Auf bislang nicht oft erkundetem Terrain finden wir Natacha Atlas mit ihrem neuen Werk: Strange Days ist das mit Abstand jazzigste Werk der Weltbürgerin mit ägyptischen Wurzeln. Umgeben von einer Band, in der der obertonverliebte ägyptische Geiger und Song-Mitautor Samy Bishai genauso zu finden ist wie Londons erste Jazzriege (Pianistin Alcyona Mick und Bassist Andy Hamill unter ihnen) überrascht es durchgängig, wie mühelos sie ihre Vokalmäander in die ausladenden improvisatorischen Gebilde einfügt. Auflockernd wirkt eine tänzelnde Bossaminiatur („Sunshine Day“), und mit „Words of A King“ betritt sie auch mal das Reich des süffigen R&B. Mit großem Streichorchester dagegen wird James Browns „It’s A Man’s World“ als nokturne Ballade inszeniert, bevor der umwerfende finale Edelstein „Moonchild“ mit fantastisch herbstlicher Bläsertextur aufwartet. Ohne Zweifel: Natacha Atlas‘ größter Wurf überhaupt.
Die Trompeterin Yazz Ahmed ist eine der spannendsten Persönlichkeiten der quirligen Londoner Jazzszene. In ihren komplexen Suiten kombiniert sie die Traditionen ihres Herkunftslandes Bahrain mit Jazzimprovisationen. Auf ihrem neuen Album Polyhymnia ehrt sie herausragende Frauen – auch aus der muslimischen Kultur.
„Als ich ein Kind war, war mir gar nicht bewusst, wie wenig Mädchen Trompete spielen“, sagt Yazz Ahmed, die durch ihren Großvater, den Jazztrompeter Terry Brown zum Instrument kam. „Es war schwierig, irgendwelche Vorbilder zu finden. Doch heute gibt es etliche Kolleginnen und keine Vorurteile mehr, und die männlichen Mitmusiker haben sich daran gewöhnt. Es fühlt sich nicht mehr sonderbar an, ‚the girl with the trumpet‘ zu sein!“
Trotzdem ist Vieles ungewöhnlich und überraschend an dieser Frau: Ahmed wuchs im Golfstaat Bahrain auf, mit neun Jahren kam sie nach Großbritannien, wo sie ihre musikalische Ausbildung begann. Seit sie 2011 ihr Debüt veröffentlichte, ist der London-Jazz um eine aufregende Facette reicher, denn Ahmed überschreitet Genregrenzen. Mit den Worldbeat-Pionieren von Transglobal Underground, mit den Indierock-Stars Radiohead und Joan As A Policewoman erprobte sie sich, Klassikhörer überraschte sie durch ihr Arrangement von Gustav Holsts „The Planets“. In ihre eigenen Bandprojekten bezieht sie das Erbe ihrer arabischen Vorfahren mit ein: „Über Bahrains Kultur weiß man nicht viel in Europa“, sagt sie. „Es gab dort die Tradition des Perlenfischens, und wenn die Taucher von zuhause weg waren, dann sangen sie draußen auf dem Golf Lieder über ihr Heimweh, auch, um sich gegenseitig bei der Arbeit zu motivieren. Lieder darüber, dass sie möglicherweise reich zurückkehren würden, oder eben mit leeren Händen. Außerdem gibt es traditionelle Lieder, die Trommelgruppen von Frauen bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten singen. Diese Musik ist sehr perkussiv, rhythmisch, das Singen gleicht einer Beschwörung.“
Yazz Ahmed lernte diese Musik auf Reisen in ihr Herkunftsland kennen, und baute ihre Wurzeln atmosphärisch in ihre komplexen Kompositionen ein. Sie haben oft den Charakter von verschlungenen Suiten. Neben der Trompete spielt sie ein wunderbar weiches, sangliches Flügelhorn, und hier kann sie mit einer Neuerung aufwarten: Während die Viertelton-Trompete vom Algerier Bellemou Messaoud bereits in den 1960ern erfunden wurde und der Libanese Ibrahim Maalouf diese Tradition weiterführt, dürfte sie wohl die Erste sein, die diese Technik auch auf das verwandte Instrument übertragen hat, um die typisch arabischen Intervallschritte abbilden zu können. „Mit meinem Instrumentenbauer habe ich lange herumgebastelt, und das erste Flügelhorn hat auch gar nicht funktioniert. Danach hat er es verfeinert und perfektioniert, und endlich hat er es geschafft. Ich spiele das Viertelton-Flügelhorn nicht oft, aber wenn ich es tue, ist es eine Freude, diese Noten zu kreieren, die man auf einem westlichen Instrument niemals herausbringen würde!“
