Kanadischer Freiheitsflug

Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich aus Kanada zurückgekehrt, von einer Reise, die mich durch alle musikalischen Facetten des Ostens im Ahornstaat geführt hat. Seitdem bekomme ich immer wieder Tipps zu neuen tönenden Trends zugeschickt, insbesondere aus dem Songwriting-Bereich. Heute möchte ich euch Sébastien Lacombe vorstellen. Lacombe hat seine Homebase in Montréal und wuchs dort zweisprachig auf, zu seinen Vorbildern gehört auch ein Leonard Cohen. Die bilingualen Songwriter Montréals zählen zu den spannendesten Persönlichkeiten, die die Stadt hervorbringt. Die Vielschichtigkeit, manchmal auch Zerrissenheit ihrer Arbeit zwischen den beiden sprachlichen Welten führt zu einmaligen Text- und Klangresultaten. Sebastien Lacombe war seit 2005 auf vier Alben in französischer Zunge unterwegs. Jetzt ist er aufs Englische eingeschwenkt.

Sein neues Werk, das im Herbst erscheinen wird, nennt sich Fly, und das zentrale Thema dieses Werks ist die Freiheit, „die Freiheit, das zu sein, was wir wollen, über unsere Träume hinauszuwachsen, die Freiheit, zu lieben, trotz aller Tücken und gebrochener Herzen“, schreibt Sébastien. Die Produktion für das Label B-12 hat mein lieber Freund Erik West Millette als Coproduzent unterstützt, der Globetrotter in Sachen Eisenbahn, die Arrangements stammen ebenfalls von einem Musiker seines Umfelds, von Olaf Gundel. Die Songs auf Fly, so Sébastien weiter, sollen helfen in den Nachwehen eines schweren Sturms zur Erneuerung zu finden – nichts könnte besser in diese Wochen und Monaten passen. Ich stelle euch die Vorab-Single aus dem Album vor, „Gold In Your Soul“.

https://www.sebastienlacombefly.com/
https://www.sebastienlacombe.com/

Sébastien Lacombe: „Gold In Your Soul“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #11: Multimedialer Handschuh


Der Einweghandschuh ist in diesen Tagen für viele ein unerlässliches Utensil. Dass mit einem Handschuh – in diesem Falle in in vieler Hinsicht ein „Mehrweg“-Handschuh –  aber auch multimediale Kunst kreiert werden kann, macht der Freiburger Pianist, Komponist und Arrangeur Ralf Schmid seit einiger Zeit in seinem Projekt „Pyanook“ vor.

Schmid manipuliert mit dem Datenhandschuh „mi.mu-Gloves“, den eine italienische Firma entwickelt hat, live die gerade entstehenden analogen Klänge digital durch Gesten. Als zusätzliche Dimension kommt in Schmids Performances noch eine ebenfalls mit der Musik interagierende Projektion hinzu – alles summiert sich zu einer „augmented reality“.

Wem das zu abstrahiert klingt, die und der kann während dieser Krisenzeit hier jeden Wochentag ab 20h20 auf Ralf Schmids youtube-Kabal einem zehnminütigen Stream lauschen. In seinen Liveschaltungen aus dem Homestudio legt Schmid die Handschuhe für ausgelassene Jams aber auch mal zur Seite. Im Nachklang sind die Streams dann zeitunabhängig auf Schmids verschiedenen Kanälen zu hören. Untenstehend der heutige, morgen Abend geht es weiter. Mit euren musikalischen Inputs entwickelt Ralf seine works in progress, derzeit zum Beispiel ein Stück über einem ghanaischen Groove. Danke für den Hinweis, Ralf!

