Listenreich I: 25 Songs für 2025

Cantares Do Andarilho (Portugal/Mosambik/Angola/Azoren/Asturien): „Venham Mais Cinco“
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Carminho (Portugal): „Canção À Ausente“
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Eishan Ensemble (Australien/Iran): „Nim Dong“
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ELSA (Österreich): „Courage“
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Piers Faccini & Ballaké Sissoko (UK/Mali): „Shadows Are“
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Ganna (Ukraine/Deutschland): „Kupala“
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Garden Of Silence (Schweden/Schweiz/Iran/Deutschland/Ägypten): „Neither You Nor I“
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Yumi Ito (Japan/Polen/Schweiz): „What Seems To Be“ (piano version)
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Marcos Jobim (Brasilien): „Silêncio“
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Misagh Joolaee & Bakr Khleifi (Iran/Palästina/Deutschland): „Az Bahar“
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Kokoroko (UK): „Ti-de“
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Dafné Kritharas (Griechenland/Frankreich): „XAPA“
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Ledisi (USA): „BLKWMN“
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Awa Ly (Frankreich/Senegal): „Breathe In, Breathe Out“
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Maxjoseph (Deutschland): „Samt“
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Nusantara Beat (Indonesien/Niederlande): „Tamat“
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Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral (Katalonien/Portugal): „Ben Poca Cosa Tens“
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Céline Rudolph, Henrique Gomide, João Nogueira (Deutschland/Brasilien): „Embaixo Da Imensidão“
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Matthieu & Camille Saglio (Spanien/Frankreich): „Iberian Ballad“
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Tania Saleh (Libanon): „Qul“
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Noura Mint Seymali (Mauretanien): „Guéreh“
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Mavis Staples (USA): „Anthem“
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Simin Tander (Deutschland): „Nursling Of The Sky“
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Tribeqa (Frankreich): „Respire“
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uKanDanZ (Äthiopien/Frankreich): „War Pigs“
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Listenreich II: 25 Alben für 2025

Christa Abels (Deutschland): Mit den Zugvögeln fort (Eigenverlag, christaabels.de)
Ambäck (Schweiz): Wolkenbödeler (Eigenverlag, ambaeck.ch)
Thiago Armud (Brasilien): Enseada Perdida (Rocinante)
Cantares Do Andarilho (Portugal/Mosambik/Angola/Azoren/Asturien): Wanderer Songs – Ao Vivo No Teatro Faialense (Mais 5)
Carminho (Portugal): Eu Vou Morrer De Amor Ou Resistir (Sony Portugal)
Maurício Einhorn & Idriss Boudrioua Orchestra (Brasilien): Maurício & Horns (In & Out Records)
Eishan Ensemble (Australien/Iran): Northern Rhapsody (Acel)
ELSA (Österreich): Jump! (Jazzhaus Records)
Piers Faccini & Ballaké Sissoko (UK/Mali): Our Calling (No Format)
Ganna (Ukraine/Deutschland): Utopia (Berthold Records)
Garden Of Silence (Schweden/Schweiz/Iran/Deutschland/Ägypten): Neither You Nor I (Bazaarpool)
Yumi Ito (Japan/Polen/Schweiz): Lonely Island (enja)
Marcos Jobim (Brasilien): Singelinha (Musik | Marcos Jobim)
Misagh Joolaee & Bakr Khleifi (Iran/Palästina/Deutschland): Hajr (GWK Records)
Kokoroko (UK): Tuff Times Never Last (Brownswood Recordings)
Dafné Kritharas (Griechenland/Frankreich): Prayer & Sin (Horizon Musiques)
Awa Ly (Frankreich/Senegal): Essence & Elements (Naïve)
Maxjoseph (Deutschland): Nau (MAXJOSEPH | Neue Volksmusik I Bayern)
Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral (Katalonien/Portugal): Sílvia & Salvador (Warner Music)
Céline Rudolph / Henrique Gomide / João Nogueira (Deutschland/Brasilien): Amaré (Challenge Records)
Matthieu Saglio & Camille Saglio (Frankreich/Spanien): Al Alba (ACT)
Kengo Saito & Japanistan Trio (Japan/Frankreich/Afghanistan): Douce Errance (Felmay)
Tania Saleh (Libanon): Fragile (Association Tantune)
Santrofi (Ghana): Making Moves (Outhere)
Simin Tander (Deutschland): The Wind (Jazzland Recordings)