Heute sieht sich Yazz Ahmed als typisches Kind der Londoner Szene: „Offen, aufnahmebereit und experimentierfreudig“, so ihre eigene Einschätzung. Auf ihrem aktuellen Werk Polyhymnia geht der Fokus etwas weg vom arabisch getönten Sound: „Die Namensgeberin ist eine griechische Muse, ihr Name bedeutet ‚viele Hymnen‘, und die Stücke sind ja tatsächlich auch Preislieder, Hymnen auf herausragende Frauengestalten“, erläutert Ahmed. Ihre sechs ausgefeilten Kompositionen hat sie etwa der saudi-arabischen Filmemacherin Haifaa Al-Mansour („Das Mädchen Wadjda“) oder der von den Taliban verunstalteten pakistanischen Frauenrechtlerin Malala Yousafzai zugeeignet, aber auch den Civil Rights-Frauen Ruby Bridges und Rosa Parks, den Suffragetten und der Saxophonistin Barbara Thompson. „Sie alle sind für mich sehr kraftvolle, inspirierende Menschen“, sagt Ahmed. „Und es ist schon eine Herausforderung, in so viele verschiedene Charaktere hineinzuschlüpfen, sich in das hineinzuversetzen, was diese Frauen teilweise durchmachen mussten.“
Für die Besetzung wählte sie eine ebenfalls von vielen Frauen der Londoner Szene getragene Bigband, und sie entwirft mit ihnen eine couragierte, weibliche Dramaturgie. Junge Prominenz wie Saxophonistin Nubya Garcia und Trompetenkollegin Sheila Maurice-Grey von Kokoroko ist unter den Mitgliedern dieser großen musikalischen Familie. Ahmed selbst glänzt wiederum vor allem auf dem Flügelhorn in Solopassagen. „Es ist wirklich eine große Gruppe“, gibt sie zu, „und ich denke diese Tatsache spiegelt sich in einer durchweg hymnischen Stimmung. Das Album fühlt sich ‚chunky‘ an!“ Was mit dem deutschen Wort „fett“ nur halb so schön klingt.
Musikalisch geht es sehr divers zu. Die Widmung an Ruby Bridges, 1960 das erste schwarze Schulmädchen an einer zuvor weißen Schule in New Orleans, beginnt sie mit einem Funk-Groove, der dann mit harschen, dissonanten Tönen des Orchesters konfrontiert wird – ein musikalisches Spiegelbild der rassistischen Anfeindungen, denen Ruby auf dem Schulweg ausgesetzt war. In „One Girl Among Many“ bedient sie sich auch der menschlichen Stimme, um die eindrucksvollen Reden von Malala Yousafzai in Töne zu fassen. Auf verschlungenen Wegen über arabische Skalen und Jazzharmonien findet „Deeds Not Words“, das Stück zu Ehren der Sufragetten, seinen Weg schließlich zu einer triumphalen Metamorphose von „Shoulder To Shoulder“, dem Erkennungssong der Frauenbewegung aus jener Zeit.
Für ihre Verbeugung vor Rosa Parks griff sie gar auf eine Zwölftonreihe zurück, die ihre Bigband aber nicht als abstrakte Spielerei durchexerziert, sondern mit emotionalem Gehalt füllt. Und „Lahan Al-Mansour“ spielt mit den Melodien der arabischen Halbinsel, um die mutige Filmemacherin Haifaa Al-Mansour zu porträtieren. „Es gibt nicht viele Frauen in der Golfregion, die global so erfolgreich sind und öffentlich ihre Haltung bekunden“, so die Einschätzung von Yazz Ahmed. „Auch aus Bahrain kenne ich keine anderen Musikerinnen, und ich hoffe, dass ich junge Bahrainis inspirieren kann, ebenfalls zur Musik zu finden.“ Yazz Ahmeds nächstes Album, so lässt sich schon jetzt durchblicken, wird sich ausschließlich mit den Traditionen ihrer arabischen Heimat beschäftigen.
