Museumsfahrt im blauen Zug

Milton Nascimento
Kaufleuten Zürich
19.06.2019

Einige der ergreifendsten Momente meiner Brasilien-Rezeption verdanke ich Milton Nascimento. Dazu zählen besonders seine lyrischen Songs der beiden frühen Clube da Esquina-Alben von 1972 und 1978. Als bekannt wurde, dass der mittlerweile 76-Jährige genau diese Songs auch in Europa noch einmal auf die Bühne bringen würde, war die Freude sehr groß. Es ist immer ein zweischneidiges Schwert, wenn eine Legende nach Jahrzehnten nochmals in die Frühzeit der Karriere abtaucht, es kann zur selbstreferenziellen Cover-Show geraten, doch im besten Fall kann überraschend Neues aus dem alten Material erstehen. Wie hat das in Zürich funktioniert?

Ganz am Anfang müssen wir über die Gesundheit des Künstlers sprechen: Milton war schon lange von Krankheiten geplagt, musste in den letzten Jahren auch mal Konzerte abbrechen. Auch im Kaufleuten ist gleich klar, dass es nicht zum Besten um ihn steht. Er wird vom zweiten Sänger und Gitarristen Zé Ibarra auf den Hocker geleitet und bleibt dort die ganze Show über mit dunkler Brille sitzen. Seine Stimme ist brüchig und nicht mehr trittsicher, doch er war nie ein Meister der reinen intonation. Was in seinen Vocals zählt, ist die hohe Kunst der Innerlichkeit, der fast gebetshaften Schmerzlichkeit, die in Hymnen wie „Claréia“ immer noch phasenweise durchleuchtet.

Das Septett, das Milton für diese Retro-Show zusammengestellt hat, macht seine Arbeit zweckdienlich, in den richtigen Momenten tritt die E-Gitarre von Wilson Lopez mit nachdenklich mäandernden Soli hervor, wie das einst Toninho Horta tat, Widor Santiago setzt mal folkloristische Akzente mit Flöte, mal geht er mit Sax – mehr als das die Clube da Esquina-Band je tat – aufs jazzige Parkett. Der Anfang ist holprig, gerade der Bandleader muss sich erst finden, doch ab dem rhythmische Haken schlagenden „Cravo E Canela“ stimmt die Synergie der acht Akteure. Milton baut einen spanischsprachigen Block ein, zeigt sich als ein Cancionero, der immer den ganzen südamerikanischen Kontinent ansprach und findet besonders hier mit der Band zu einer effektvollen, rockig-dramatischen Steigerung.

In der Mitte verlässt Milton zeitweilig die Bühne, und als Glockenschläge von der Percussion kommen, ist klar, dass Zé Ibarra die Leadstimme in „San Vicente“ übernimmt: Dieses genauso ergreifende wie mysteriöse Lied, getragen von Anleihen an Kirchengesänge, hätte der Altmeister nicht mehr gepackt. Ibarra singt die innige Hymne mit einer sehr reinen, weichen, fast zu geschmeidigen Stimme, die in der Música Caipira, Brasiliens schmalzigem Country-Genre, auch gut aufgehoben wäre. In anderen Stücken wechselt er sich mit Milton strophenweise ab, doch die kantige, poetisch dadurch umso charakterstarke Stimme des ehemaligen Esquina-Vokalpartners Lô Borges kann er nicht ersetzen.

Als Milton zurückkehrt, kann das Septett nochmals aus dem grandiosen Katalog der frühen Songs schöpfen: „Nuvem Cigana“ mit seinen eigentümlichen Akkordfolgen und „Paisagem Da Janela“ reihen sich aneinander, schließlich das träumerische „Trem Azul“, das vom Publikum – mit hochprozentigem brasilianischem Anteil – begeistert mitgesungen wird. Der „blaue Zug“, er bricht hier für viele ältere Zuhörer zur Museumsfahrt in die Siebziger auf. Leider ist die Luft ab da raus: „Maria, Maria“ und das zweite schöne Eisenbahnlied über die stillgelegte Strecke, „Ponto Final“, kann Milton nur noch erschöpft anstimmen. Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck: Milton Nascimento, nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte, hat den Versuch gewagt, den Kern seiner Schaffenskraft nochmals hochleben zu lassen. Eine stabile Band und viel Herzblut des Hautpakteurs haben einen meist würdigen Nostalgie-Abend auf die Bühne gebracht, bei dem das Ursprungsmaterial kaum angetastet wurde – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

© Stefan Franzen

Lorca, Bruckner und der Klang der Stille

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida / Sílvia Pérez Cruz & Quinteto de Cordas
Café de la Danse, Paris, 07.02. & 08.02.2019

„In der Musik ist es wie im Leben – manchmal geht es mit jemandem, manchmal nicht. Und hier…“ Sílvia Pérez Cruz beendet den Satz in ihrem charmant improvisierten Französisch im rappelvollen Pariser Café de la Danse nicht einmal. Sie zeigt nur auf ihren Bühnenpartner, Marco Mezquida. Das Publikum weiß da schon seit fast zwei Stunden, dass es ging.

