Emotionale Kleinstscherben


Sophie Hunger & Matt Holubowski
Laiterie Strasbourg (F), 17.10.2018

„Da kommt so eine Trennung, das ist Dekonstruktion, so, als würden die Dinge wieder in ihre kleinsten Teile zerfallen“, sagt Sophie Hunger über ihr neues Album Molecules. Ihr Privatleben hatte die Schweizerin aus ihrer Musik bislang ausgeklammert, jetzt triggerte es einen künstlerischen Neubeginn. Ihr Rezept: die Kleinstscherben, die emotionalen Moleküle mit elektronischen Mitteln zu einem neuen Lebensgefühl zusammenzufügen. Doch die 35-Jährige hat keinen radikalen Schnitt vollzogen: Sie bleibt dem Song verbunden, den melancholischen Melodien, den Stimmenschichtungen, den Kadenzen, die sich anhören, als wären sie alten Volksliedern entnommen. Die Synths und Keys und Pads tönen bei der Wahlberlinerin selten technoid nach Berghain, glimmen vielmehr warm und neonlichtromantisch. Für die Bühne gilt das erst recht, wie sich bei ihrem gefeierten Auftritt in der Straßburger Laiterie zeigte.

Eine Viererbesetzung sorgt für ein aufgeräumtes Bühnenbild, lautsprecherförmige Lichttrichter feuern rhythmisch ihre Glut ins Publikum. Übrig geblieben aus der alten Band ist Hungers Tastenmann Anexis Anerilles, der ab und zu mal knallige Bass Drops, aber vielmehr die verspieltere Ästhetik der frühen Achtziger à la Depeche Mode oder The Human League aus den Keys kitzelt, spukhafte Theremin-Effekte zaubert. Hungers helle Stimme thront hymnisch in diesem Electro-Kontext, und man merkt: Sie genießt das. Verlor sich das Titelstück der letzten CD „Supermoon“ in eiskalter, akustischer Einsamkeit, ist die Single „She Makes President“ von selbstbewusstem, feministischem Stolz über den stolpernden Synthesizern geprägt. Die Weiblichkeit wird gedoppelt, auch das eine Neuerung: Zweite Tastenfrau und Backgroundsängerin Marielle Chatain geht oft mit Hunger im Unisono durch die Refrains, wie in „The Actress“, das durch verhallte Piano-Phrasen eingeleitet wird.

Und für die feinsinnige Verknüpfung von Handgemachtem mit den Schaltkreisen sorgt der Zürcher Drummer Mario Hänni mit seinem teils abgehängten Drumset. Früh kehrt Sophie Hunger zu ihrem Backkatalog zurück, und die alten Songs gewinnen im Quartett teils an Reliefschärfe: im Sprechgesang und der von ihr selbst gerupften Noisegitarre bei „Love Is Not The Answer“, im jetzt noch frecher, geradliniger herausgeballerten „Das Neue“, gekrönt durch ein gewittriges Finale zwischen Anerilles und Hänni. Und sie konfrontiert die Electro-Welt unbekümmert mit dem Folksong: Das „Z‘ Lied vor Freiheitsstatue“ glänzt im vierfachen A Cappella, wie auch das neue, herzzerreißende „Coucou“, ein Abschiedslied an die Kinder aus ihrer Beziehung.

Grandioses Flügelhorn und Saxophontextur erinnern auch viel eher an ihre Frühphase. Einmal taucht sie sogar in eine Art Südstaatensoul, reflektiert darüber, wie lange sie wohl noch am Trennungsschmerz leiden wird, mit erfrischender Selbstironie. Und wenn sie in einer Zugabe zu einem fast karibischen Groove davon erzählt, wie sie eine Bar eröffnet hat, für ihre Mutter, für arbeitslose Freunde und auch für ihren Ex und seine Neue, dann weiß man: Sie ist über den Berg – und hat dabei ganz en passant Klangwelten versöhnt.