Heute wird dieser Blog fünf Jahre jung. Ich möchte das nachdenklich feiern – mit einem Thema, das nur auf den ersten Eindruck weit weg sein mag, aber uns alle angeht. Es geht um Musiker, deren Heimat auf der anderen Seite des Planeten liegt: Sie kommen aus Rapa Nui, Aotearoa, Taiwan, den Salomonen, Sarawak, Madagaskar und vielen weiteren Inselgebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans. In einem weitverzweigten Projekt zeigen uns diese 50 Musiker*innen die Stärke der austronesischen Kultur und die Verletzlichkeit der Weltmeere und des Regenwalds. Small Island Big Song ist nicht nur eine bunte exotische Show. Es ist ein letzter Appell an uns alle.
„Manche sagen, der Ozean trennt uns. Wir sagen: Der Ozean vereint uns.“ So steht es auf der Leinwand des Rudolstädter Theaters, auf der Clips aus dem Pazifischen und Indischen Ozean laufen. Eine Reise durch Inseln und Riffe, durch den Regenwald, entlang von Flüssen, Reisfeldern und in Dörfer der Ureinwohner, durch die Habitate von Leguanen und Lemuren. Davor, auf der Bühne, ein verwirrend vielschichtiges Geschehen: Neun Musiker in leuchtend bunten Kleidern, mit großartigem Kopfschmuck und Körperbemalung vereinen sich zu kraftgeladenen, mal archaisch beschwörenden, mal fast poppigen Chorgesängen. Doch da sind auch zarte Elemente, Mondlieder, Lullabies, das Hauchen von Nasenflöten. Eine Vielzahl an Schlaginstrumenten, Muschelhörnern, Pan Pipes, Schwirrhölzern, Zithern und Lauten kommt zum Einsatz, untermalt wird die Musik von Natursounds, Vogelgesang, dem Gluckern von Wasserläufen, und immer wieder: dem Tosen der Wellen. Doch der Ozean ruckelt. Via Laptop eingespielt vom australischen Musikproduzenten Tim Cole setzt das Brausen immer wieder für Sekundenbruchteile aus, als wolle sich dieser gewaltige Sound mit keiner noch so großen Rechnerleistung einfangen lassen. Und irgendwie ist das auch ein unfreiwilliges Symbol dafür, dass mit unseren Weltmeeren etwas nicht stimmt.
Was sich hier beim Rudolstadt Festival abspielt, ist eine genauso eindrückliche wie friedliche Machtdemonstration einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Es ist zugleich die mit dem größten Territorium überhaupt und mit der sechstgrößten Sprachfamilie der Erde. „Small Island Big Song“, kurz SIBS, nennt sich das Projekt, in dem Cole und seine taiwanesische Frau, die Projektmanagerin BaoBao Chen indigene Musiker aus Rapa Nui (Osterinsel), Aotearoa (Neuseeland), den Salomonen, Taiwan, Sarawak (Nordborneo), Madagaskar und vielen weiteren Inseln zusammenbringen. „Es ist faszinierend, dass vor 5000 Jahren, also vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden, eine Gruppe von Menschen die Technologie, Navigationskunst und den Mut besaß, von Taiwan aufs offene Meer hinauszufahren“, sagt Cole. „Für sie muss das gewesen sein wie für uns heute eine Reise zum Mars.“ Die austronesische Kultur – zu ihr zählen unter anderem Poly-, Mela- und Mikronesien – hat sich bis 1100 nach Christus immer weiter im ganzen Pazifik und Indik verbreitet, von den Philippinen über Malaysia nach Madagaskar, von Fidji über Tahiti bis nach Hawaii und Rapa Nui, zuletzt nach Neuseeland – über 22.000 Kilometer. Das Drehbuch ihrer Geschichte schrieb also gewissermaßen der Ozean selbst.
Zumindest den Älteren von uns hat man im Schulunterricht beigebracht, dass der portugiesische Entdecker Fernando Magellan, dessen Erdumsegelung sich gerade zum 500. Mal jährt, als Erster den pazifischen Raum durchmessen hat. Es ist längst überfällig, diese eurozentrische Perspektive über Bord zu werfen. „Noch heute haben wir überall ähnliche Wörter für die Zahlen“, sagt Charles Maimarosia, der den Are’Are von der Salomoneninsel Malaita angehört. Der Sänger und Spieler von Pan Pipes und mannshoher, getrommelter Bambusrohre, ist zum Interview im Heinepark mitgekommen. Eben noch mit muschelbesetztem Outfit auf der Bühne des Kinderfestes, fröstelt er jetzt mit Pullover und Baseballkappe im kühlen Sommerwind. „Auch die Wörter für andere, täglich verwendete Begriffe wie ‚Augen‘ (‚mata‘) sind überall gleich. Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten. Und die Musik ist Teil der Menschheit, seit sie existiert.“ Die Vielfalt in der Gemeinsamkeit zu feiern: Das ist die Philosophie des Projekts Small Island Big Song. Doch die koordinierende Kraft dafür kam wie so oft bei Weltmusikprojekten nicht von den Indigenen selbst.