Listenreich III: 25 Konzerte für 2025

Ledisi, Heidecksburg Rudolstadt 4.7.2025
WINTER
„Ohren auf Weltreise“ feat. Awa Ly & Lucie Cravero 01.02.
 Alondra de La Parra, David Enhco, Duisburger Philharmoniker, Mercatorhalle Duisburg 19.02.
 „Ohren auf Weltreise“ feat. Matthieu Saglio, Schloss Allensbach / Stadtscheuer Waldshut 14.+15.03.
Aynur, Theater Freiburg 16.03.
FRÜHLING
Arezoo Rezvani & Liron Meyuhas, Tamburi Mundi 20.04.
Sophie Hunger, Kaserne Basel 03.05.
Marco Mezquida Trio +Matthieu Saglio Quartet, Gare du Nord Basel 05.05.
Salvador Sobral, Stadthalle Waldshut 17.05.
„Alcina“ (Georg Friedrich Händel), Maeve Höglund u.a., André de Ridder, Philharmonisches Orchester Freiburg 18.05.
„Éclairs de L’Au-Delà“ (Olivier Messiaen), Philharmonisches Orchester Freiburg, André de Ridder, Konzerthaus Freiburg 27.05.
„Sinfonie der Tausend“ (Gustav Mahler), Tonkünstlerorchester, Yutaka Sado, Musikvereinssaal Wien 04.06.
„Das Lied von der Erde“, (Gustav Mahler), Wiener Philharmoniker, Iván Fischer, Konzerthaus Wien 05.06.
Joolaee Trio + Wishamalii, Porgy & Bess Wien 06.06.
„Der Rosenkavalier“ (Richard Strauss), Ann-Beth Solvang u.a., Georg Fritzsch, Badische Staatskapelle, Badisches Staatstheater Karlsruhe 19.06.
SOMMER
Rita Payés, JazzBaltica Timmendorfer Strand 27.06.
Ledisi & Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt, Heidecksburg Rudolstadt 04.07.
Daniel Lazar & Almir Meskovic, Theater Rudolstadt 06.07.
Maxjoseph, Stadtkirche Rudolstadt 06.07.
ELSA, Jazzhaus Freiburg 20.09.
HERBST
Carolin Trischler, Jazzhaus Freiburg 23.09.
Owen Pallett & Philharmonisches Orchester Freiburg, André de Ridder, Theater Freiburg 8.10.
Simin Tander, Jazzhaus Freiburg 19.10.
Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral, Elbphilharmonie Hamburg 17.11. / Philharmonie Köln 21.11.
Pedros Klampanis Trio, Jazzhaus Freiburg 30.11.
Monty Alexander Trio, Tonhalle Villingen, 13.12.
alle Fotos © Stefan Franzen

Winterglück im Wohnzimmer

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Elbphilharmonie Hamburg, 16.11.2025
Philharmonie Köln, 21.11.2025

Bunte Vintage-Lampen, ein paar Stühle, dazu das kleine Beistelltischchen mit Wählscheibentelefon, ein schlichter Teppich. Das Bühnenbild soll die Atmosphäre eines intimen Wohnzimmerkonzerts vermitteln – und das inmitten der größten, philharmonischen Konzerthäuser Deutschlands. Doch wer kann einen solchen Spagat mit Leben und Authentizität füllen?

