Saint Quarantine #7: Ein Kyrie mit Rabih

Die Würdigungen ausgefallener Konzerte betreffen heute das Jazzhaus Freiburg: Dort hätten wir in normalen Zeiten am heutigen Sonntagabend den libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil erleben dürfen. Wir hatten verabredet, dass wir uns da endlich auch mal persönlich kennenlernen. Wir holen das nach, lieber Rabih! Aus gegebenem Anlass kommt hier nochmals der Artikel, den ich im letzten Sommer nach meinem Telefoninterview fürs Jazz thing geschrieben habe.

In seiner reiferen Phase hat Rabih Abou-Khalil zu einem anderen Schaffenstempo gefunden. Sieben Jahre Albumpause gab es seit „Hungry People“, sein neues Werk The Flood And The Fate Of The Fish (enja) hat er entspannt zuhause eingespielt. Stefan Franzen unterhielt sich mit ihm über das Lebensgefühl in Frankreich, den Klang der Bass-Oud, knusprigen Studiosound und Orson Welles‘ Werbespots.

„Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was bei der Sintflut mit den Fischen passiert?“ Rabih Abou-Khalil lacht herausfordernd, im Hintergrund hört man die Brandung der Côte d’Azur. „Ich habe richtig Ärger gekriegt, als ich die Frage gestellt habe. Für mich ist sie ein Sinnbild dafür, wie wir als Menschen vor offensichtlichen Tatsachen und Problemen die Augen verschließen, wenn wir ein anderes Ziel haben.“ Den Elefanten im Raum nicht sehen wollen – das gilt im Privaten genauso wie auf klimapolitischer Ebene, selbst wenn es um unser Überleben geht. Doch Abou-Khalil ist kein strenger Mahner, bei ihm spricht die Musik für sich, Titel für seine Stücke und Alben findet er oft erst im Nachhinein, und die können dann schon mal humoresk bis sarkastisch ausfallen.

Das Meeresrauschen als Background für unser Gespräch schmeckt nach Urlaub. Hat sein neuer Wohnsitz bei Cannes auf seine Musik abgefärbt? „Ich bin ja nicht mit zwanzig hier hingezogen, wo ein Ortswechsel dich noch verändert“, sagt der Libanese. „80 Prozent der Leute, die hier leben, kommen gar nicht von hier. Südfrankreich ist, abgesehen von den großen Städten, ein kulturelles Vakuum, und das gefällt mir, denn ich habe hier völlige Freiheit zu tun, was ich will.“ Es ist ein wenig paradox: Mit sieben Musikern sind so viele Künstler an einem Abou-Khalil-Album beteiligt wie schon lange nicht mehr, neben den festen Triomitgliedern Jarrod Cagwin (dr) und Luciano Biondini (acc) sind Saxophonist Gavino Murgia und Ney-Virtuose Kudsi Ergüner dabei, eine zentrale Rolle spielt der portugiesische Fadista Ricardo Ribeiro und ganz neu in Abou-Khalils Arche ist die Japanerin Eri Takeya, die als klassische Violinistin lange Haltetöne als Textur für die vielen kurztönigen Instrumente lieferte. Trotzdem klingt alles durchlässiger, intimer.

Das liegt daran, dass von Stück zu Stück die Konstellationen wechseln, nie alle gleichzeitig spielen. „Ich habe viele Stücke mit verschiedenen Besetzungen versammelt, an denen ich parallel gearbeitet habe. Aber ich wollte keine drei CDs rausbringen, und so entstand die Idee mit den kammermusikalischen Gruppen. Und wichtig war mir, dass das nicht an zwei oder drei Tagen gemacht wird, sondern dass wir uns Zeit nehmen, und zwar bei mir zuhause, wo wir zusammen essen, leben und aufnehmen. Ich denke, das hört man auch.“ „Kammermusikalisch“ heißt allerdings nicht, dass das Werk einen besonders intimen Sound hätte, im Gegenteil. Günther Kasper, der die Aufnahmen nach dem Tod des langjährigen Pultmannes Walter Quintus beendete, hat einen präsenten, rockigeren Sound rausgekitzelt. „Knuspriger!“, sagt Rabih Abou-Khalil, und spielt damit auf ein grandioses, zickzack-metriges Stück namens „Crisp Crumb Coating“ an – den Titel hat er einem Commercial von Orson Welles für Fischstäbchen entlehnt. Da sind sie schon wieder, die Fische.

Ganz wesentlich prägt den Sound auch eine instrumentatorische Neuerung: „Seit vielen Jahren habe ich eine Bass-Oud, die eine Oktave tiefer gestimmt ist“, verrät Abou-Khalil. „So ein Instrument wurde schon vom arabisch-persischen Philosophen und Wissenschaftler Al-Farabi im Mittelalter beschrieben. Ich habe mir das damals von meinem Instrumentenbauer in München fertigen lassen, aber es war so groß, dass ich nicht darauf spielen konnte. Jetzt habe ich mich konsequent dahintergeklemmt, und siehe da: Der Körper passt sich an alles an!“ Da Michel Godard mit seinem Fuhrpark an Bassinstrumenten dieses Mal nicht dabei ist, haben alle, Abou-Khalil selbst, Akkordeonist Biondini und auch Schlagzeuger Jarrod Cagwin Bass-Funktionen übernommen.

Zentral aber sind die Gesangsstücke: Abou-Khalils long time companion Ricardo Ribeiro glänzt in einer Vertonung des bekannten, religionskritischen „Kyrie“ vom Poeten Ary Dos Santos, in „Falso Amor“ führt er die Hörer zurück in die Zeit, als Portugal arabisch war, und bei „Grãos De Area“ stellen sich Ribeiro und Kudsi Ergüner auf einen Dialog zwischen Stimme und Flöte ein – für beide eine chromatische Herausforderung. Ribeiro, so Rabih Abou-Khalil, habe es auch dieses Mal wieder geschafft, den Fado zu transzendieren. „Diese Fähigkeit, über das hinaus zu gehen, was das Ureigene ist, aber gleichzeitig nie das zu verlieren, was einen auszeichnet: Die suche und schätze ich bei vielen Musikern, mit denen ich arbeite. Ich glaube, ich habe ein besonderes Talent das zu erkennen.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #130

Rabih Abou-Khalil: „Kyrie“
Quelle: youtube