eurotunnel-Company und von Coop, wurde von DJ Avicii gesampelt.

Als Simon Jeffes 1997 an einem Gehirntumor starb, versuchten die Bandmitglieder es allein, aber schließlich wurde das Café der Pinguine dicht gemacht – bis sich sein Sohn, der Pianist Arthur Jeffes unter dem verkürzten Namen „Penguin Café“ entschloss, die Historie mit neuen Musikern weiterzuschreiben. Seit 2009 hat das imaginäre Café also wieder seine Pforten geöffnet und mittlerweile vier Platten veröffentlicht. Der instrumentalen Kammerpop-Philosophie treu geblieben ist auch die neue Besetzung, die sich aus klassisch ausgebildeten Musikern genauso zusammensetzt wie aus temporären Mitgliedern der Bands Suede und Gorillaz.

Das aktuelle, vierte Werk Handfuls Of Night (Erased Tapes/Indigo) ist das bislang sphärischste und Piano-zentrierteste, und mit ihm betreten Arthur Jeffes‘ und seine Mitstreiter die Antarktis. Was läge näher, mit dem Pinguin als „Wappentier“ des Ensembles? Das dachten sich auch Greenpeace, als sie auf der Suche nach passender Musik im Rahmen einer Fundraising-Kampagne für bedrohte Pinguinarten auf Jeffes zukamen und ihn baten, musikalische Charakterbilder der Seevögel zu gestalten. Es gibt aber noch einen anderen, familiäreren Zusammenhang für Jeffes polare Affinität: Seine Urgroßmutter war in erster Ehe mit dem Forscher Robert Falcon Scott verheiratet, der 1912 nach dem Wettlauf mit dem Norweger Roald Amundsen auf dem Rückweg vom Südpol starb.

Jeffes’ antarktische Soundscapes sind die ideale Background-Musik für eine Welt ohne Winter, in der man die Sehnsucht nach Kälte im heimischen Wohnzimmer auslebt: Seine Widmungen an die Zügel- und Kaiserpinguine sind zart gewebt und haben doch cineastische Breitwandzüge mit warmem Streichergeflecht. Grazil und funkelnd malt er den Tauchgang der Adélie-Pinguine, melancholisch die beschwerliche Wanderung der Tiere durch Fels und Eis. Zu Tastenspiel und Geigen treten sehr dezent Harmonium und Ukulelen-Töne, ruhig, manchmal kaum wahrnehmbar schreiten die Rhythmen unter den melodieverliebten Stücken, ein jazziger Bass tritt da schon fast überraschend hervor. Eingerahmt wird die Suite von zwei Widmungen an das unwirkliche Licht der Mitternachtssonne. Und inmitten all der antarktischen Klangtableaus knüpft Arthur Jeffes auch an die Ära seines Vaters Simon an: Plötzlich ertönt der recycelte Loop jenes Besetztzeichens, das das Penguin Café Orchestra einst so berühmt gemacht hat.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 16.01.2020

Penguin Café live:
17.1. Christuskirche Bochum, 21.1. Bogen F Zürich, 22.1.  Elbphilharmonie Hamburg, 23.1. Tollhaus Karlsruhe

Penguin Café: NPR Music Tiny Desk Concert
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Grillen grillen

„Was bei uns in so kurzer Zeit passiert ist, ist kaum vergleichbar mit einer anderen Band in letzter Zeit“, sagt Bassist Lukas Kranzelbinder. „Und das meine ich jetzt nicht selbstlobend, sondern einfach euphorisch, begeistert darüber, wie das alles explodiert ist.“ „Bei uns“, das heißt beim Septett Shake Stew, in dem sich mit hochsolistischem Bläsersatz sowie doppelt besetztem Schlagzeug und Bass eine neue Jazzdimension öffnet. Eine, die arabische Farben und afrikanisches Flair einbezieht, die Filigranes mit Funk und Free verknüpft. Regelmäßig rastet das Publikum bei Shake Stew-Shows aus, bekundet seine Sympathie mit „Schreien von ganz innen“, wie Kranzelbinder erzählt, mit Komplimenten wie „eure Musik kann die Toten erwecken“.