Ralf Schmid – Pyanook-Livestream 06.04.2020
Quelle: youtube

Ravi Shankar 100


Eine weitere Folge aus !green belt ON AIR! befasst sich mit einer Jahrhundertlegende:

Er beeinflusste Jazzer wie John Coltrane oder John McLaughlin, Bands wie die Beatles und die Byrds, und er war wider Willen ein Guru der Hippies. Ravi Shankar ist bis heute der wohl weltweit bekannteste und einflussreichste indische Musiker. Am 7.4. wäre er 100 Jahre alt geworden. In meinem Beitrag fürs Schweizer Radio SRF 2 Kultur blicke ich in der Sendung „Jazz & World aktuell“ auf das Werk des 2012 verstorbenen Sitarmeisters zurück und stelle die Jubiläums-CD-Box „Ravi Shankar Edition“ vor, die den Musiker vor allem im Licht seiner Teamworks mit Musikern der europäischen Klassik zeigt: mit Yehudi Menuhin oder den Dirigenten André Previn und Zubin Mehta.

Die Sendung ist im Live-Stream am Dienstag, den 7.4. ab 20h hier zu hören und wird am Freitag, den 10.4. um 21h wiederholt. In der Schweiz ist er auch noch nachträglich abrufbar.

Ravi Shankar at Monterey, 1967
Quelle: youtube

Kein Mindestabstand


Einer seiner großen Hits hieß „Lean On Me“. Eine Aufforderung, der man derzeit – so absurd es klingt – in den wenigsten Fällen nachkommen darf. Doch bei ihm gab es immer eine große Portion Oxytocin. War er ein Soul-Sänger? Gute Frage. Ja, Withers hatte den Soul aus einer Songwriter-Perspektive, er machte mit seinem nonchalanten Tenor das härteste Funkriff geschmeidig, und er konnte auch seine grandiosen herzschmelzenden Balladen singen, die ins Folk- oder Popfach fielen und mit fulminant-schwülen Streichern funkelten.  Seine Karriere dauerte lediglich bin in die Mitte der 1980er, dann entschloss sich Withers ziemlich konsequent, kein Musikerleben mehr zu führen.

Bereits am Montag ist Bill Withers in L.A. im Alter von 81 Jahren gestorben, wie heute bekannt wurde. Ich nehme Abschied von einer großen, unverwechselbaren Stimme, die soviel mehr war als das ad absurdum in Fernsehfilmen eingeblendete „Ain’t No Sunshine“ –  mit einem Track aus meinem 1972 erschienenen Lieblingsalbum Still Bill, das mir Nancy 2013 zum Geburtstag geschenkt hat.

Bill Withers: „Let Me In Your Life“ (live)
Quelle: youtube

Saint Quarantine #10: Primal Light

Foto: Stefan Franzen

Mit 16 ist mir dieses Werk erstmals begegnet, und es hat mich bis heute nicht losgelassen. Die 2. Symphonie von Gustav Mahler zählt zu seinen stärksten und erschütterndsten Kompositionen, insbesondere das „Urlicht“ und der gewaltige Finalsatz mit dem „Aufersteh’n“-Choral. Jedes Mal, wenn ich dieses Werk höre, egal ob im Konzertsaal oder als Aufnahme, bin ich tief ergriffen.

Wir hätten das Werk zu dieser Stunde, wo ich das schreibe, mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg hören wollen, doch die Zeiten lassen es nicht zu. Das Konzert hätte den Titel „une cathédrale sonore“ getragen, und tatsächlich ist dieses fast 90-minütige Werk, das von einer Totenfeier über genauso selige wie von Ekel geschütterten Rückblendungen aufs Leben bis hin zum Jüngsten Gericht und der Reise in himmlische Sphären berichtet, eine erhabene Kathedrale aus Tönen.

Vor einigen Tagen war der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel mit den Münchner Philharmonikern auf arte mit seiner Lesart der Auferstehungs-Symphonie im Palau de la Música Catalana Barcelona zu sehen. Ein wunderbarer Ersatz und Trost für das ausgefallene Konzert, gerne teile ich hier den Link. Außerdem untenstehend meine Lieblingsinterpretation des „Urlichts“ mit der Altistin Eva Randova und der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Vaclav Neumann.