Niedergeschlagen von den Berichten darüber, wie sich Erderhitzung und Plastikvermüllung auf die Ozeane auswirken, beschlossen BaoBao Chen und Tim Cole vor vier Jahren, ihre Organisationstalente zu nutzen und auf die düsteren Zukunftsaussichten mit einer kulturellen Gegenkraft zu antworten. „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu“, sagt Chen. „Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ Immer wieder fällt im Interview ein Wort, das für die Austronesier zentral ist: „Mana“ kann man als Verantwortung, aber auch als Integrität, Anerkennung übersetzen. „Wir wollten, dass so viel Mana wie möglich in unserem Projekt ist“, sagt Cole. „Deshalb haben wir Künstler ausgewählt, die auf ihrer jeweiligen Insel als Wächter der Kultur gelten, und sie gebeten, einen Song in ihrer Umgebung, draußen in der Natur einzuspielen und dann mit den anderen zu teilen.“
Von den vielen Beteiligten, allesamt ganz verschiedene starke Persönlichkeiten, können wir hier leider nur einige herausgreifen: Ganz zentral ist etwa eine der drei taiwanesischen Musikerinnen und Musiker, SiaoChun Tai. Sie ist Paiwan, eines von sechzehn auf Taiwan lebenden indigenen Völker, die zum Teil immer noch um ihre Anerkennung von offizieller Regierungsseite kämpfen. „Paiwan sind gewöhnlich eher introvertiert“, sagt sie, „daher sind unsere Lieder auch eher statisch, und wir verwenden eine Menge Metaphern in den Texten. Wenn wir zum Beispiel einen hübschen und talentierten Mann preisen wollen, tun wir das mit der Umschreibung ‚erstklassige Zypresse‘, eine solche Frau würde ‚bunter Schnellkäfer‘ genannt werden. Selbst in Liebesliedern stellen wir also einen Bezug zur Natur her.“
Small Island Big Song feat. Siao Chun Tai: „Senasenai A Mapuljat“
Quelle: youtube
Es gehört zu den ergreifendsten Momenten einer Small Island Big Song-Show, wenn SiaoChun Tai mit ihrer dunklen Stimme ihr Lied „Senasenai A Mapuljat“ anstimmt, im begleitenden Video dazu schaut sie bei Mondschein auf den Ozean hinaus, singt von der Verwandtschaft der austronesischen Völker, deren Vorfahren einst an diesem Strand aufbrachen. Eine Verwandtschaft, die auch heute noch auf Taiwan gespürt wird: Als Charles Maimarosia vor zwanzig Jahren mit seiner Bamboo-Band nach Taiwan kam, vergaß die Gruppe dort eines ihrer Bambusinstrumente. Die Einheimischen kannten solche Instrumente noch von alten Fotos, sie waren bis vor kurzem dort auch noch beheimatet, aber das Wissen um die Fertigung und ums Spiel war bereits abhandengekommen. Dank dieses einen Instruments konnte die Tradition wiederbelebt werden, und heute gibt es bereits einen ganzen Park zu Ehren der „Bamboos“ an der Ostküste.
Instrumentenkunde ist neben dem omnipräsenten Naturbezug ein spannendes Kapitel in den austronesischen Verflechtungen, und wir finden sie auch bei der SIBS-Musikerin Alena Murang aus Sarawak, dem malaiischen Teil Borneos. Die aussterbende Pagang, die in ihrem Kelabit-Dorf noch gespielt wird, ist eine frühe Verwandte der madagassischen Röhrenzither Valiha, die Sammy Samoela in der Band virtuos einbringt. Murangs Hauptinstrument ist aber die Sape, eine bootsförmige Laute, die bis zur Christianisierung bei Heilungszeremonien verwendet wurde und einen zärtlichen, beruhigenden Klang hat. Mit der Sape sorgt sie für eine bewegende Facette bei SIBS, wenn sie zu Ehren des Flusses, an dem sie geboren wurde, das Stück „Pemung Jae“ anstimmt. Alena Murang bezeichnet sich als „kulturelle Aktivistin“ und steht zwischen den Welten: Ihr Vater ist Kelabit, ihre Mutter eine anglo-italienische Ethnologin, und sie selbst versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und Bildender Kunst.