Was ist das Geheimnis dieses jungen Haufens exzellenter Musiker, in denen Persönlichkeiten von der Steiermark bis Hamburg aufeinanderclashen? Zunächst ist es die harte Arbeit am Arrangement. Nachdem Kranzelbinder die Stücke geschrieben hat, arbeiten die Bandmitglieder von der vierköpfigen Rhythm Section ausgehend detailliert an den Grooves und Patterns. „Ich gebe zunächst ganz klar alles vor, und ich bin auch der Leader, aber was dann musikalisch passiert, ist das Ergebnis eines Kollektivs“, sagt der 31-jährige Klagenfurter. Dieses Ergebnis ist derzeit nicht nur auf der Bühne zu belauschen, sondern auch auf dem Magnum Opus der Band, „Gris Gris“, ihr drittes Werk, das während eines intensiven zweitägigen Studio-Flows in eine Doppel-CD ausgeufert ist.

„Klar, ich mag schon die frühe Phase von Dr. John und sein Debütalbum ‚Gris Gris‘“, preist Kranzelbinder die im letzten Sommer verstorbenen New Orleans-Ikone. „Aber wir beziehen uns auch auf den Begriff, der viel älter ist: Er bezeichnet in etlichen Kulturen ja ein Objekt, einen Fetisch, der Energie verleiht, ganz wie in unserer Musik.“ In den mitunter 15 Minuten und mehr dauernden neuen Stücken offenbaren sich tatsächlich spiralförmige Steigerungen, die zuweilen in Ekstase münden können. Da entlädt sich in „I Can Feel The Heat Closing In“ eine hitzige Jagd zwischen Swing und Free zu epischen Trompeten- und Saxophonsoli. New Orleans und zugleich der Miles der Cool-Ära lugen in „No More Silence“ durch die Blechtextur.

Mit geheimnisvollem Mäandern und anschließender Sax-Ekstase wird in „You Let Go You Fly“ den Rhythmen der marokkanischen Gnawa-Bruderschaften gehuldigt. „Für mich ist die Musik der Gnawa wahnsinnig magisch“, sagt Kranzelbinder. „Seit ich begonnen habe, die archaische Gnawa-Laute Gimbiri zu spielen, hat das auch meinen Zugang zum Bass verändert. Und ich kann mich sehr gut mit dem Trance-Aspekt identifizieren: Da werden ja die Geister angerufen, und ich bin der Überzeugung, dass Musik dazu da ist, die Menschen zu erhöhen, sie ‚raufzubringen‘.“ „Raufgebracht“ werden die Hörer auch mit einem epischen Stück wie „Grilling Crickets“, das er bei großer Hitze als Spannungsbogen zwischen Sahel-Blues und der Saitensprache eines Bill Frisell komponierte und das schließlich in Disco-Flair mündet. Für die Bühne dürfte das jede Menge Zündstoff geben. Wie fasst Kranzelbinder das Erlebnis einer Shake Stew-Show zusammen? „Unglaubliche Konzentration und Fokus, gepaart mit körperlicher Energie am Limit.“

© Stefan Franzen, dieser Artikel erschien in der bz basel, Ausgabe 09.01.2020

Radiotipp: am 14.1. sendet SRF 2 Kultur in der Sendung „Jazz & World aktuell“ meinen Beitrag mit dem Interview mit Lukas Kranzelbinder ab 20h, hier im Live-Stream

live: 14.1. Theaterforum Gauting, 16.1. Moods Zürich, 17.1. Sudhaus Tübingen, 18.1. Kulturtreff Baudergraben Altdorf bei Nürnberg

Shake Stew: „Grilling Crickets In A Straw Hut, pt.1“
Quelle: youtube