Das Duo mit dem katalanischen Pianisten ist die neueste Bühnenkonstellation für Iberiens schönste Stimme. Und sie klappt deshalb so gut, weil Mezquida wie seine Partnerin über Genregrenzen nicht einmal nachdenkt, sich in alle erdenklichen Klangtableaus hineinversetzen kann. Rücken an Rücken beginnen die beiden mit dem Jazzstandard „My Funny Valentine“ am Pianino, ein Instrument, so warm und gedämpft, man könnte es sich in einem alten kubanischen Salon vorstellen. „Vestida De Nit“, die von ihren Eltern geschriebene Meereshymne erklingt am Flügel, doch Mezquida dämpft die Saiten, unterlegt den melismatischen Gesang von Pérez Cruz zackig-hölzern, was den stolzierenden Habanera-Rhythmus viel mehr herausmeißelt als bei allen anderen Versionen. In der hübschen Miniatur „Plumita“, das auf einem Kurzgedicht des uruguayischen Dichters Mauricio Rosencof basiert, spannt das Duo einen wunderbaren Bogen von fast zitternder Intimität der kleinen Feder bis zum monströsen Aufbäumen des Konzertflügels, in gewaltig tremolierenden Akkorden.

Immer wieder begeistert der Tastenmann mit seinen Umschwüngen von kleinzelliger, intimer Spielweise in den Habitus des romantischen Konzertpianisten mit voluminösem Gestus. Der Abend lebt nicht nur von dynamischen, auch von transatlantischen Sprüngen – und die ungewöhnliche Adaption des Liedgutes: Den Fado „Barco Negro“, der mit seiner Sklavenschiff-Thematik Afrika in sich birgt, lässt Mezquida ansatzweise zum Blues mutieren, das Regenwunschlied „Asa Branca“ aus Brasiliens trockenem Nordosten bekommt jazzige Improeinlagen. Zum lockeren Tänzchen am Klavier fordert „Siga El Baile“ heraus, Pérez Cruz verfeinert das polternde Stück aus der Tango-Sphäre mit verführerischer Eleganz. Das Schweigen und die Stimme sind Thema in Federico García Lorcas „El Niño Mudo“ – Verse, die einst von der chilenischen Politfolk-Gruppe Quilapayún vertont wurden, und hier nun im ergreifenden, dichten Duo, vierhändig begleitet, immer wieder im Nachhorchen und Verklingen der Worte verharren.

Schließlich wird auch der hispanische Kulturkreis durchbrochen. Das Schweigen und die Stimme, noch einmal: Ein wenig vergaloppiert hat sich Sílvia Pérez Cruz vielleicht in ihrer Lesart von „The Sound Of Silence“: Paul Simons enigmatische Verse zerpflückt sie in die Einzelteile, der schlichte folkige Flow wird dadurch gehemmt. Doch zum erstaunlichsten Brückenschlag wird das Finale, dem mit dem Wort Medley nicht beizukommen ist: Sitzend am Flügel interpretiert Pérez Cruz Anton Bruckners „Christus Factus Est“ mit kristallin-sakraler Ergriffenheit, fast wie ein Chorknabe, der sich dann wortlos in Ornette Colemans „Lonely Woman“ löst, Mezquida baut eine wahre Akkordkathedrale auf. Doch letztlich sinkt alles wieder in die melancholische Verlorenheit von „My Funny Valentine“ zurück. Zwei Zugaben zeigen nochmals das gewaltige Spektrum dieses Traumpaares, dem man ein langes Bühnenleben wünscht: Für Radioheads „No Surprises“ wird eigens ein Toy Piano auf die Bühne getragen, die Pophymne in pures Spielzeugland aufgelöst. Nur um einen letzten Kontrast heraufzubeschwören: mit Leonard Cohens Lorca-Adaption „Pequeño Vals Vienés“, das ins spanische Original zurückgeführt wird und in dem große Flamenco-Dramatik siedet.

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida
Quelle: youtube

Während das Duo weiterhin weltweit zu hören sein wird, gestaltet Sílvia Pérez Cruz in ihrer Kurzresidenz im Café de la Danse den zweiten Abend mit einem Auslaufmodell: Dabei hätte es das Streichquintett-Programm „Vestida de Nit“, hier schon mehrfach besprochen, verdient, immer weiter gegeben zu werden. Denn  der Vergleich zum Konzert in Girona vor 16 Monaten zeigt, wie viel an Intensität und neuen Variationen das Zusammenspiel von Sängerin und den Streichern um Cellist Joan Antoni Pich nochmals gewonnen hat. Alle sechs warten mit neuen Improvisationseinfällen auf, Sílvia Pérez Cruz pflegt mit jedem einzelnen Quintettmitglied befeuernde Dialoge.

Ihre „Lambada“ durchschreitet sie noch kantabler, „Ai, Ai, Ai“ wird fast zum Volksfest mit Publikumsgesang. Noch inniger und bittersüß-verschmitzt kommt das Mexikos Pathos nachempfundene „Mañana“ im Duo mit Carlos Montfort daher, „No Hay Tanto Pan“, diese Hymne für alle Verlierer der Immobilienkrise in Spanien, gipfelt in fast atemloser Verausgabung. Und die schönste Überraschung: Das Lied von der Taube, „Cucurrucucú“, es wurde seit Caetano Velosos meditativer Version aus dem Film „Hable Con Ella“ nicht mehr volkstümlich interpretiert – Sílvia und ihr Quintett schaffen eine tänzerische Rückführung aufs Mariachi-Parkett ohne jeglichen Kitsch.