Arm in Arm kommen die beiden, die das vermögen, auf die Bühne – er in sportiver Freizeitkleidung, sie, als möchte sie mit Rock und schicker Bluse auf ein dörfliches Tanzfest gehen. Gefunden haben sie sich, weil sie sich in ihrer gegenseitigen Bewunderung wohl einfach finden mussten: die schönste, warmherzigste und virtuoseste Stimme der katalanischen Musik, und der einstige Eurovision Song Contest-Held, nach dramatischer Herztransplantation einer der führenden Kreativköpfe der neuen portugiesischen Szene. Ihr gemeinsames Album Sílvia & Salvador ist ein unspektakulärer, intimer Meisterstreich, der die Kraft der Menschlichkeit und die Liebe zur Stimme in allen Facetten feiert, ohne Angst vor Sentimentalitäten und Wohlklang, von Barcelona und Lissabon hineingreifend nach Uruguay, Mexiko, Brasilien und auch ins Chanson und in Country-esques.

In Deutschland hat das Paar ungleiche Voraussetzungen: Sobral ist durch den ESC und vorherige hiesige Tourneen bekannt, und er kann sich auf eine große Anzahl von Exil-Portugiesen im Auditorium stützen, spricht ein wenig Deutsch, was er in augenzwinkernden Ansagen charmant ausprobiert. Sílvia Pérez Cruz ist nach 25 Jahren Karriere tatsächlich das erste Mal auf deutschen Bühnen zu hören – doch es ist schnell spürbar: Ihr fliegen dank ihres ergreifenden, gewinnenden Naturells und ihrer überwältigenden, vokalen Wärme schnell die Herzen zu.

Bereits im Eröffnungsstück ist klar, dass das Intime im philharmonischen Großbau bestens funktioniert: „Ben Poca Cosa Tens“, mit Worten des Dichters Miquel Martí i Pol, erzählt von der Trennung und der Einsamkeit, und wie diese in einem gewagten Aufschwung im frischesten Licht („llum fresquíssima“) Trost findet. Die beiden Stimmen, verwandt in Timbre und hohem Register, schrauben sich mit großem Atem in höchste Höhen, fliegen schließlich, als würden die Schmerzensschreie in Schwerelosigkeit münden. Und hier muss gleich auch das Loblied der drei Bandmusiker gesungen werden: Berklee-Absolventin Marta Roma bringt durch ihren feinen, eleganten und genauso pfiffig-rhythmischen Cello-Strich kammermusikalisch-klassisches Flair hinein, Dario Barroso aus Tarragona ist ein souveräner, ideenreicher Riff-Kapitän. Die Überraschung im Trio ist aber der Mallorquiner Sebastià Gris, der vor allem mit Mandolinen und Banjo eine feinmaschige Zupf-Textur gestaltet, Volkstümliches clever mit Virtuosentum verknüpft.

Familiäre Nährstoffe bezieht die Show von vielen Freunden und Verwandten der Protagonisten: Der Uruguayo Jorge Drexler hat Sobral und Pérez Cruz „El Corazón Por Delante“ geschenkt, ein mit seligen Terzen gefüllter Gesang, der bei vielen anderen Interpreten ein wenig kitschig anmuten könnte, hier aber zum leutseligen Walzer mit Publikumsbeteiligung wird. Schwester Luisa Sobral und Ehefrau Jenna Thiam sind in der Autorinnenriege zu finden – letztere sorgt mit „L‘Amour Reprend Ses Droits“ (Musik: Carlos Montfort) für den Chanson-Moment des Abends: In Sílvia Pérez Cruz‘ Phrasierung leuchtet hier ein wenig Édith Piaf durch, allerdings befreit von jeglicher Härte der Pariserin. Endgültig zum Wohnzimmer werden die Elb- und die Kölner Philharmonie aber durch „Someone To Sing Me To Sleep“. Barroso leitet hier mit vielen Themenanspielungen romantisch und wehmütig ein, dann verschmilzt er mit den beiden tiefempfundenen Stimmen (der sonst so falsett-verliebte Sobral in erstaunlichen Bass-Lagen) zum spätnächtlichen Lagerfeuer-Moment. Hinter mir sind bewundernde Seufzer zu vernehmen.