Gustav Mahler: „Urlicht“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #9: Sílvia en Casa

Foto: Stefan Franzen

Liebe Leute,

die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz wird heute Abend um 21h30 deutscher Zeit ein Wohnzimmerkonzert geben. Sílvias Solo-Konzert im elässischen Bischheim war eines der letzten Konzerte, das ich vor dem Virus besuchen konnte. Seit etlichen Jahren begleitet greenbeltofsound ihre Arbeit, und wir sind gespannt auf ihr Soloalbum Farsa, das demnächst erscheinen wird. Erstmals wird sie dann auch in Deutschland touren. Mit ihrer Version von Leonard Cohens „Hallelujah“ sende ich einen Gruß auf die Iberische Halbinsel und denke an die vielen Opfer, die Covid-19 dort bereits gefordert hat.

Sílvia Pérez Cruz: „Hallelujah“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #8: Journalistische Tiefenschärfe


Liebe Freund*innen,

in den „Zeiten der Krone“ wirken sich die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung natürlich auch auf die Musikzeitschriften aus, insbesondere diejenigen, die sich um musikalische Nischen kümmern. Eine davon ist der Folker, Deutschlands traditionsreichstes Blatt im Sektor Song, Folk und globale Musik mit einer bewegten gesamtdeutschen Geschichte. Die Redaktion hat sich jetzt entschlossen, jede Woche eine der exzellent recherchierten, tiefenscharfen Titelstorys des Magazins zu featuren, um mehr auf sich aufmerksamzu machen und um neue Abonnent*innen zu werben.

Den Anfang macht André Heller im Porträt von Rolf Thomas. Heller ist eine der schillerndsten Figuren der Musikszene seit Jahrzehnten, hat gerade in Berlin eine fulminante Inszenierung von Richard Strauss‘ Rosenkavalier inszeniert. Das allein zeigt schon, wie welt- und genreoffen die Denkweise des Folker in der Themenauswahl ist. Weitere Artikel im aktuellen Heft drehen sich um Will Oldham, Tautumeitas, Balbina und das Kronos Quartet, und wie immer gibt es eine dicke Sektion mit Plattenbesprechungen.

Auf seiner Facebook-Seite postet der Folker derzeit außerdem regelmäßig Wohnzimmerkonzerte in der „Corona-Isolation-Clip-Teilen-Serie“, zuletzt etwa von niemand geringerem als Reinhard Mey. Dort gibt es auch das regelmäßige Folker-Mixtape von Byte FM zu hören, das die im Heft vorgestellten Künstler*innen in die akustische Dimension verlängert.

Saint Quarantine #7: Ein Kyrie mit Rabih

Die Würdigungen ausgefallener Konzerte betreffen heute das Jazzhaus Freiburg: Dort hätten wir in normalen Zeiten am heutigen Sonntagabend den libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil erleben dürfen. Wir hatten verabredet, dass wir uns da endlich auch mal persönlich kennenlernen. Wir holen das nach, lieber Rabih! Aus gegebenem Anlass kommt hier nochmals der Artikel, den ich im letzten Sommer nach meinem Telefoninterview fürs Jazz thing geschrieben habe.

In seiner reiferen Phase hat Rabih Abou-Khalil zu einem anderen Schaffenstempo gefunden. Sieben Jahre Albumpause gab es seit „Hungry People“, sein neues Werk The Flood And The Fate Of The Fish (enja) hat er entspannt zuhause eingespielt. Stefan Franzen unterhielt sich mit ihm über das Lebensgefühl in Frankreich, den Klang der Bass-Oud, knusprigen Studiosound und Orson Welles‘ Werbespots.

„Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was bei der Sintflut mit den Fischen passiert?“ Rabih Abou-Khalil lacht herausfordernd, im Hintergrund hört man die Brandung der Côte d’Azur. „Ich habe richtig Ärger gekriegt, als ich die Frage gestellt habe. Für mich ist sie ein Sinnbild dafür, wie wir als Menschen vor offensichtlichen Tatsachen und Problemen die Augen verschließen, wenn wir ein anderes Ziel haben.“ Den Elefanten im Raum nicht sehen wollen – das gilt im Privaten genauso wie auf klimapolitischer Ebene, selbst wenn es um unser Überleben geht. Doch Abou-Khalil ist kein strenger Mahner, bei ihm spricht die Musik für sich, Titel für seine Stücke und Alben findet er oft erst im Nachhinein, und die können dann schon mal humoresk bis sarkastisch ausfallen.