© Stefan Franzen

alle Fotos Stefan Franzen

Der Rock der Jäger


Jung, wild, und trotzdem eine ordentliche Spur archaisch: So treffen die Klänge der Band BKO aus Bamako auf die Ohren. Man fühlt sich stellenweise an die psychedelische Rock-Ära erinnert, an Led Zeppelin oder die Doors, doch da ist eben auch eine ausgefeilte afrikanische Rhythmussektion und zwei Zupfinstrumente, die man kombiniert noch nie zuvor erleben konnte. BKO sind der neue, heiße Export aus Mali, das seit dreißig Jahren stetig neue Nährstoffe für die afrikanische Musikszene liefert. Der kulturelle Reichtum des armen Landes scheint unerschöpflich, und er wird nicht zuletzt bedingt durch seine 80 verschiedenen Ethnien.

Das Vielvölker-Mosaik Malis zum musikalischen Programm zu machen, das erfährt in dieser Zeit besondere Beachtung. Schließlich wurde 2012 die Einheit des westafrikanischen Staates durch den Konflikt zwischen Tuareg und der schwarzafrikanischen Regierung gefährdet, noch mehr, als Islamisten kurz danach in das entstandene Machtvakuum hineinstießen. Es ist also ein kräftiges Signal, wenn Vertreter aus fünf Ethnien beim Quintett BKO, das sich nach dem Flughafenkürzel der Hauptstadt Bamako benannt hat, friedlich zusammenspielen. BKO sind dabei eher zufällig „Kinder“ des politischen Konflikts: Ihre Gründung in Bamakos genauso hippem wie müllverseuchtem Bezirk Medina-Coura fällt zusammen mit der Erklärung des Ausnahmezustands durch die malische Regierung im April 2012, ist aber keine unmittelbare, absichtliche Reaktion darauf.

BKOs Musik ist dennoch revolutionär: Die Band um den charismatischen Leadsänger Fassara Sacko kombiniert erstmals den Sound zweier Instrumente, die zuvor unvereinbar schienen, denn sie wurden von jeher zwei unterschiedlichen Kasten zugeordnet: die Djelingoni, eine Spießlaute, die als Vorläufer des Banjo gilt, ist in der Sphäre der Griots, der Geschichtenerzähler und höfischen Musiker beheimatet, die ruppig klingende Donsongoni dagegen ist die Stegharfe der Buschjäger aus der Wassoulou-Region, sie begleitet traditionell die Mythen dieser ländlichen Region. Treffen diese beiden Instrumente zusammen, entsteht also tatsächlich eine „neue Musik Malis“, wie der Titel der neuen BKO-Scheibe „Mali Foli Coura“ sich übersetzt. Und dieser Sound spricht vor allem die Jugend an, er ist laut, unbändig, betörend.

Während sich die Saiten von Laute und Harfe in wilden Skalengängen verzwirbeln, wie Rockgitarren verzerrt werden, erhebt der Frontmann seine kehlige Griot-Stimme. Die Rhythmen der Djembé und der Dundun wiederum, eine Trommel aus dem Volk der Khassonké im Westen Malis, verzahnen sich im Unterbau mit einem elektronisch getriggerten Drumkit, das der Franzose Aymeric Kroll als einziges europäisches Mitglied bedient. Das Themenspektrum der Texte ist breit aufgestellt: Aktuelle Umweltproblematik spielt bei BKO genauso eine Rolle wie die animistischen Rituale der Jäger.

© Stefan Franzen

BKO live:
26.1. Wolhusen/CH, Tropenhaus – 27.1. Flawil/CH, Kulturpunkt, 28.1. München, Ampere – 29.1. Freiburg, Jazzhaus

BKO: „Tangwanana“
Quelle: youtube

Überraschender Klangfarbkasten

Es ist ein leichtfüßiges Thema mit jubilierenden Kapriolen, mit dem die Musiker von der Bühne gehen. Gerade hat Yumi Ito mit ihrem 11-köpfigen Orchester das Konzert in der Reihe „Jazz ohne Stress“ am Freiburger Waldsee beendet und schenkt den Zuhörern diese Melodie für den Gang hinaus in die kalte Winternacht.

Die 28-jährige Schweizerin mit japanischen und polnischen Wurzeln hat im vergangenen Jahr am Jazzcampus Basel ihren Masterabschluss gemacht und gilt zurecht als Newcomerin mit hohem Potenzial, in Montreux konnte sie auch einen Juror namens Al Jarreau überzeugen. In verschiedensten Projekten von experimenteller Duobesetzung über Quartett bis zu ihrem Orchester erprobt sie ihre Talente als Sängerin, Pianistin, Improvisatorin und Komponistin, die ihre Arrangements selbst schreibt. Mit dem auf allen Positionen glänzend besetzten Orchester, junge Musiker aus sieben europäischen Ländern, bündelt sie all diese Qualitäten.