Es ist ein Abend, der auch von wechselnden Konstellationen lebt: Sobral lässt es sich nicht nehmen, mit Marta Romas Pizz-Begleitung Max Raabes „Kein Schwein ruft mich an“ aus seiner Überraschungskiste frei zu lassen, in Hamburg lässt das alle hanseatische Reserviertheit schmelzen, im karnevalesken Köln sowieso. Dann schaltet er radikal auf die waidwunde Samba-Ballade „Ella Disse-Me Assim“ um, brüllt seinen Liebesschmerz ohne Mikro in den Saal. Pérez Cruz sorgt für Atemlosigkeit im Auditorium, als sie Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienés“ von Leonard Cohen zurückstiehlt – dunkler und mit allmählicher Steigerung in Hamburg, dramatischer in Köln mit großer Ornamentik und improvisatorischer Fantasie, die auch einen Seitenpfad zu „Hallelujah“ öffnet. Hier zeigt sich: Aus jedem Song schöpft sie ihr eigenes lichterfülltes Universum.

Der finalen Kurve sind die lebhafteren, mitreißenderen Stücke vorbehalten: Mit beherztem Schlag auf der großen Trommel kommt Erdigkeit in Sobrals „Mudando Os Ventos“. Und in „Muerte Chiquita“ geht Pérez Cruz auf eine genauso spielerische wie feurige Flamenco-Exkursion, die einen in die Knie zwingt. Das Publikum fordert Zugaben und bekommt zwei denkbar grandiose: Für ihr „Mañana“ im Stil einer bittersüßen mexikanischen Ranchera wird Sílvia Pérez Cruz zur Gesangslehrerin, und die steifen Ränge der Philharmonie quellen über vor Herzschmerz. Schlussschwung gibt es mit Sobrals „Anda Estragar-Me Os Planos“, mit einem zarten Hauch von Western-Saloon. Der Abstecher der beiden Koryphäen von der Iberischen Halbinsel brachte eine große Portion Winterglück in diese klirrend kalten Novembertage.

© Stefan Franzen

 

Frischestes Licht

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Sílvia & Salvador
(Warner Music International)

Zwei der ganz Großen der Iberischen Halbinsel treffen sich zum Duo-Gipfel: Er, langjähriger Fan seiner Partnerin, hat die portugiesische Musik für den Indie-Pop und den Chanson geöffnet (und vor Uhrzeiten einmal den ESC gewonnen…). Sie, zweifelsohne die derzeitig unangefochtene Queen der katalanischen Musik, hat schon lange ein Faible für lusophone Töne, während er seit seinem Studium in Barcelona eine Verankerung in der Region hat. Sílvia Pérez Cruz und Salvador Sobral: Hier kann man nur die höchsten Erwartungen an hohe Liedkunst haben, und sie werden auch erfüllt, mit zarten Flügelschlägen aller Facetten der Música Latina, die die beiden mit befreundeten Song- und Verseschmieden zum Leben erwecken.

„Ben Poca Cosa Tens“, ein Trostpflaster für alle, die Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen, mit Versen des Dichters Miquel Martí i Pol, schwingt sich in melodieseligen Terzen zu einer bewegenden, wunden Klimax auf, dann, wenn neues Leben durch „llum fresquíssima“, frischestes Licht, einfließt. Dann regieren die Dreiertakte: Ein Wehmutswalzer von Jorge Drexler wird angestimmt, im fragilen 3/4 wird in „Hoje Já Não É Tarde“ von Sobrals Schwester Luisa Fado schwebend sublimiert. Spielerisch flink mit Musette-Reminiszenzen kommt „L’Amour Reprend Ses Droits“ daher , das Sobrals Frau Jenna Thiam beigesteuert hat. Und ganz ohne Cheesyness gelingt den beiden in „Someone To Sing Me To Sleep“ ein country-esques Lullaby. Einmal nur wird es etwas physischer, wenn sich in „Muerte Chiquita“ die Rumba-Färbungen Kataloniens bemerkbar machen.

