Beyond The Roots & San Salvador (Fotos: Bassem Hawar & Antoine Parouty)
Auf ein Neues! Nach der erfolgreichen Erstausgabe des Film-, Literatur und Musikfestivals „Ins Weite“ starten wir auch dieses Jahr wieder durch. Als Musikkurator darf ich an dieser Stelle die ersten beiden Konzerte innerhalb des vom Kommunalen Kino Freiburg e.V. veranstalteten Festivals ankündigen.
Die Strecke mit Klängen aus aller Welt präsentiert im Mensagarten und im Innenhof des Museums für Neue Kunst Musiker*innen, die sich mit dem Thema Reise auseinandersetzen oder allein durch ihre Biographien Reisende zwischen den Klangwelten sind. Im Zentrum stehen Konzerte innerhalb der zwei Festivalschwerpunkte: „Die Welt als Mosaik“ stellt Musiker vor, die Eindrücke aus allen Erdteilen zu Kompositionen und Songs verarbeitet haben, und bei „Nach Osten“ entfaltet sich eine Reiseroute von Anatolien über Kurdistan und den Iran bis nach Indien. Mediterrane Farben komplettieren diese Musikstrecke. Wir freuen uns, dass etliche Acts gewonnen werden konnten, die noch nie in Freiburg zu Gast waren, für das hiesige Publikum also echte Neuentdeckungen sind.
Zum Auftakt begrüßen wir ein weltläufiges Ensemble, das gleichzeitig eine lokale Anbindung hat. Beyond The Roots (24.7, 19h) ist ein neu gegründetes Kollektiv aus Köln um die Klarinettistin Annette Maye (Fis Füz). Das Ensemble spielt eine „Welt-Kammermusik“, die von der Kraft der Improvisation lebt, und umspannt Mitteleuropa, den türkischen, persischen und indischen Kulturraum. Am 25.7. um 20h präsentieren wir Shooting Stars der Roots Music-Szene aus Frankreich: Von ihrer Heimat im Massif Central aus bricht die A Cappella- und Trommel-Band San Salvador zu einer atemberaubenden, mitreißenden Reise auf – von den okzitanischen Troubadouren in die moderne Welt. Die pure Kraft der menschlichen Stimme aus sechs Kehlen hat man selten so atemberaubend und druckvoll erlebt. Unser besondere Empfehlung!
SWR 2 Musikstunde Der Choro – Brasiliens unbekannte Seele
19. – 23.07.2021, 9h05 – 10h
von Stefan Franzen
Als „musikalische Seele Brasiliens“ bezeichnete ihn Heitor Villa-Lobos: Der Choro entstand vor rund 150 Jahren aus der Begegnung von europäischen Tanzformen mit afrikanischen Rhythmen. Unverkennbar ist er durch seine originelle Instrumentation und seinen melodisch-harmonischen Reichtum. Illustre Persönlichkeiten wie Pixinguinha, Jacob do Bandolim, Waldir Azevedo oder Garoto haben ihn geprägt.
Johann Sebastian Bachs und Antonio Vivaldis Musik wurden in sein Kleid gesteckt. Jazzer wie Wynton Marsalis oder Popgrößen wie Marisa Monte ließen sich durch ihn verführen. Und er hat regelrechte Hits hervorgebracht: „Tico-Tico No Fubá“, „Carinhoso“ (Brasiliens heimliche Nationalhymne) und „Brasileirinho“. Die Musikstunde geleitet durch die wechselvolle Entstehung und Geschichte des Choro mit Seitenpfaden in den Samba und den Jazz, den Barock und die Moderne.
Teil 1: Vom Königshof auf Rios Straßen (19.07.) Teil 2: Pixinguinha, das Choro-Genie (20.07.) Teil 3: Ein zweifacher Wettstreit (21.07.) Teil 4: Flirt mit Barock, Inspiration der Moderne (22.07.) Teil 5: Wandelbar und zeitlos (23.07.)