Das Meeresrauschen als Background für unser Gespräch schmeckt nach Urlaub. Hat sein neuer Wohnsitz bei Cannes auf seine Musik abgefärbt? „Ich bin ja nicht mit zwanzig hier hingezogen, wo ein Ortswechsel dich noch verändert“, sagt der Libanese. „80 Prozent der Leute, die hier leben, kommen gar nicht von hier. Südfrankreich ist, abgesehen von den großen Städten, ein kulturelles Vakuum, und das gefällt mir, denn ich habe hier völlige Freiheit zu tun, was ich will.“ Es ist ein wenig paradox: Mit sieben Musikern sind so viele Künstler an einem Abou-Khalil-Album beteiligt wie schon lange nicht mehr, neben den festen Triomitgliedern Jarrod Cagwin (dr) und Luciano Biondini (acc) sind Saxophonist Gavino Murgia und Ney-Virtuose Kudsi Ergüner dabei, eine zentrale Rolle spielt der portugiesische Fadista Ricardo Ribeiro und ganz neu in Abou-Khalils Arche ist die Japanerin Eri Takeya, die als klassische Violinistin lange Haltetöne als Textur für die vielen kurztönigen Instrumente lieferte. Trotzdem klingt alles durchlässiger, intimer.

Das liegt daran, dass von Stück zu Stück die Konstellationen wechseln, nie alle gleichzeitig spielen. „Ich habe viele Stücke mit verschiedenen Besetzungen versammelt, an denen ich parallel gearbeitet habe. Aber ich wollte keine drei CDs rausbringen, und so entstand die Idee mit den kammermusikalischen Gruppen. Und wichtig war mir, dass das nicht an zwei oder drei Tagen gemacht wird, sondern dass wir uns Zeit nehmen, und zwar bei mir zuhause, wo wir zusammen essen, leben und aufnehmen. Ich denke, das hört man auch.“ „Kammermusikalisch“ heißt allerdings nicht, dass das Werk einen besonders intimen Sound hätte, im Gegenteil. Günther Kasper, der die Aufnahmen nach dem Tod des langjährigen Pultmannes Walter Quintus beendete, hat einen präsenten, rockigeren Sound rausgekitzelt. „Knuspriger!“, sagt Rabih Abou-Khalil, und spielt damit auf ein grandioses, zickzack-metriges Stück namens „Crisp Crumb Coating“ an – den Titel hat er einem Commercial von Orson Welles für Fischstäbchen entlehnt. Da sind sie schon wieder, die Fische.

Ganz wesentlich prägt den Sound auch eine instrumentatorische Neuerung: „Seit vielen Jahren habe ich eine Bass-Oud, die eine Oktave tiefer gestimmt ist“, verrät Abou-Khalil. „So ein Instrument wurde schon vom arabisch-persischen Philosophen und Wissenschaftler Al-Farabi im Mittelalter beschrieben. Ich habe mir das damals von meinem Instrumentenbauer in München fertigen lassen, aber es war so groß, dass ich nicht darauf spielen konnte. Jetzt habe ich mich konsequent dahintergeklemmt, und siehe da: Der Körper passt sich an alles an!“ Da Michel Godard mit seinem Fuhrpark an Bassinstrumenten dieses Mal nicht dabei ist, haben alle, Abou-Khalil selbst, Akkordeonist Biondini und auch Schlagzeuger Jarrod Cagwin Bass-Funktionen übernommen.