Lange wird man suchen müssen, um bei Arrangeurinnen ihrer Altersklasse auf vergleichbare Raffinesse in der Textur zu stoßen – und das sorgt für eine äußerst spannende, kurzweilige Stunde. Die originelle Besetzung der „Bigband“ tut ihr Übriges: Denn aus dem Jazz ist nur die Rhythmussektion und ein gemischter Bläsersatz (Sax, Bassklarinette, Flöten) übriggeblieben, drum herum agieren ein Streichtrio, Vibraphon und Harfe – das öffnet einen ungewohnten, überraschenden Klangfarbkasten.

Da entfaltet sich nach freiem Einstieg in der „Ballad For The Unknown“ aus Streichern und Flöte heraus ein großer elegischer Atem, in dem eine Vibraphon-Impro Platz hat. Kleinzellige Dialoge zwischen Pizzicati, Sax und Harfengirlanden wechseln im Anschlusssong die Seiten, während Ito mit fantasievollem Scat ihren Sopran lyrisch auskostet. Von chromatischen Verdickungen und Trübungen lebt „Little Things“, das zuvor noch mit einer hüpfenden, vogelgleichen Melodie anfing. Und dann ein Exotikum: Das intim besetzte „Komori Uta“ lockt mit Flöte und Harfe auf eine Debussy-Fährte, die in einen fernöstlich-folkigen Walzer übergeht. Doch das Lullaby mündet in eine lautmalerisch-experimentelle Spielwiese, auf der Ito auch in tiefe Stimmenregister souverän abtaucht.

Wie sie Komplexität mit Unbeschwertheit paart, dafür ist „Old Redwood Tree“ ein Paradebeispiel: ein Stück im Dreizehnachtel-Takt, das sich dramaturgisch von glasigen Spielfiguren über Liegetöne der Streicher bis zu polternden Drums aufbauscht und doch stets an einen Gang durch die Natur erinnert. Und Yumi Ito beherrscht auch die Popsprache: „Stardust Crystals“ könnte mit seinem gemessenen, „nordischen“ Gesangsgestus und seinem eingängigen Lamento-Charakter auch eine frühe Ballade von Björk sein.

Noch einmal herausgerissen aus der Melancholie wird das Publikum mit einer nokturnen Tour durch Prag – eine gruselhaft-groteske Schauermär mit zähen Streichern, fahler Flöte und katzenartigen Vocals, bei der an jeder Straßenecke neuer Spuk lauert. Mit relaxt pendelnder Harfe wird dann die Zugabe eingeläutet – und das eingangs erwähnte Kapriolenthema gewinnt Raum. Allein schon dieser Melodie wegen kann man sich auf die 2019 erscheinende CD des Yumi Ito Orchestras freuen.

Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 13.12.2018

Inselfolk im Viadukt

                                                                              Foto: Stefan Franzen

John Smith
Josienne Clarke & Ben Walker
Bogen F, Zürich, 28.11.2018

Ein Gespenst namens „Brexit“ schwebte an diesem Abend immer mit im Saal. Denn gerade wer Folk von den Britischen Inseln lauscht, erkennt schmerzlich, dass in diesem Genre Festlandeuropa nun mal nicht annähernd so starke Stimmen zu bieten hat. Und im Falle eines Austritts der Insel aus dem EU-Gefüge – mit dem ganzen Rattenschwanz der zu befürchtenden erschwerten Bedingungen für tourende Künstler abseits des Mainstreams gingen wir dieses bei uns nicht vorhandenen Reichtums – vermutlich bitterlich verlustig.

Doch genug des Politisierens: Josienne Clarke und Ben Walker sind ein famoses Duo aus London, die in diesem Sommer schon für Robert Plant beim Stimmen-Festival eröffneten, auf dem großen Marktplatz Lörrach mit ihrer filigranen Show aber weitestgehend untergingen. Im intimen Bogen F, einem schönen Musikclub, der in das Viadukt im Zürcher Kreis 5 eingebaut wurde, kamen ihre Talente weit besser zur Geltung. Von beginn an ist es Clarkes kräftiger Sopran, der gefangen nimmt und der stilistisch überhaupt nicht festgelegt ist: Den Opener „Reynardine“, der vor 45 Jahren auch schon aus der Kehle von Sandy Denny drang, hat man in diesem Kontext erwartet, nicht aber ein Lied von Edward Elgar, das von Ben Walker mit allen klassischen Raffinessen begleitet wird. Walker erweist sich im Verlauf des Abends auch als geschmackssicher an der Stromgitarre, die er mit folkigem Flow und eigenwilliger Technik zupft. Für „Little Sparrow“, eine Reverenz an Dolly Parton, wird die Rhythmusmaschine angeworfen, ein kleines, fast unnötiges Zugeständnis an die Generation HipHop. Unter den Originalkompositionen sticht „Chicago“ heraus – eine zwischen Selbstmitleid und Ironie schwankende Anekdote über ein Konzert der beiden, zu dem tatsächlich kein einziger Zuschauer kam.