Juliana Blumenschein ist in Deutschland mit brasilianischen Eltern aufgewachsen und mit Jazz, Soul und Gospel sozialisiert – das ergibt einen schönen Nährboden für die eigene Musik. Diese hat sie an der Musikhochschule in Mannheim und bei einem Aufenthalt in Salvador da Bahia reifen lassen. Ihre Debütscheibe A Vida (Recordjet) stellt sie jetzt der Öffentlichkeit vor, unter anderem in meinem Interviewbeitrag für SRF 2 Kultur, der am Dienstag, den 13.7. ab 20h in der Sendung „Jazz & World aktuell“ läuft.
Juliana Blumenschein Quintett: „A Vida“ (live)
Quelle: youtube
Im Alter von 92 Jahren ist der armenische Duduk-Spieler Djivan Gasparyan am 6. Juli gestorben. Sein Name war fast ein Synonym für die nahöstliche Folk-Oboe aus Aprikosenholz, deren dunklen, wehmütigen Klang Gasparyan weltweit bekannt gemacht hat. Der 1928 nahe Eriwan geborene Musiker fand seinen Weg zum armenischen Nationalinstrument früh. Als Jugendlicher spielte er Duduk auf den Straßen, um sich und seine Geschwister zu ernähren, während der Vater im Krieg kämpfte und die Mutter bereits gestorben war. 1948 wurde er ausgewählt, um in einem Folklore-Ensemble durch die Sowjetrepubliken zu touren und spielte auch für Stalin. Der Westen wurde durch Aufnahmen auf dem russischen Melodia-Label auf ihn aufmerksam, die Brian Eno Ende der 1980er lizensierte.
Gasparyans erstes internationales Album wurde 1989 als I Will Not Be Sad In This World veröffentlicht und war den Opfern des großen Erdbebens in Armenien im Jahr zuvor gewidmet. Nachdem Armenien 1991 Unabhängigkeitsstatus erlangt hatte, begann Gasparyans zweites künstlerisches Leben mit Tourneen weltweit und Teamworks mit einem breiten Spektrum von Musikern, Peter Gabriel, Andreas Vollenweider und das Kronos Quartet unter ihnen. Hierzulande ist er Weltmusikhörern vor allem durch seine Einspielungen auf Network Medien bekannt geworden. Dass der Duduk-Klang auch Eingang in die Filmmusik fand, ist ebenso ihm zu verdanken: Er spielte in den Soundtracks zu „The Crow“, „Gladiator“ und „Blood Diamond“ mit. 2010 hat Gasparyan die Oboe sogar auf die Bühne des Eurovision Song Contest gehievt, als er beim armenischen Beitrag „Apricot Stone“ mitspielte. Gasparyans Duduk-Erbe wird von seinem Enkel weitergeführt.
Unsterblich wurde das Lied in der Interpretation der englischen Altistin Kathleen Ferrier, die mit dem Dirigenten und Mahler-Schüler Bruno Walter hier Überirdisches geschaffen hat. Und das Eingangssolo dürfte zu den schönsten Englisch Horn-Passagen der ganzen klassischen Musikliteratur zählen.
Hier geht es nicht um Weltflucht oder gar einen Freitod. Es geht um ein Bekenntnis zur Musik, die sich abseits des ruhelosen, überdrehten und leeren Weltgetriebes eine eigene Sphäre bewahrt. Daher ist dieses Lied heute von größerer Aktualität denn je.
Kathleen Ferrier und die Wiener Philharmoniker, Leitung Bruno Walter (1952)
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SWR Vokalensemble Stuttgart: Arrangement von Clytus Gottwald für 16-stimmigen Chor
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Günther Groissböck & Gerold Huber: Fassung für Bariton und Klavier
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Mnozil Brass: Fassung für Blechbläser-Ensemble
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„Die Bibel des Songwritings“ nannte Robin Pecknold von den Fleet Foxes Blue. Joni Mitchells intimer, kathartischer Meisterwurf wurde vor genau 50 Jahren veröffentlicht – und rangiert ohne Zweifel auch unter meinen zehn wichtigsten Alben des Genres. Das Titelstück, an dem jeder Coverversuch scheitern muss (Ausnahme: Rufus Wainwright), weil es so eng mit Jonis Stimme verbunden ist, schwimmt und schimmert wie ein rätselhaftes Artefakt, oben von der Sonne beschienen und oszillierend, unten im unergründlichen Ultramarin verschwindend. Ein Song, wie ihn heute niemand mehr schreiben kann, der sich über Versmaß und rhythmisches Korsett hinwegsetzt, der pure Ungebundenheit und Freisein verkörpert, auch wenn er von Verletzungen der Seele handelt. Hier in der Live-Version von 1974.