Die delikate Verletzlichkeit der beiden Stimmen -Pérez Cruz oft mit ihren berühmten zitternden Schleifen, Sobral gerne in seiner typischen Falsett-Lage – ist die Hauptattraktion der Scheibe. Sie ist aber eingebettet in ein sagenhaft intimes Instrumental-Dekor: Marta Romas lyrischer Cello-Strich, Dario Barrosos unauffällige gitarristische Ausgestaltung mit kurzen romantischen Einwürfen und vielen Flageoletts, und die Banjo-, Mandolinen- und Lap Steel-Tupfer von Sebastiá Gris. Der ruhige, hymnische Schluss, fast wie eine wortlose Bruckner-Motette im Trio mit Marco Mezquidas Klavier gestaltet, gehört dem Mitgefühl mit dem Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung. Eine Platte, die ganz auf die Innigkeit zweier Stimmen gerichtet ist und die Zeiten überdauern wird.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral: „Ben Poca Cosa Tens“
Quelle: youtube

Timbres in der Turnhalle

Salvador Sobral
Stadthalle Waldshut
17.05.2025

Der Tatort: eine Turnhalle in Waldshut, die eigentlich „Stadthalle“ heißt. Der Akteur: ein ehemaliger ESC-Sieger, der unweit des aktuellen ESC singt. Die Musik: feinstes portugiesisches Songwriting, garniert mit gänzlich unerwarteten Deutsch-Pop-Momenten.

Nein, als Gegenveranstaltung zum Eurovision Song Contest in Basel war das Konzert von Salvador Sobral nicht geplant, auch wenn es de facto eine ist: Denn wo am Rheinknie die überdrehte Zombie-Show ihren Lauf mit geringstem musikalischem Ertrag nimmt, zelebriert ein Ex-Gewinner 50 Kilometer weiter östlich das, worum es wirklich gehen kann in der Musik: durchdachte Songs mit pfiffigen bis berührenden Texten, elaborierte Harmonie- und Rhythmuswechsel, ungezwungene Spielfreude. Das Äußere: Ist ihm egal, Salvador Sobral trägt ein schwer geknittertes Öko-T-Shirt.

Acht Jahre nach seinem Sieg beim ESC und einer Herztransplantation ist Sobral heute einer der erstaunlichsten jungen Songwriter Europas. Wie sich bei seinem Auftritt mit – überwiegend – dem Repertoire des aktuellen Werks Timbre zeigt, hat er nicht nur die portugiesische Musik vom Fado-Klischee befreit, sondern tummelt sich auch weltgewandt in der spanischen Klangwelt, im britpoppigen Flair und im französischen Chanson, macht sich alles zu eigen. Dass das Ambiente mit einer kargen, Basketballkorb-verzierten Mehrzweckhalle und einem spärlichen Publikum aus ungefähr dreihundert Menschen (Silbersee trifft junge Portugiesinnen) nicht gerade seinen sonstigen Abendveranstaltungen entspricht, ficht ihn nicht an. Er turnt unter Zirkuszelt-Leuchtketten übermütig über die Bühne und durch den Saal, kann kraftvolle Rock-Shouts raushauen, ergeht sich aber meist im feinziselierten, sehr intonationssicheren Falsett.


Und er hat eine feine Band mitgebracht, weitaus mehr als Begleitfunktionäre: Eva Fernández doppelt mit ihrer gedeckten Stimme seine Gesangslinien, agiert im Duett „Per La Mano De Tu Voz“ als berührender Kontrapart und edelt viele Songs mit ihren Sopransax-Soli. Am Flügel brilliert Lucía Fumero mit virtuosen, einfallsreichen Flanken, Bassist André Rosinha hält das Fundament nicht nur, sondern greift mit weiten Bocksprüngen aus, Gitarrist und André Santos zelebriert glühende Riff-Finesse an der E-Gitarre, greift für das Lied über den kleinen Vogel („Canta, Passarinho“) auch mal zur ukulelenartigen Braguinha.