„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, mit den Alten zusammenzusitzen, ihr Vertrauen zu gewinnen und einfach zuzuhören, was sie mir weitergeben wollen. Seit der Generation meiner Großeltern haben wir gewaltige Veränderungen durchgemacht, etwa was die Glaubenswelt und den Übergang vom Dorf- zum Stadtleben betrifft.“ Murang lebt zwar in Kuala Lumpur, kehrt aber zur Reisernte, die bei den Kelabit als heilig gilt, in ihr Dorf zurück, oder auch, um neue Lieder zu lernen, die sie in die Arbeit mit SIBS einbringt. Hoffnung macht ihr, dass junge Indigene nun auch auf Borneo anfangen, wie zuvor schon in Kanada oder Neuseeland, Fragen nach ihrer wahren Geschichte stellen und diese aufarbeiten. Die Natur ist dabei ganz zentral: „Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen“, so Murang, die sich auch für den Schutz der Ozeane einsetzt, „dann betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“ Eine Erkenntnis, die sich schnell durchsetzen muss: Drei Viertel des Regenwaldes von Sarawak, der älteste der Erde, sind von Abholzung bedroht oder bereits vernichtet.
Wohin unkontrolliertes Fällen von Bäumen führt, dafür gibt es im Pazifik ein historisches Beispiel: Zum Kanubau und Ofenbefeuern haben die Bewohner in früheren Jahrhunderten die einst dicht bewaldete Osterinsel (Rapa Nui) komplett gerodet. Nach der landschaftlichen Verödung sind die mythischen Moa-Statuen heute das Pfund, mit dem das Eiland wuchert. Yoyo Tuki ist der einzige Musiker der knapp 6000 Einwohner zählenden Insel, der seine Botschaft von der Erhaltung der Inselkultur um die Welt trägt, die schon lange mit Pop flirtet. So ist Tuki der „Hit-Maker“ von SIBS: Mit „Ka Va‘Ai Mai Koe“ hat er der All Star-Band einen Ohrwurm im Reggae-Gewand geliefert. „Wie überall im Pazifik ist Reggae auch auf Rapa Nui sehr beliebt, und ich sehe mich als zeitgenössischen Songwriter, der solche Einflüsse auch miteinbezieht.“
Small Island Big Song feat. Yoyo Tuki: „Ka Va‘ ai Mai Koe“
Quelle: youtube
Tukis Transportmittel dafür sind eine Ukulele und eine charismatische Stimme, die auf der Bühne vor allem im Trio mit Charles Maimarosias Bambus-Bass und dem berühmten Einschüchterungstanz Haka des Maori-Sängers Jerome Kavanagh eine virile Wechselwirkung entfaltet. Seine Texte sind von der Lebenserfahrung der Rapa Nui-Community geprägt, die auch heute wieder mit Umweltproblemen zu kämpfen hat: „Wir leiden zwar nicht unter dem steigenden Meeresspiegel wie andere Pazifikinseln, aber es wird eine unglaubliche Menge Müll aus Asien, Amerika und Europa an unsere Küsten gespült. Wir müssen die einsammeln und auf Schiffen nach Chile zurückschicken. Fische und Schildkröten konsumieren das Plastik und verenden daran.“ Die unkontrollierte Einfuhr von Autos und die Flut an Touristen, die die berühmten Moa-Statuen anschauen wollen, sind weitere Probleme: Gerade die Erlebnisreisenden zerstören den unberührten Charakter von Rapa Nui. „Meine Rolle ist es, die junge Generation weltweit zu erreichen“, sagt Yoyo Tuki, „ihnen von unserer Identität und den Werten zu erzählen, die durch die moderne Lebensweise weggefegt wird.“
Auch auf der CD von Small Island Big Song ist die Natur stets präsent. 18 Stücke wurden schon vor den ersten Livekonzerten von Tim Cole zu regelrechten Mosaiken zusammengefügt, mit insgesamt 50 Musikern, die nicht alle Teil der Shows sein können. „Es war fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, in welche Reihenfolge wir die Songs bringen sollten“, erinnert sich Cole. „Letztendlich haben uns die Naturgeräusche, die wir immer mit aufgenommen haben und die wie ein weiterer Musiker wirken, die Entscheidung abgenommen: Erst kommen Stücke, die im Regenwald angesiedelt sind, dann sind die Wassersounds in den Mangroven und an Flüssen Thema, schließlich geht es zum Ozean.“ Zu jedem Track gibt es außerdem einen Film, die allesamt online zu sehen sind. Dort antwortet etwa die taiwanesische Sängerin Ado Kaliting Pacidal nach einem Taifun am Strand auf eine Röhrenzither aus Madagaskar. Charles Maimarosias Bambus-Instrumente fanden ihren Widerhall bei einer Band auf der Insel Bougainville und wurden mit Wasserpercussion von Frauen aus Vanuatu gepaart. Und der Rapper Sandro aus dem madagassischen Volk der Vezo vereinigt sich in „Gasikara“ mit seinem Kollegen Mau Power von den Torres Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea zu einer Klage über das Verschwinden von Korallenriffen.