Unbedingt erwähnenswert auch der Support Act: Der Frankokanadier Matt Holubowski eröffnete im Trio mit Cellistin und Schlagzeuger. Seine mit empfindsamem Falsett gesungenen Folkballaden und seine Ausflüge in kernige Rockdramatik, von dynamischer Subtilität getragen, verdienen auch endlich mehr europäisches Ohrenmerk – in Québec ist der Mann längst ein Songwriter-Star.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 19.10.2018

Sophie Hunger: „I Opened A Bar“
Quelle: youtube

Kondolenz an die Angst

Benjamin Clementine
Laiterie Strasbourg, 24/03/15

Die Molkerei ist fast zum Bersten voll – alle sind sie gekommen, um den neuen Orpheus zu sehen, diesen 27 Jahre jungen Nordlondoner ghanaischer Herkunft, der aus seiner Heimat aufbrach, um in Paris sein Glück zu machen.  Zu absonderlich war es in Edmonton gewesen, dass ein schwarzer Junge sich für die Klänge von Erik Satie, Giacomo Puccini und Claude Debussy begeisterte, im Klavierspiel seine Zuflucht suchte. Von der Métro hat sich Benjamin Clementine nun bis auf die Weltbühne gespielt – nicht nur mit dem Piano, auch mit einer Stimme, die in ihrem Timbre an Scott Walker und Antony Hegarty erinnert, in ihrer melancholischen Verzweiflung an Nick Drake.

Nur sein Flügel nimmt die Bühne ein. Der hochgewachsene Mann mit kantigem Afro und gehrockartigem Anzug über der nackten Brust sitzt auf seinem hochgeschraubten Hocker in der Vogelflugperspektive über den Tasten. Die Klassik hat er für sein Universum adaptiert, rollende Arpeggien hier, zarte Triller da, doch die Struktur der Songs, sie ist reiner Pop. Wären da nicht die Geschichten, die er erzählt, von London, das ihn obsessiv verfolgt, von der Steinbox, in der er an Einsamkeit fast verendet, vom triumphalen Sieg über die Angst, der er ein Kondolenzschreiben schickt. Denn diese Geschichten sprengen jedes Versmaß, ihnen muss sich der Verlauf des Stückes beugen, und manchmal berichtet der Dichter gleich mit Sprechstimme weiter, lässt den Song innehalten.

Diese Stimme, sie glimmt verletzlich im engelsgleichen Falsett, sie donnert soulig, manchmal trotzig in den tieferen Lagen. Sie ist einzigartig, und die Straßburger lauschen gebannt, brechen in frenetische Sympathie aus, wenn der letzte Akkord verklingt.  Macht Clementine Ansagen, flüstert er allerdings so krankhaft schüchtern, dass man ihn nicht versteht. Oder kokettiert er mit seiner Unnahbarkeit? Frei von Prätention ist das, was sich da auf der Bühne abspielt nicht: Sein Schweigen vor den Stücken, um den Genius herabzurufen, das Kreisen der Finger über der Taste, das Zelebrieren von schlichten Halbtonrückungen. Dass ihn bei manchen Stücken dann die Cellistin Barbara Le Liepvre begleitet, meist mit warmen Liegetönen, manchmal auch mit gerupften Staccati, macht das Klangbild zwar angenehmer, führt aber auch in die Nähe eines klischierten Schönklangs, der seinen Songs die Intensität nimmt. Als er Nick Drakes „River Man“ covert, seine einzige Adaption, funktioniert das nicht. Man fühlt, seine eigene Musik ist schon einen Schritt weiter, jeder Rückverweis auf seelenverwandte Weltverzweifler überflüssig.

Wenn Pop und Klassik sich treffen, kann das genauso abgründig wie gekünstelt enden. Benjamin Clementine könnte einen Brückenschlag etablieren, der mehr als ein flüchtiger Flirt bleibt. Meine größte Befürchtung: Dieser Mann ist von seiner geheimnisvollen Anmut geradezu prädestiniert dazu, dass er nicht nur von der Musik-  sondern auch der Modeindustrie in Beschlag genommen wird. Hoffentlich strahlt er uns demnächst nicht von einem Yves Saint Laurent-Werbeplakat entgegen.

©Stefan Franzen

Benjamin Clementine: „Cornerstone“ (live at Later…with Jools Holland)
Quelle: youtube