Allein am Piano lässt Sobral nochmals seine ESC-Ballade „Amar Pelo Dois“, anders rhythmisiert, aufleben, dreht sich dann kurz mit verschmitzt-irrem Blick zum Publikum und singt tatsächlich seine Version von „Kein Schwein ruft mich an“, wobei er das „keine Sau“ natürlich wie „canção“ ausspricht. Und frönt seiner neuen Liebe für deutsches Liedgut nochmals auf der Zugabe-Strecke mit „Küssen verboten“ von den Prinzen. Doch das größere Highlight kam zuvor: Im intimen Schummerlicht bringt er – Mundtrompete inklusive – in Zwiesprache mit Santos eine fabelhafte Version des Jazzstandards „You’ve Changed“ zum Glänzen. Großer Abend an unerwartetem Ort.

© Stefan Franzen

 

Heiligkeit, Freiheit und Mut

Mit dem multinationalen Bandkollektiv Ayom kommt frischer Global Pop-Wind auf badische Bühnen. In ihren Sound fließen Farben aus Brasilien, Cabo Verde, Angola und dem mediterranen Raum ein.

Ist die Ära der großen, schillernden Supergroups der Weltmusik nicht längst vorbei? Die Tage jener Bands, die Zutaten verschiedener Erdteile mischen und daraus ein manchmal spritziges Gebräu, allzu oft aber auch eine saucenhafte Tunke kredenzen, schienen gezählt. Doch jetzt ist das Kollektiv Ayom auf den Plan getreten, mit Mitgliedern aus Brasilien, Spanien, Italien und Griechenland, mal von Barcelona, mal von Lissabon und Florenz aus wirkend – und sie gehören eindeutig der spritzigen, belebenden Seite an.

Lange war Barcelona Brutstätte einer Mestizo-Szene, die in den 1990ern und 2000ern mit Manu Chao oder den Ojos De Brujo wegweisende Klangmarken setzte, sich irgendwann aufgrund der Beliebigkeit ihrer Stilmélange aber totgelaufen hatte. Als Ayom, benannt nach der afro-brasilianischen Orixá-Gottheit der Musik, 2021 ihr Debütalbum veröffentlichten, weckte das weniger Erinnerungen an den wilden Mestizo-Sound von einst. Die Band versuchte vielmehr, einen spannenden Ansatz mit spiritueller Tiefe und ausgefuchsten transatlantischen Bezügen zu finden. Mit der süffigen Stimme der Brasilianerin Jabu Morales und dem omnipräsenten Akkordeon von Alberto Becucci im Zentrum dokumentierten die Songs des Erstlings eine Bandarbeit, die am zeitlosen afro-portugiesischen Klangidiom gewachsen ist, und nicht an zusammengestoppelter Mischkultur.

Jetzt vertieft das Sextett um Morales diese Klangphilosophie mit dem zweiten, im September erscheinenden Konzeptalbum SA.LI.VA., dem im Sommer eine Europa-Tournee vorausgeht. Auch auf dem Lörracher Stimmenfestival und dem Karlsruher Zeltival sind die Musiker zu erleben. „SA.LI.VA.“ steht für „sagrado, liberdade, valentia“ – die portugiesischen Worte für heilig, Freiheit und Mut. Jeder dieser Sphären ist ein Abschnitt auf dem Werk gewidmet, das außerdem vom Glauben an die Orixás getragen wird, den Gottheiten der afrobrasilianischen Candomblé-Rituale.

Stilistisch ist SA.LI.VA. überhaupt nicht zu fassen, zu vielgestalt sind die Einwebungen: Mit Streichern, Akkordeon und großartig sanfter Stimme wird zu Beginn die Obergottheit Oxalá angerufen, Farben der kapverdischen Melancholie sind hier hineingewirkt. Tänzelnd vereinen sich Pianotropfen, Samba-Percussion und lusitanische Gitarrentremoli in „Filhos Da Seca“. Rituell-hymnisch wird es in einer Ode an Oxum, der Göttin der Schönheit und Liebe. Und flugs geht es für die Einleitung des festiven „Freiheits“-Abschnitts in den Nordosten Brasiliens, von wo die fröhlichen, flinken Rhythmen des Karnevals in „Eu Quero Mais“ hineinfließen, inklusive opulentem Blechblasapparat. Bereichert wird dieses große Netzwerk der Sounds durch Gäste: In „Kikola N’goma“ feiert der Angolaner Paulo Flores die transatlantischen Verbindungen mit einem Paket tropischem Gitarren-Swing. Die größte Überraschung kommt im Finale auf unsere Ohren zu: „Io Sono Il Vento“, ein italienischer Fünfzigersong mit viel mediterranem Schmelz, singt Jabu Morales im herzerweichenden Duett mit dem portugiesischen Star Salvador Sobral.