Davon kann an diesem Abend keine Rede sein, der Club unter dem Steingewölbe ist für einen Mittwochabend gut gefüllt, was auch John Smith verblüfft anmerkt. Er habe gerade zwei Tage mit Erkältung im Bett gelegen, gesteht der rotbärtige Dreißiger, der mit seiner Aura wie ein rustikaler Bursche aus dem alten England anmutet, doch man merkt ihm eine etwaige Indisposition in keinem Takt an. Denn seine aufgeraute und zugleich unglaublich seelenvolle Baritonstimme resoniert voll und warm in den Eingeweiden. Smith kann jedoch auch mit dem Pfund seines Gitarrenspiels wuchern, ein Open Tuning-Monster, das als Partner für seine Vocals grandios funktioniert, sich in einem eigenen melodischen Fluss windet und ab und an auch etwas bluesig ausschert. Smith, der viele Songs seiner beiden letzten Alben Headlong und Hummingbird bringt,  ist ein Meister der waidwunden Liebeslieder wie „Hares On The Mountain“ oder „Joanna“. Und er hat einen wunderbaren Bühnenhumor, baut nach einem Publikumsnieser synkopisch ein „Gesundheit!“ ein, will in seinen „Perfect Storm“ mit dem donnernde Tram auf der Trasse über seinem Kopf in Dialog treten – auch wenn ihm das Vehikel diesen Gefallen nicht tut. Dieser Mann mit dem englischen Allerweltsnamen aber mit einem gesegneten Ausnahmekönnen scheint nur scheinbar aus der Zeit gefallen. Im Grunde repräsentiert er das, was zeitlos ist: die poetische Kraft, die aus dem Herzbeben kommt – und die überdauert alle politische Erschütterungen.

© Stefan Franzen

John Smith: Hummingbird“
Quelle: youtube

Ne me quitte pas, Brasil

Maria Gadú & Tribalistas
Baloise Session Basel, 2.11.2018

Am letzten Sonntag wurde in Brasilien ein rassistischer, frauenfeindlicher und homophober Ex-Leutnant ins Präsidentenamt gewählt, der sich gerne an die Zeit der Militärdiktatur erinnert. Während dieser düsteren Jahre (1964-85) hatten viele der prominenten Songschreiber und Dichter unter täglicher Gängelung und Zensur zu leiden, mussten teilweise ins Exil gehen. Ein Abend mit großen brasilianischen Musikern, wie jetzt bei der Baloise Session, kann derzeit nicht losgelöst von diesen aktuellen Ereignissen erlebt werden. Zumal sich fast alle Künstler des Landes gegen den Wahlsieger positionierten, jetzt ihre Schockstarre überwinden müssen.

Da ist zum Beispiel Maria Gadú: In der Heimat ist die 31-Jährige als offen lesbische Künstlerin Rollenmodell für Vielfalt und Toleranz. Als er sie entdeckte, nannte der große Caetano Veloso sie einen „Jungen mit der Stimme einer Prinzessin“. Doch Gadú hat sich ganz signifikant gewandelt. Nur mit ihrem Drummer Felipe Roseno kommt sie auf die Bühne, und allein ihr Outfit, roter Arbeiter-Overall und Kriegsbemalung einer Xingu-Indigenen, ist schon eine Kampfansage. Wo sie zu Beginn der Karriere ihre Lieder noch oft im lyrischen Folkpop-Ton sang, fährt sie jetzt mit einer schrundigen Telecaster-Gitarre lautere Geschütze auf. Mit viel Hall-Effekten und ausgefuchster Schlagwerkvarianz ersetzt das Duo in intensivem Dialog eine ganze Band. Gadús Stimme kann noch immer sehr sanft und vollmundig klingen, aber im richtigen Moment auf zornig und ruppig umschalten.

Als sie sich direkt ans hochprozentig brasilianische Auditorium wendet, beschwört sie den demokratischen Zusammenhalt und stellt klar, dass sie natürlich auch weiterhin mit ihrer Ehefrau zusammenleben wird. Völlig unbegleitet lässt sie eine kraftstrotzende Version des berühmten Jacques Brel-Songs folgen, der auch zum Flehen an die Heimat wird: „Ne me quitte pas, Brasil.“ Dafür erntet sie fast geschlossen stehende Ovationen. Und gleich danach der zweite Höhepunkt mit dem afrobrasilianischen „Axé Acappella“: Sie hatte das Lied schon für die Großdemos vor der Fußball-WM geschrieben – es wird nun als Schlachtruf der Straße hochaktuell bleiben.

Nach diesem starken Auftritt wird der ausgelassen feiernde Saal in die Siebziger zurückkatapultiert: Schreiend bunt und hippie-esk treten die Tribalistas an, Brasiliens schillerndste Songwriter-Supergroup, nach ihrem zweiten Album innerhalb fünfzehn Jahren erstmals überhaupt auf Tour. Alle drei für sich schon Stars, kann man ihre gemeinsame Kreativkraft mit dem Output von Lennon-McCartney vergleichen: jeder Song ein Dreiminuten-Ohrwurm-Meisterwerk, melodienselig und mit cleveren Harmonien bestückt. Als Fee im lila Samtmantel singt Marisa Monte ihre schönen Sopranschleifen, Carlinhos Brown wirkt mit seinem Perkussionsarsenal wie ein tropischer Sultan im Glitzerfrack, und der mit abgrundtiefem Bass gesegnete Arnaldo Antunes inszeniert sich in einer Art Priesterkutte.