Zentral aber sind die Gesangsstücke: Abou-Khalils long time companion Ricardo Ribeiro glänzt in einer Vertonung des bekannten, religionskritischen „Kyrie“ vom Poeten Ary Dos Santos, in „Falso Amor“ führt er die Hörer zurück in die Zeit, als Portugal arabisch war, und bei „Grãos De Area“ stellen sich Ribeiro und Kudsi Ergüner auf einen Dialog zwischen Stimme und Flöte ein – für beide eine chromatische Herausforderung. Ribeiro, so Rabih Abou-Khalil, habe es auch dieses Mal wieder geschafft, den Fado zu transzendieren. „Diese Fähigkeit, über das hinaus zu gehen, was das Ureigene ist, aber gleichzeitig nie das zu verlieren, was einen auszeichnet: Die suche und schätze ich bei vielen Musikern, mit denen ich arbeite. Ich glaube, ich habe ein besonderes Talent das zu erkennen.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #130

Rabih Abou-Khalil: „Kyrie“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #6: Anwältin der Menschlichkeit

Awa Ly
Safe & Sound
(Flowfish Records/Broken Silence)

Heute hätte die Senegalesin Awa Ly das Tollhaus Karlsruhe beehrt, um ihr neues Album Safe & Sound vorzustellen. Aus bekannten Gründen wird das nicht passieren. Als kleinen Ersatz hier mein Porträt dieser grandiosen Künstlerin, die wir hoffentlich nach überstandener Pandemie mit einem Ersatzkonzert begrüßen dürfen. Alles Gute nach Italien, Awa! Und bitte schaut mal auf der Seite des Tollhauses vorbei, das eine Fülle an Streams und Podcasts während dieser schwierigen Wochen anbietet. Auch Awa Ly sendet uns hier ihre musikalischen Grüße.

„Dass man im Jahre 2020 darum noch kämpfen muss! Dafür habe ich keine Worte.“ Mehrmals sagt Awa Ly das während unseres Interviews. Die Senegalesin mit Wohnsitz Italien ist eine Anwältin für die Menschlichkeit, und das probate Mittel für ihren Kampf ist Musik, denn damit, so ihre Überzeugung, könne man eben am direktesten die Herzen erreichen. Nachdem sie auf ihrem Debüt Five And A Feather, das sie 2017 im Jazzhaus und auf dem Stimmen-Festival vorstellte, noch eher akustisch unterwegs war, hat sich ihr Sound mit dem Produzenten Polérik Rouvière jetzt merklich verändert. „Schon als ich die ersten Lieder schrieb, fühlte ich eine hypnotische, berauschende Rhythmik in mir“, erklärt sie. „Eine Rhythmik, die mich an die Erde erinnert, fast tribal ist, aber nicht nur im afrikanischen Sinne. Denn der Rhythmus spielte ja seit der grauen Vorzeit in der Menschheitsgeschichte immer eine Rolle, wenn man sich in einen anderen Zustand, eine Trance versetzen wollte.“

Tatsächlich sind die Songs auf Safe & Sound geprägt von Call and Response-Chören, von jeder Art von perkussiver Gestaltung bis hin zu Klatschen und Trommeln auf der Wasseroberfläche, aber auch dem dezenten Gebrauch von Elektronik. Den Gegenpol stellt ein Streichquartett dar, das in einigen Songs für eine europäische Akzentuierung sorgt. „Ich bin sehr zufrieden mit dem Gleichgewicht, das wir da gefunden haben“, sagt Awa Ly, für die die Arbeit mit klassischen Streichern ein Premiere war, bei der sie viel gelernt habe.
Awa Ly sieht sich als eine moderne Schamanin, die ihrem Publikum mit jedem Song eine kleine Frage mit auf den Weg gibt, Fragen nach dem Platz des Einzelnen in seiner Umgebung, in der Natur, ja, im Universum. „Es ist eine Einladung zur Innenschau, dafür, dass du dich selbst kennenlernen kannst. Erst einmal für seine Seele zu sorgen hat nichts mit Egoismus zu tun, erst wenn du dich selbst kennst, kannst du Neugier für die anderen entwickeln.“ Diese Innenschau fehlt heute, so sagt sie.