Letztes Jahr veröffentlichte die junge Schweizer Sängerin, Bandleaderin und Komponistin ihr Orchester-Album Stardust Crystals, für mich immer noch eine der erstaunlichsten Scheiben jenseits aller Stilistiken der letzten Jahre. Als Dankeschön an alle, die sie unterstützt haben, hat die Künstlerin heute ein wunderbares Dokumentationsvideo veröffentlicht. Und sie hat schon neue Stücke in der Pipeline: Einige davon stellt sie am morgigen Samstag, 26.6. in der Spielhalle des Musikerwohnhauses, Lothringerstraße 165 in Basel ab 10h30 in einem Morgenkonzert vor.
Ihre panafrikanischen Ideen hat sie bisher von Frankreich aus entworfen. Für die Produktion ihres sechsten Albums Couleur (Cumbancha/Exil) ist Dobet Gnahoré in die Elfenbeinküste zurückgekehrt, und hat ihrem „Tradi-Moderne“-Mix dort einen kräftigen Schuss Elektro verpasst.
Es gibt einen lustigen Moment während der Videoschalte nach Abidjan zu Dobet Gnahoré. Gefragt nach dem Gitarristen Louis Stephen Djirabou sagt sie: „Ich kenne ihn nicht, aber nach dem was du von ihm erzählst, sollte ich ihn mal abchecken!“ „Aber im Booklet steht doch, dass er auf deinem Album mitspielt!“ Dann stellt sich heraus, dass Djirabou in der Côte D’Ivoire nur unter „Phéni Le Magicien“ firmiert. Ähnlich ist das mit Yabongo Lova, ihrem Duettpartner in der Single „Lève-Toi“. Der bürgerliche Name des Starsängers des Zouglou: unbekannt. „Lève-Toi“, das war der erste kraftgeladene Vorbote aus Gnahorés Album, eine Hymne auf die Widerstandskraft und das Nicht-Aufgeben, begleitet durch einen wirbelnden Tanz in bunten Kleidern und vor den bunten Kulissen von Abidjan. Dobet Gnahoré hat nach 20 Jahren überwiegender europäischer Residenz einen kräftigen Pflock in ihre afrikanische Muttererde eingeschlagen.
„Es ist tatsächlich das allererste Mal, dass ich ein Album ausschließlich in Afrika produziert habe. Ich fühle mich hier besser in meiner Kreativität und mein Mix aus Tradition und Moderne ergibt hier noch mehr Sinn“, so ihre Einschätzung. „Ich bekam sehr viel Inspiration durch die Wurzeln, die mich umgeben, durch die ganzen Sprachen. Und ich war sehr überrascht, dass hier alles wie am Schnürchen lief während der Aufnahmen, die jungen Musiker, mit denen ich gearbeitet habe, sind bestens organisiert.“ Couleur, der Titel ihres ivorischen Werks, steht für die sicht- und hörbaren Farben, auch die Farben der Emotionen, sagt sie, die Vielfalt, die Mischung.
„Wir haben hier im Land 72 Sprachen, und als ich das Album plante, wollte ich zumindest in 12 Sprachen singen, für jeden Song eine. Aber ich hatte eben auch Lust, Französisch und Englisch zu integrieren, also sind die Sprache meines Volkes, der Bété, und darüber hinaus Dida, Djoula, Adjoukrou und Koulango übriggeblieben.“ Was nicht zwingend heißt, dass zu den Texten in einem Idiom auch musikalische Einflüsse der jeweiligen Region gruppiert werden müssen. Wenn sie im Song „Yakané“ Zeilen in Dida intoniert, machen sich in der Musik unverkennbar südafrikanische Einflüsse bemerkbar. Und in „Le Désert“ koppelt sie Wüstenblues-Grooves an eine lautmalerische Fantasiesprache.