Jammerschade: Vor allem dem Unisono-Gesang, aber auch dem fantasiereichen Akustikzauber gehen in einem rumpeligen, breiigen Sound die Feinheiten verloren. Und davon gibt es viele: Afrobrasilianische Glocken, marokkanische Kastagnetten, Horntröte, Vogelpfeife. Glockenspiel und Melodica zieren die Arrangements, die immer dann grandios aufleuchten können, wenn sich der Drummer aus der Begleitband zurückhält. Die Botschaft freilich, sie ist auch hier unüberhör- und sehbar: Bekenntnis zur Regenbogen-Pracht statt furchtgesteuerte Politik.

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 5.11.2018

Maria Gadú: „Ne Me Quitte Pas“ live
Quelle: youtube

Emotionale Kleinstscherben


Sophie Hunger & Matt Holubowski
Laiterie Strasbourg (F), 17.10.2018

„Da kommt so eine Trennung, das ist Dekonstruktion, so, als würden die Dinge wieder in ihre kleinsten Teile zerfallen“, sagt Sophie Hunger über ihr neues Album Molecules. Ihr Privatleben hatte die Schweizerin aus ihrer Musik bislang ausgeklammert, jetzt triggerte es einen künstlerischen Neubeginn. Ihr Rezept: die Kleinstscherben, die emotionalen Moleküle mit elektronischen Mitteln zu einem neuen Lebensgefühl zusammenzufügen. Doch die 35-Jährige hat keinen radikalen Schnitt vollzogen: Sie bleibt dem Song verbunden, den melancholischen Melodien, den Stimmenschichtungen, den Kadenzen, die sich anhören, als wären sie alten Volksliedern entnommen. Die Synths und Keys und Pads tönen bei der Wahlberlinerin selten technoid nach Berghain, glimmen vielmehr warm und neonlichtromantisch. Für die Bühne gilt das erst recht, wie sich bei ihrem gefeierten Auftritt in der Straßburger Laiterie zeigte.

Eine Viererbesetzung sorgt für ein aufgeräumtes Bühnenbild, lautsprecherförmige Lichttrichter feuern rhythmisch ihre Glut ins Publikum. Übrig geblieben aus der alten Band ist Hungers Tastenmann Anexis Anerilles, der ab und zu mal knallige Bass Drops, aber vielmehr die verspieltere Ästhetik der frühen Achtziger à la Depeche Mode oder The Human League aus den Keys kitzelt, spukhafte Theremin-Effekte zaubert. Hungers helle Stimme thront hymnisch in diesem Electro-Kontext, und man merkt: Sie genießt das. Verlor sich das Titelstück der letzten CD „Supermoon“ in eiskalter, akustischer Einsamkeit, ist die Single „She Makes President“ von selbstbewusstem, feministischem Stolz über den stolpernden Synthesizern geprägt. Die Weiblichkeit wird gedoppelt, auch das eine Neuerung: Zweite Tastenfrau und Backgroundsängerin Marielle Chatain geht oft mit Hunger im Unisono durch die Refrains, wie in „The Actress“, das durch verhallte Piano-Phrasen eingeleitet wird.

Und für die feinsinnige Verknüpfung von Handgemachtem mit den Schaltkreisen sorgt der Zürcher Drummer Mario Hänni mit seinem teils abgehängten Drumset. Früh kehrt Sophie Hunger zu ihrem Backkatalog zurück, und die alten Songs gewinnen im Quartett teils an Reliefschärfe: im Sprechgesang und der von ihr selbst gerupften Noisegitarre bei „Love Is Not The Answer“, im jetzt noch frecher, geradliniger herausgeballerten „Das Neue“, gekrönt durch ein gewittriges Finale zwischen Anerilles und Hänni. Und sie konfrontiert die Electro-Welt unbekümmert mit dem Folksong: Das „Z‘ Lied vor Freiheitsstatue“ glänzt im vierfachen A Cappella, wie auch das neue, herzzerreißende „Coucou“, ein Abschiedslied an die Kinder aus ihrer Beziehung.

Grandioses Flügelhorn und Saxophontextur erinnern auch viel eher an ihre Frühphase. Einmal taucht sie sogar in eine Art Südstaatensoul, reflektiert darüber, wie lange sie wohl noch am Trennungsschmerz leiden wird, mit erfrischender Selbstironie. Und wenn sie in einer Zugabe zu einem fast karibischen Groove davon erzählt, wie sie eine Bar eröffnet hat, für ihre Mutter, für arbeitslose Freunde und auch für ihren Ex und seine Neue, dann weiß man: Sie ist über den Berg – und hat dabei ganz en passant Klangwelten versöhnt.