Ein Problem des ganzen ozeanischen Raumes: Charles Maimarosia ist es, der zum Ende des Interviews als unmittelbar Betroffener von der Klimakatastrophe einen Einblick in seinen Alltag gibt: „Auf der Salomonen-Insel Guadacanal sind die Korallen seit einigen Jahren bleich, es ist kein Leben mehr in ihnen, der Laichraum für die kleinen Fische ist zerstört. Außerdem beobachten wir, dass das Wasser jedes Jahr steigt, es hat das Grasland überflutet, wo früher unsere Hütten standen. Wir können nirgendwo anders hin, Papiere für andere Staaten bekommen wir nicht. Irgendwann wird es zur Überbevölkerung kommen, wir müssen unsere Zukunft mit großem Bedacht planen.“
Die Austronesier haben über Jahrtausende stets im Einklang und in Nachhaltigkeit mit der sie umgebenden Natur gelebt. Mit der internationalen Arbeit von SIBS geht jetzt ein bereits altbekanntes Dilemma der Globalisierung einher: Um die riesigen Distanzen zu überbrücken und im Teamwork ihre Botschaft um die Welt tragen zu können, muss der Musikertross etliche Langstreckenflüge absolvieren. Trotzdem werden das „Peanuts“ sein im Vergleich zum Schaden, den der Westen in ihren Regionen anrichtet. Letztendlich sind wir es, die darüber entscheiden, ob dieses kulturelle Netzwerk überleben oder an unserem Wohlstand zugrunde gehen wird – mit jeder Kreuzfahrt, jedem Flug und jedem Stück Plastikmüll.
dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 5/2019
Es passiert nicht selten, dass nach dem Tod eines Musikers plötzlich „unentdeckte“ Aufnahmen auf den Markt geworfen werden, um noch ein bisschen Geld aus seinem Ableben zu pressen. Bei dem im September 2018 verstorbenen Rachid Taha liegt der Fall anders: „Je Suis Africain“ (Naïve/Soulfood) hat der algerische Haudegen, der Rai, Châabi, Rock und Techno wie kein anderer vor ihm kombinierte, kurz vor seinem Ableben fertiggestellt, es wäre ohnehin als sein elftes reguläres Album erschienen. Doch jetzt werden die mit Toma Feterman, Kopf der Combo La Caravane Passe geschriebenen Arabo-Chansons zu seinem Vermächtnis. Taha knüpft an den Sound seines Albums „Diwan“ an, ehrt oftmals den Sound der duftenden algerischen Popmusik von einst, den Châabi. Mit reichen Ornamenten schluchzt das Geigenorchester in „Ansit“, machtvoll brausen die ruppigen Chorgesänge in den Refrains.
Für schmachtende weibliche Vokalakzente sorgt die Genferin Flèche Love im grandiosen „Wahdi“, „Insomnia“ hört sich mit Banjo, Trompete und gepfiffener Melodei fast wie ein arabischer Spaghettiwestern an, während in „Like A Dervish“ der Gnawa-Bass dröhnt. An seine besten Technopunk-Zeiten erinnert der Algerier in „Andy Waloo“, ehrt die Helden der Nouvelle Vague und der Pop Art. Und ein Bekenntnis des Maghrebiners zum ganzen Kontinent steckt im Titelstück: Hier verbinden sich Talking Drum, Soukouss-Gitarren und melismatische Streicher zu einer Hommage an den ganzen Erdteil.