Ein schönes Sinnbild dafür ist das Video zu ihrer Single „Close Your Eyes“. Lange Reihen von Menschen stehen da in einer Lagerhalle, sie starren auf ihre Smartphones, aber ihre Augen sind verbunden. „Das Smartphone ist nur ein Symbol für alle Bildschirme, Radios, Zeitungen, aus denen gefilterte Infos auf uns einströmen, die wir für bare Münze nehmen. Es ist wichtig, dass wir uns selbst befragen, was davon uns guttut. Der feine Unterschied zwischen anschauen und hinschauen.“ Vorbild ist für sie etwa die sudanesische Freiheitsaktivistin Alaa Sanah, die durch flammende Reden die Bevölkerung für ihre Selbstbestimmung wachrüttelte, und die sie im Clip zu „Close Your Eyes“ verkörpert. Vorbild ist aber auch eine ungenannte spirituelle Leitfigur, der sie den Song „Mesmerizing“ gewidmet hat, weil sie sie durch die Entwicklung des Albums begleitet hat. „Mir geht es nicht um feministische Appelle“, stellt Awa Ly klar, „ich kämpfe für die Menschlichkeit an sich. Aber natürlich bin eine Frau, fühle als Frau, und ich fühle, dass ich das Recht habe, alles zu tun. Bedauerlicherweise gilt das ja noch lange nicht für alle Frauen.“

Dass Awa Ly ihre neue CD Safe & Sound genannt hat, war eine Art Eingebung, wie sie sagt. Nach den Aufnahmen stand ihr diese Zeile förmlich vor Augen. Ihre Musik begreift sie als Schutzraum, eine Sicherheitszone, in die man eintauchen kann, wenigsten für die Zeit des Hörens. Für Ly, die sich als Senegalesin mit Lebenszentrum Europa für die Geflüchteten engagiert, ist es unbegreiflich, dass über das Ob und Wie der Rettung von Menschen aus dem Mittelmeer debattiert werden muss. „Ich habe das Privileg, dass ich nicht aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Problemen heraus fliehen musste. Daher habe ich die Verpflichtung, denen Halt zu geben, die dieses Glück nicht haben.“

© Stefan Franzen

Awa Ly: „Mesmerizing“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #5: Eurasisches Reisetagebuch

Heute Abend hätten in der Reihe „Akustik in Agathen“ in Schopfheim-Fahrnau Claire Antonini, Expertin für Alte Musik und Theorbenspielerin und der Bassist Renaud Garcia-Fons mit ihrer Musik die akustisch exzellente Kapelle St. Agathen gefüllt. Wie so viele Konzerte derzeit muss auch dieses ausfallen. Anja Lohse und Bernhard Wehrle, seit 2002 die beiden rührigen Organisatoren der Weltmusik- und Folk-Reihe im Wiesental, freuen sich aber auf einen späteren Ersatztermin. Wenn ihr euch für diese Konzertreihe interessiert, die über das Dreiländereck hinaus kulturell bereichert, schreibt den beiden über akustik-in-agathen@posteo.de.

Um für den vorläufig ausgefallenen Live-Hörgenuss zu entschädigen, Musik aus der aktuellen CD von Antonini und Garcia-Fons, die ich schon 2019 auf meiner Bestenliste hatte: Die neunzehn Miniaturen des feinen Werkes Farangi – Du Baroque À L’Orient (e-motive/Galileo) gleichen einer fantasiereichen, mit Arabesken versehenen und barock ausziselierten eurasischen Reise und sie umspannen Jahrhunderte. Die beiden Musiker weiten die Klangfarben ihrer Instrumente tief hinein in den Iran, nach Kurdistan oder Syrien, sie können aber auch – etwa in einer reizenden Chaconne – ganz höfisch klingen. Ausgesucht habe ich das träumerische „Le Sommeil de Majnún“.

Claire Antonini & Renaud Garcia-Fons: „Le Sommeil De Majnún“
Quelle: youtube