Unbedingt erwähnenswert auch der Support Act: Der Frankokanadier Matt Holubowski eröffnete im Trio mit Cellistin und Schlagzeuger. Seine mit empfindsamem Falsett gesungenen Folkballaden und seine Ausflüge in kernige Rockdramatik, von dynamischer Subtilität getragen, verdienen auch endlich mehr europäisches Ohrenmerk – in Québec ist der Mann längst ein Songwriter-Star.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 19.10.2018

Sophie Hunger: „I Opened A Bar“
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Frieden, Liebe und eine Goldgitarre

Foto: Chris Hakkens

Santana
Foire Aux Vins, Colmar (F)
03.08.2018

Ein simples Händeklatschen im Viervierteltakt: So beginnt eines der feurigsten Instrumentals der Rockgeschichte. Das im „Woodstock“-Konzertfilm verewigte „Soul Sacrifice“ hat Carlos Santana die Türen zur Welt geöffnet, und er hält es auch 49 Jahre später in Ehren: Denn genau mit diesem Händeklatschen kommt die neunköpfige Band nach einer psychedelischen Diashow mit Liebe- und Friedensmotiven bei der Foire Aux Vins Colmar auf die Bühne, taucht die 11 000 in der Arena in Nostalgiestimmung – allerdings nicht für epische zehn Minuten, sondern für zusammengedampfte zwei. In denen der 71-Jährige auf der goldüberzogenen Paul Reed Smith-Gitarre gleich alle seine Markenzeichen unterbringt: Immer noch treffen seine vibratolosen Töne wie glühende Pfeile, Kolibris gleich flattern die typischen Triller, die verzerrten Zieher über mehrere Saiten sind gequälte Schreie.

Carlos live in Colmar – das steht eigentlich unter guten Vorzeichen: Genau hier hat der Altmeister 1976 Teile seiner Platte „Moonflower“ mitgeschnitten. Freilich ist keiner der damaligen Musiker heute noch dabei. Die Position der Drummerin hat jetzt Gattin Cindy Blackman inne, die mit den Timbales von Karl Perazzo und den Congas von Paoli Mejías eine sehr kompakte perkussive Dreierkette bildet, wie sich im rituellen Afrorock von „Jingo“ zeigt. Mit Andy Vargas und Ray Greene verfügt Santana über zwei Sänger, die sich die Aspekte des Latinlovers und des Soulmans teilen, Greene packt zudem auch wiederholt die Posaune aus. In schwindelndem Übergang leitet das schiebende Bass-Riff von Benny Rietveld zu „A Love Supreme“ über, schon wird „Black Magic Woman“ serviert und „Oye Como Va“ nahtlos angeknüpft, garniert mit Live-Fotos und LP-Covern aus der frühen Laufbahn. Nach 25 Minuten hat man einen beachtlichen Teil der Siebzigerhits abgearbeitet, und längt ist klar: Santana zieht die Karte der durchorganisierten Karriere-Revue.

Die im Mittelteil zum Glück auch Räume zum Durchatmen lässt: Statt „Europa“ entscheidet er sich für seine andere große Ohne Worte-Ballade, das live selten gespielte „Samba Pa’Ti“. Er lockt das Thema zunächst ohne Plektron aus den Saiten, hält bei der Kadenz ganz lange, selbstversunken unter seiner Hutkrempe inne. Und wenig später gibt es einen wohltuend spontanen Moment: Keyboarder David Matthews wird vom Chef nach zwei Anfangsakkorden zurückgepfiffen, denn der hat tatsächlich Lust auf ein Exzerpt aus dem überragenden Werk „Caravanserai“. Es gipfelt im lyrisch-zärtlichen „Song Of The Wind“ mit glimmender Orgel, bauchiger Posaune und dem schönsten Gitarrensolo des Abends: ein bluesig-melodischer Fluss hinauf bis zum 24. Bund, ohne übertriebene Akrobatik, gezuckert mit einem „Frère Jacques“-Bonbon fürs französische Publikum.

Doch für den letzten, großen Akt wird wieder einige Gänge hochgeschaltet: Das begeistert in der Swamp Dogg-Nummer „Total Destruction Of Your Mind“, in der Ray Greene seine seelenvollen Qualitäten ausreizen kann und die Gitarre sich auch mal in funky „Wah Wah“-Wonne suhlt, Slap-Solo von Rietveld nachgeschaltet. Das ermüdet aber auch, als es in die „Supernatural“- und „Shaman“-Sektion geht, Santanas Alben des zweiten Frühlings. „Mona Lisa“, „Foo Foo“, „Corazón Espinado“: Die Sänger übernehmen in dieser Hit-Party das Animateurs-Zepter. Für „Maria Maria“ greift Santana kurz nach der Akustischen, sie wurde ihm so hingebastelt, dass er die Stromgitarre gar nicht abschnallen muss. Doch er tauscht er sie dann doch noch gegen eine himbeerrote um, die hat einen spitzeren Sound als das Goldstück, und er nutzt sie ausgiebig für Geräuschhaftes à la Hendrix.

Auf Hochtouren läuft jetzt die Medley-Maschine, nicht nur mit Eigenem: „Proud Mary“, “Satisfaction“, „Fever“ und – mit Gesangssolo des Rhythmusgitarristen Tommy Anthony – „Roxanne“: Man liefert en passant einen Schnelldurchgang durch die Pophistorie. Ehefrau Blackman bekommt auch noch ihr Solo, tanzt besessen auf den sechs Toms und gönnt der Bass-Drum keinen halben Takt Ruhe. Zu hohe Reizdichte das alles, zu wenig Raum für Imagination, und dann grüßen auf der Leinwand auch noch ein goldener Buddha und die Aufforderung: „Heal All With Your Light“. Knallig bunt wie sein von Afro-Masken gespicktes Shirt war Carlos Santanas zweistündige, selbstreferenzielle Show, aber auch steckengeblieben in einem endlosen Sommer der Liebe. Sich per Rückblick nochmals neu erfinden, das geht hingegen durchaus: Der fast gleichaltrige Robert Plant hatte es ein paar Tage zuvor in Lörrach vorgemacht.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 06.08.2018