Selten offenbarte sich in der globalen Musik während der letzten Jahre eine solche durchdachte, aufregende und tiefsinnige Vielfalt. Auf die Bühnenumsetzung kann man nur gespannt sein.

© Stefan Franzen

Platte:
„SA.LI.VA“ (Ayom/Believe, VÖ: 13.09.)

live:
Rosenfelspark Lörrach (Stimmenfestival), 18.7.
Zeltival Karlsruhe, 24.7.

AYOM: „Oxalá, Promessa Do Migrante“
Quelle: youtube

 

Listenreich II: 23 Alben für 2023

Aron & The Jeri Jeri Band (Neuseeland/Senegal): Dama Bëgga Ñibi (Urban Trout Records/Indigo)
Balimaya Project (UK): When The Dust Settles (New Soil)
Bixiga 70 (Brasilien): Vapor (Glitterbeat/Indigo)
Adriana Calcanhotto (Brasilien): Errante (Modern/BMG)
Sarah Chaksad Large Ensemble (Schweiz): Together (Clap Your Hands)
Joy Denalane (Deutschland): Willpower (Four Music)
Carla Fuchs (Deutschland): Songbird (Talking Elephant)
Gurdjieff Ensemble (Armenien): Zartir (ECM)
Yumi Ito (Schweiz): Ysla (enja records Yellow Bird)
Petros Klampanis (Griechenland/USA): Tora Collective (enja)
Baaba Maal (Senegal): Being (Atelier Live)
Maro (Portugal): Hortelã (Secca Records)
Masaa (Deutschland/Libanon): Beit (Traumton/Indigo)
Marco Mezquida (Menorca): Tornado (Galileo)
Bänz Oester & The Rainmakers (Schweiz/Südafrika): Gratitude (enja)
Sílvia Pérez Cruz (Katalonien) Toda La Vida, Un Dia (Sony)
Golnar Shahyar (Iran/Österreich): Tear Drop (Klaeng Records)
Slowfox 5 (Deutschland): Atlas (rent a dog/AL!VE)
Salvador Sobral (Portugal): Timbre (Warner)
Faraj Suleiman (Palästina): As Far As It Takes (Two Gentlemen)
Dudu Tassa & Jonny Greenwood (Israel/UK): Jarak Qaribak (World Circuit/BMG)
West Trainz (Kanada): Rail Nomads (L-Abe)
Adrian Younge & Tony Allen: (USA/Nigeria): Jazz Is Dead 18 (International Anthem)

 

 

Intimer Ozean von Stimmen

Sílvia Pérez Cruz
Toda La Vida, Un Día
(Universal Spain)

live: Teatro Municipal Girona, Katalonien
21.04.2023

Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.

Sílvia Pérez Cruz: „Sin“
Quelle: youtube

In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.


Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.

Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Planetas I Orenetes“
Quelle: youtube

 

Aufflug III: Sílvia Pérez Cruz


Ebenfalls im Frühjahr erscheint ein neues Album der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz, die ich nach wie vor für eine der ganz großen Stimmen auf unserem Planeten halte. Heute hat Sílvia eine erste Tür für dieses Album geöffnet, für das Video hat sie zusammen mit dem portugiesischen Songwriter Salvador Sobral gearbeitet.

Und gleichzeitig hat sie ein wunderbares Weihnachtslied geschrieben, das ich heute zum Dreikönigstag teile, der in Spanien viel größer gefeiert wird als hier.

Sílvia Pérez Cruz: „Cançó De Nadal“
Quelle: youtube