Eldbjørg Hemsing & argovia philharmonic Musik- und Kongresshaus Aarau, 22.09.2019
Der Name Edvard Grieg überstrahlt in der internationalen Konzertliteratur bis heute alle seine norwegischen Kollegen. Ohne Zweifel liegt dies auch am stets präsenten nordischen Kolorit, das naturgemäß starke Wirkung auf ausländische Hörer ausübt. Eher den Spuren Wagners und der italienischen Oper dagegen folgte Griegs rund zwanzig Jahre jüngerer Landsmann Hjalmar Borgstrøm: Er hat nicht so sehr den Bonus des exotischen Klangreizes. Ihn weltweit bekannt zu machen, ist das Ziel der jungen Geigerin Eldbjørg Hemsing, seit sie sein Violinkonzert aus dem Jahre 1914 entdeckt hat, ein einziges Mal war es zuvor öffentlich gespielt worden. Am Sonntag erlebte nun unter dem Motto „Wiederentdeckt“ Aarau die Schweizer Erstaufführung des Werkes – in einem grandiosen Auftakt zur neuen Saison der argovia philharmonic ohne festen Dirigenten.
Dass Hemsing dieses Stück, ja, ihr Instrument innig liebt, kann schon in den Anfangstakten niemandem im Publikum verborgen bleiben. Mitten ins Geschehen wirft Borgstrøm die Hörer, denn das Allegro beginnt mit einer solistischen Kadenz, aus der sich ein überbordender Gesang herauslöst. Hemsing gestaltet diesen Anfang genauso souverän wie voller Süße, die kurzen Dialoge mit dem Orchester geraten äußerst wach, da Gastdirigent Leo McFall für eine pointierte Verzahnung sorgt. Und dann das Hauptthema: Eigentlich besteht es nur aus zwei Seufzern, die Hemsing aber mit schmerzlich intensiver Melancholie auskostet, untermalt durch gedeckte, nordische Orchesterharmonien, die nicht so sehr an Grieg wie an Sibelius erinnern. In der anknüpfenden Doppelgriffpassage leuchten die Farben der Hardangerfiedel, Norwegens bordunreiches Nationalinstrument hervor, die die Solistin glaubhaft verkörpert, sie ist auch in der Volksmusik erfahren.
Ganz anders das Adagio: keine Farben skandinavischer Kühle, hier herrscht gleißende mediterrane Sonne. Fast wie eine Opernarie à la Puccini mutet die Dramaturgie an, und Hemsing lässt die Violine mit schier endlosem Atem singen. Ihr Timbre ist immer ausgewogen, in den Tiefen nie zu dick, in den Höhen nie zu spitz, dabei lässt Borgstrøm den Tonraum so emporstreben, dass er ihn durch künstliches Flageolett erweitern muss. Atemberaubend der nahtlose Übergang in den Schluss-Satz: Ein übermütiges, über die Saiten wippendes Thema lässt an norwegische Tänze wie den Springar denken, und hier kann Hemsing mit rauschender Virtuosität glänzen.
Volksmusikanklänge auch im Eröffnungsstück des Abends: Die „Chilbizite“ des – ebenso wiederentdeckten – Aargauer Komponisten Werner Wehrli will „nur“ einen Jahrmarkt porträtieren, vereint aber Heiter-Festliches, Heroisches im Stil von Richard Strauss und romantische Idylle. Kecke Klarinetteneinwürfe und schönen Oboengesang mit dramatischen Tutti, und dann noch mit einem Überraschungsauftritt eines Akkordeons in ein homogenes Klangbild zu packen: Der Engländer Leo McFall schafft das mit viel Herzblut.
Was für ein Glücksfall seine Verpflichtung ist, zeigte sich auch an seiner Lesart von Franz Schuberts „großer“ Symphonie Nr.8: Den „dicken Roman in vier Bänden“ (Zitat Robert Schumann) gestaltet McFall als spannenden „Pageturner“: Vom zügig genommenen Einstieg mit der berühmten Hornmelodie gelingt ihm eine überzeugende Bündelung des Orchesters ins punktierte Thema hinein, in dynamischen Wellen lässt er die Durchführung strömen. Wenn er im langsamen Satz das Marschartige fast etwas übertrieben herausmeisselt, hat der dissonante Abbruch und die Generalpause einen umso atemberaubenderen Effekt. Vor dem geradezu rasant swingenden Finale schafft das Orchester mit dem Scherzo sein Glanzstück: Wie ein Motor rattert das wuchtige Ländlerthema, während im Trio-Teil, die Holzbläser – über die ganzen vier Sätze feinsinnig agierend – wonnige Walzer-Ländlichkeit verströmen. Ein fulminanter Abend zwischen Romantik und Rückbezügen auf die Volkskultur.