Was den Sound anbetrifft, ist ein sofort hörbarer Schwenk Richtung Elektro urbaner afrikanischer Prägung passiert, inklusive einer Miniportion Autotune-Effekt. In der zweiten Hälfte der CD läuft sogar der gleiche Downbeat durch, was aber aufgrund der Diversität der melodischen Stimmungen und der Arrangements von Tam Sir Junior Yihe nicht unangenehm wirkt, sondern die Tanzbarkeit beflügelt. „Afro-Electro ist meine Basis, und über dieser Basis bin ich ganz frei, die Stilistik zu wechseln“, so Gnahoré, die betont, dass sie sich immer zur Tradition bekennen wird. Eine Tradition, die sich freilich stetig verändert im jungen Afrika, wenn wie in der Côte D’Ivoire, die studentische Protestmusik, der gesungene Rap Zouglou, sich zum kongolesisch beeinflussten Coupé Décalé weiterentwickelt und auch Einflüsse aus den übermächtigen nigerianischen Afrobeatz rüberschwappen.
Gnahorés wichtigster Themenkomplex ist die Weiblichkeit in allen Facetten: Da gibt es in „Jalouse“ den Aufruf an Mädchen, ihre Energie nicht durch Eifersuchtsgefühle zu hemmen, „Yakané“ feiert die Zukunft der klugen Frauen und „Mi Pradjô“ die Mutterschaft. „Ich durchlebe eine intensive Phase des Wachstums“, bekennt Gnahoré. „Ich bin dabei mich zu emanzipieren, meine Sexualität neu zu entdecken, mich zu behaupten. Mir fällt auf, dass die Männer in der Côte D’Ivoire dabei sind zu kapieren, welchen Platz die Frau in der Gesellschaft haben will. Mein Eindruck ist sogar, dass sie merken: Je emanzipierter und freier die Frauen sind, desto mehr Wertschätzung bekommen sie selbst von ihnen. Die Männer fühlen sich dadurch sogar schöner!“
Auch künftig wird Dobet Gnahoré in der Elfenbeinküste arbeiten, sie hat dort eine Produktionsfirma gegründet. Ihre afropäische Biographie aber wird sie weiterhin leben, denn ihre Kinder leben in Frankreich. „La Navette“ nennt sie diesen Lebensstil, das Webschiffchen, das hin- und herflitzt. Ihrer Musik kann dieses doppelte Gesicht nur zugutekommen.
Was macht die Faszination dieser „Romanze“ aus, wie RVW sie selbst betitelte, was macht sie zum derzeit beliebtesten Klassikstück in England überhaupt? Jennifer Pike hat versucht, das zu erklären:
Why Does Everyone Love The „Lark Ascending“?
Quell: youtube
Ich kann Vieles unterschreiben, was Jennifer sagt. „The Lark Ascending“ ist eines der dankbarsten Stücke für Geigerinnen und Geiger. Es kostet sowohl im meditativen Ausdruck als auch in der Virtuosität das Instrument vollkommen aus, man kann sich in einigen Passagen während des Spielens buchstäblich auf die Violine setzen und mit ihr wegfliegen. Denn genau darum geht es: RVW beschreibt den Flug einer Lerche, die sich im Sommerhimmel immer höher schraubt. Dabei bildet er sowohl ihre flatternden, kapriolenhaften Bewegungen als auch ihren trillernden, silbernen Gesang ab. Beide hat auch der Dichter George Meredith in der gleichnamigen poetischen Vorlage bewegend in Verse gefasst. Um das abzubilden, hat RVW lange Solopassagen komponiert, in denen das Orchester nur einen fernen Bordun liefert, als ob irgendwo da unten noch ein paar Geräusche gen Himmel empordringen, die aber bald auch ersterben. In solchen Stellen ähnelt das Stück fast der langsamen, improvisatorischen Einleitung eines indischen Raga. Doch dann gibt es auch wieder Passagen, in denen der Komponist von der Strahlkraft seiner orchestralen Farbpalette Gebrauch macht.