Santana: „Song Of The Wind“
Quelle: youtube

Heldin des passiven Widerstands


Foto: Pierrick Guidou

Indra Rios-Moore
Reithalle, Wenkenpark Riehen, Festival-Stimmen
02.08.2018

„Ich werde König sein und du Königin – auch wenn nichts sie vertreiben wird, für einen Tag können wir sie schlagen“, heißt es in David Bowies „Heroes“. Als Indra Rios-Moore es am Ende ihres Konzerts in der Riehener Reithalle anstimmt, weiß das ergriffene Publikum bereits, dass da eine solche Heldin vor ihnen auf der Bühne steht. Und wird Zeuge der kompletten Verwandlung eines Songs: von einem Kultlied der Jugend zu einer zeitlosen Hymne des Widerstands, voller Strahlkraft und Löwenherz.

„Ich werde der Kaltblütigkeit und dem Klima der Furcht in Amerika Widerstand leisten durch Liebe. Das ist mein Protest“, sagt Indra Rios-Moore im Interview. Und sie hat mit „Carry My Heart“ in diesem Geiste ein Album veröffentlicht, das die „quiet strength“ der afro-amerikanischen Spiritualität an die Stelle der „angry white men“ setzt. Nicht in der herkömmlichen, schwarzen Arbeitskleidung der Jazzsängerinnen tritt sie auf, ganz in Weiß singt die New Yorkerin, und genauso überwindet auch ihre Stimme die Genres. Ihr klares helles Timbre scheint oft Meilen über der Band zu stehen, hat die souveräne Phrasierung aus dem Jazz, das endlose, sehnende Ziehen der Töne aus dem Soul – und plötzlich funkeln da auch brillante Spitzentöne mit grandiosem Vibrato: Erbe ihrer klassischen Ausbildung. Immer wieder zeigt sie gen Himmel, rundet die Verse mit beiden Händen, strahlt meist übers ganze Gesicht: Ihre Spiritualität ist geradezu körperlich.

Für ihre „ruhige Kraft“ hat die Tochter einer Puertoricanerin und eines Amerikaners das ideale Begleittrio gefunden, ein einfühlsam-nordisches: Knut Finsrud malt förmlich an den Drums, mit geschlossenen Augen und offenem Mund, spielt oft mit Besen oder der bloßen Hand, auch mit leeren Wasserflaschen, hängt die Felle mal mit Tüchern ab. Basskollege Thomas Sejthen ist ein kontemplativer Handwerker, der swingende Ostinati und trockene Soli liefert. Und mit Ehemann Benjamin Trærup verbindet Rios-Moore auch auf der Bühne viel: Sein erzählend-melodischer Atem, sein schmauchend-sinnliches Spiel geht oft in enge Zwiegespräche mit den Vocals. Da wird das Tenorhorn auch mal zum zweiten Sänger, etwa in der Eigenkomposition „Give It Your Best“, das Rios-Moore zur Ermutigung gegen Depressionen geschrieben hat.

Die Mutmacher, sie sind das Kernstück ihres Repertoires: Steely Dans „Any Major Dude“ münzt sie zum Trotz nach dem letzten Wahltag um: Das Monster im Text ist nicht Trump, die Krankheit steckt in jedem von uns. Curtis Mayfields „Keep On Pushing“ verströmt im federleicht tänzelnden Dreiertakt die Gewissheit, dass alle Hindernisse allein durch eine stolze Geisteshaltung überwunden werden können. Und dann ist da „Carry My Heart“, eine Widmung an flüchtende Mütter, die ihre Kinder über viele Landesgrenzen hinweg tragen: Die Band hält sich hier ganz zurück, um den sehnsuchtsvollen Blue Notes der Stimme maximale Entfaltung zu geben.

Doch Indra Rios-Moore ist keine neue Joan Baez oder Tracy Chapman, entgrenzt das Image der Protest-Ikone: Sie glänzt ebenso mit feinmechanischem Swing im Jazzstandard „Like Someone In Love“, verwandelt sich in „Love Walked In“ von George Gershwin in ein Kornett mit Patina, und sie knüpft an den Gospel des „Little Black Train“ lautmalerische Zuggeräusche. Die romantische Ader ihres Lieblingssängers Johnny Hartman verschmilzt sie gar mit einem unwiderstehlichen Latin-Touch. Einmal noch geht es aus dem freudevollen Strahlen tief in den Schmerz: Das Spiritual „Trouble“ gestalten die vier Musiker mit Liegetönen im Bass zu einem erschütternden Mantra der gequälten Sklaven aus, und hier bäumt sich das Sax einmal zu einem Schrei auf. Riehen erlebte einen großen, seelenvollen Moment nicht nur innerhalb der diesjährigen „Stimmen“ – sondern in der ganzen 25-jährigen Geschichte des Festivals.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, 04.08.2018

Indra Rios-Moore: „Heroes“
Quelle: youtube