Mit dieser schönen Stadt habe ich in den letzten 30 Jahren viel gehadert. Heute nicht. Was die Leute meiner Generation nicht geschafft haben, schafft jetzt die nächste: Mehr als 20.000 vor allem junge Menschen und ältere Unterstützer*innen haben sich heute dem von Fridays for Future initiierten Klimastreik angeschlossen und friedlich, fantasievoll und lautstark gegen die „Zukunftspolitik“ der Regierung protestiert. Es war die größte Demonstration in der Stadt nach 1945.
Was dagegen im Bundeskanzleramt nach nächtelangem Verhandeln als sogenanntes „Klimapaket“ herauskam, ist eine Bankrotterklärung. Ein Zukreuze-Kriechen vor Wachstum und Marktwirtschaft, vor Autoindustrie und Wohlstandsgesellschaft. Man könnte auch sagen: Sie, deren Namen zu nennen hier reine Platzverschwendung wäre, bringen diese jungen Menschen langsam, aber sicher um. Schande über die Entscheidungsträger. Die vielen umweltengagierten Schüler, sie werden einen langen Atem brauchen. Das kann man ihnen nur aus vollem Herzen wünschen, und sie durch Präsenz auch in den kommenden Demos unterstützen.
Kate Bush: „The Sensual World“ (aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)
Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.
„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.
Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.
Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.
SWR2 Musikstunde
„Magellan und das Zeitalter der Navigatoren“
Eine musikalische Seereise um die Welt 16. – 20.09.2019, jeweils 09:05 – 10:00
von Stefan Franzen
Am 20. September 1519 stach der Portugiese Fernão de Magalhães für das bisher größte Abenteuer der Navigatoren in See: Von Sevilla aus fand er eine Passage durch die Spitze des südamerikanischen Kontinents und überquerte als erster Europäer den Pazifik. Nach seinem Tod auf den Philippinen vollendete der Rest seiner Mannschaft die erste Weltumsegelung.
Zum 500. Jahrestag von Magellans Aufbruch zeichne ich den Seeweg der Portugiesen und Spanier mit Musik aus fünf Jahrhunderten, aus allen Kontinenten und Genres, von Klassik über Jazz bis zu den jeweiligen Volkskulturen, aus heutiger Sicht kritisch nach. Eine abenteuerliche Reise hinein in eines der spannendsten Kapitel der Menschheitsgeschichte: von den Erkundungen zu Zeiten Heinrich des Seefahrers entlang der afrikanischen Küste über die Erschließung des Seeweges nach Indien durch Vasco da Gama und die transatlantischen Fahrten des Christoph Columbus – bis hin zu Magellans dramatischer, dreijähriger Umrundung des Globus.
Mo, 16.9. – 1. Heinrich der Seefahrer und Portugals Aufbruch Di, 17.9. – 2. Der Weg nach Indien und Amerika Mi, 18.9. – 3. Der Traum vom Gewürzparadies Do, 19.9. – 4. Der Durchbruch ins Südmeer Fr, 20.9. – 5. Irrfahrt zu den Molukken
Die Marokkanerin Oum El Ghait Benessahraoui ist eine Vorkämpferin für die moderne arabische Frau in der Musik – diesen Anspruch untermauert sie mit ihrem dritten Werk. Die Vorzeichen sind ein wenig anders als auf den ersten beiden Alben. Als Aufnahmeort hat sie sich die Berliner Jazzanova-Studios auserkoren, wo eine andere starke Persönlichkeit der frauenbewegten arabischen Szene, Kamilya Jubran, ihre künstlerische Leiterin war. Durch diese Konstellation hat Oums Klangwelt noch an Konturen gewonnen. Der Sound ist smoother und hat zugleich mehr Raum zum Atmen, Oud, Sax, Trompete und Bass klingen eingebundener in ein Bandgefüge, verzichten auf lange Soloimprovisationen, schaffen einen aufregenden orientalischen Sog.
Oums Stimme hat in ihren Melismen mehr Souveränität, klingt blumiger, wie im Opener „Fasl“ auch geheimnisvoller als früher, wie etwa in dem grandios sich steigernden „Rhyam“. Mit Bedacht wurde elektronische Textur eingeflochten – das ist geglückt, da sie nur pointiert und nicht durchgängig spürbar ist. Ihre Lyrics hat Oum dieses Mal sehr ökologisch angelegt, preist die Natur, insbesondere den Ozean, und sie hat mit ihrer poetischen Kraft eine große Brücke von der Flüchtlingsproblematik bis zu zarter Liebeslyrik gespannt – im finalen Stück „Sadak“ gipfelt diese Dichtkunst in gemeinsamen Versen mit Jubran.