Für mich ist „The Lark Ascending“ allerdings mehr als eine Naturromanze. Der Flug der Lerche in immer höhere Höhen, die am Ende der Komposition auch Lagen erklimmen, die auf einer Geige gerade noch so einigermaßen darstellbar sind, hat auch eine spirituelle Note: das unbeschwerte Hinübergehen in eine grenzenlose, schwerelose Sphäre, die nicht mehr von dieser Welt ist. Ich habe „The Lark Ascending“ viele Monate geübt, die langen 32tel-Tonketten und die Doppelgriffe sind anspruchsvoll. Die wahre Herausforderung ist aber, den Flow, die musikalische Thermik zu schaffen, auf der die Lerche emporsteigen kann. Irgendwann konnte ich es dann so einigermaßen spielen, mit etlichen Sinkflügen, auf denen sich die Lerche wieder berappeln musste. In der Akustik eines Zimmers hört sie sich allerdings schal und spröde an. Deshalb bin ich auch mal in eine Kirche oder sogar raus aufs Feld. Das Stück braucht diesen „sustain“.
Es gibt unzählige Versionen des Stücks, von Pinchas Zukerman über Nigel Kennedy bis Hilary Hahn, auch die ursprüngliche Besetzung nur mit Klavierbegleitung ist in jüngerer Zeit etwa von Matthew Trusler und Iain Burnside eingespielt worden. Die Lerche hat auch Popmusiker inspiriert, etwa Kate Bush in ihrem 1989 erschienenen Stück „The Fog“ (mit Nigel Kennedy an der Violine), oder das Worldbeat-Duo Loop Guru in seinem Stück „Tam Duugi“. Ich habe untenstehend eine Interpretation mit der britischen Geigerin Nicola Benedetti und dem LPO ausgesucht. So aktiv die Lerche musikalisch ist, so bestürzend ist ihr Rückzug in der Natur. Um die Feldlerche hierzulande zu unterstützen, bietet der NABU Projekte an, bei denen sich jede/r engagieren kann.
Am 14. Juni vor 100 Jahren ist die Lerche in Londons Queen’s Hall – nach ihrer kammermusikalischen Uraufführung mit Violine und Klavier – zum ersten Mal mit Orchester geflogen, in Gestalt der Violine der Elgar-Schülerin Marie Hall und dem British Symphony Orchestra unter der Leitung von Adrian Boult. „The Lark Ascending“ beweist: Die Geige kann fliegen, und sie kann Zeit und Raum außer Kraft setzen. Und noch etwas zeigt dieses Stück: Vaughan Williams begann die Komposition bereits 1914 und musste im 1. Weltkrieg die Arbeit daran unterbrechen. Als Sanitäter in Frankreich hat er grauenhafte Dinge gesehen. 1920 komplettierte er die Arbeit: Die Lerche erhob sich aus der Verwundung.
Auf dem Cover seiner neuen CD schaut Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus, in die Weite, auf einen unbekannten Punkt. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend, sehnsüchtig. Eine Haltung, die die Philosophie hinter dem Solo-Werk des iranischen Stachelgeigen-Virtuosen schön im Bild eingefangen hat. Denn Unknown Nearness ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in sich trägt.
Diese Fragen haben sich schon im Titel niedergeschlagen. „Darin liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.
Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.
Der 38-Jährige aus der nordiranischen Provinz Mazandaran erlernte das persische Skalensystem, den Radif auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Formen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich von der Verankerung in der Tradition bilderstürmend losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und noch nicht versuchten Rhythmen.“
Foto: Jo Titze
Das offenbart sich gleich zu Beginn von Unknown Nearness: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Staccato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel von Parviz Meshkatian.
Ein Name, der im Gespräch mit Joolaee immer wieder fällt, er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen aufspannt mit Höhen und Tiefen.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, ähnliche Innerlichkeit.
Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in Balance zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, gipfelnd in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus.
Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf Flamenco-Spuren? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig. „In Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel mehr als die Gitarre!“
Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch in der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar aus Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet. Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, das ist ein treffendes motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.
Konzerthinweis: Misagh Joolaee spielt im Rahmen der Kleinen Freiburger Musiktage (11.-13.6.) am kommenden Sonntag, 13.6. um 17h mit seinem Duopartner, dem Perkussionisten Sebastian Flaig im Kaisersaal des Historischen Kaufhaus Freiburg.