Engagierte Bounciness (#10 – Canada 150)

Alysha Brilla (Ontario)
aktuelles Album: Human ( SunnyJam Records)

Mitten in einem Schneesturm treffe ich in der Zwillingsstadt Kitchener-Waterloo südlich von Toronto ein. Ein besonders kurioses Beispiel für Kanadas Einwanderergeschichte: Bis in die 1920er hieß der Ort aufgrund der vielen Deutschstämmigen Berlin. Dabei wäre München passender: Im Zentrum der Stadt thront ein Laden, in dem sich Dirndl und Bierkrüge erstehen lassen, und eine riesige Mehrzweckhalle kündet vom alljährlich stattfindenden Oktoberfest, angeblich das zweitgrößte der Welt.

Die Nachbarstadt Waterloo dagegen ist in der Hand von Studenten. Nur mit Mühe finde ich in den Schneeverwehungen ein kleines vegetarisches Restaurant, wo ich mit Alysha Brilla verabredet bin. Sie hat mich zum Interview hierher eingeladen, denn sie will, dass ich ihre Heimatstadt kennenlerne. Mit beschlagener Brille stolpere ich die enge Treppe hinauf und stehe erst einmal in einem Plattenladen: Vollgestopft mit Vinyl-Raritäten bis unter die Dachschräge. Alysha aber sitzt unten bei einer heißen Suppe. Biographisch und musikalisch ist sie eine Art Bilderbuchmodell für die kanadische Diversität: die Mutter weiße Christin, der Vater indo-tansanischer Muslim.

Ich möchte mit deinem gemischten Hintergrund starten: Wie waren als Kind und Jugendliche deine Erfahrungen als Tochter einer Kanadierin und eines Indo-Tansaniers? Fühltest du dich als Außenseiterin?

Alysha Brilla: Ich fühlte mich mit meinem gemischten Erbe schon ein bisschen als Außenseiter, als ich jünger war, denn ich kannte nicht viele Leute, die auch diesen Background hatten. Klar, die Leute aus der Karibik durch ihre Vorfahren, aber ich kannte nicht viele, deren Mum aus einem und deren Dad aus einem anderen Land kamen. Das hat dazu geführt, dass ich viel über die Bedeutung von Identität nachgedacht habe. Meine Eltern hatten ja auch verschiedene Religionen: Meine Mutter wuchs als Christin auf, mein Großvater war ein Geistlicher, wohingegen mein Vater ein Schiit ist. Manchmal gingen wir zur Kirche, manchmal zum Jamatkhana-Gotteshaus, manchmal waren wir sehr westlich angezogen, wenn wir zur Jamatkhana gingen dagegen indische Kleidung. Und auf der Basis dieses gemischten Hintergrunds gab es immer viele politische Diskussionen in meinem Elternhaus. Weiterlesen

Schatzkiste #29: Yorkville remembered

joni mitchell - cloudsJoni Mitchell
Clouds
(Reprise, 1969)

Als ich heute kurz vor einem Schneesturm bei minus 10 Grad (der kanadische März…) durch Yorkville streifte, das ehemalige Hippie-Viertel Torontos, konnte ich mir kaum mehr vorstellen, was sich dort in den 1960ern abgespielt haben muss. Die Gegend ist gentrifiziert bis gesichtslos, viele der ehemaligen Clubs sind abgerissen. Auch das Gebäude des legendären Riverboat, 134 Avenue Road steht nicht mehr.
Hier haben zwischen 1964 und 1978 Richie Havens, Simon & Garfunkel, Gordon Lightfoot und auch Joni Mitchell gespielt, von Joni wird gesagt, hier habe sie „Night In The City“ geschrieben und ihren Hit „Both Sides Now“ erstmals einem Publikum vorgestellt. Ehrensache also, dass ich ihr zweites Album, auf dem sich diese erhabene Folkhymne befindet, aus Kanada mitbringe, auch wenn ich es nicht in der Ontario-Metropole, sondern im großartig sortierten Aux 33 Tours in Montréal gefunden habe.

Joni Mitchell: „Both Sides Now“
Quelle: youtube

Listenreich: 2016

ALBEN

alben-2016

1. Bears Of Legend (CAN): Ghostwritten Chronicles (Absilone/Galileo)
2. Aaron Neville (USA): Apache (Tell It Records/Rough Trade)
3. Josienne Clarke & Ben Walker (GB): Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
4. Aynur, Kayhan Kalhor, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri (KURD/IR/ASB): Hawniyaz (Latitudes/Harmonia Mundi)
5. Ed Motta (BRA): Perpetual Gateways (MustHaveJazz/Membran)
6. Fraser Anderson (SCO): Under The Cover Of Lightness (Membran)
7. Graveola (BRA): Camaleão Borboleta (Mais Um Discos)
8. Osei Korankye (GHA): Seperewa Of Ghana – Ɛmmerɛ Nyina Nsɛ (Akwaaba Music)
9. Federspiel (A): Smaragd (col legno/Harmonia Mundi)
10. Pulsar Trio (D): Caethes Traum (T3 Records/Galileo)
11. Sivan Talmor (ISR): Fire (Chaos/in-akustik)
12. The Fretless (CAN): Bird’s Nest (Eigenverlag)
13. Sílvia Pérez Cruz (Katalunya): Domus (Universal Spain)
14. Maarja Nuut (EST): Une Meeles (Eigenverlag)
15. Emicida (BRA): Sobre Crianças, Quadris, Pesadelos & Lições De Casa (Sterns Brasil/Alive)
16. Ian Fisher (USA): Nero (Snowstar Records)
17. Nils Kercher (D): Suku (Ancient Pulse Records)
18. Oum (MAR): Zarabi (Galileo)
19. Tamer Abu Ghazaleh (Palästina): Thulth (Mostakell)
20. Gaye Su Akyol (TK): Hologram Imparatorluğu (Glitterbeat/Indigo)
21. The Breath (IRL/GB): Carry Your Kin (RealWorld/Rough Trade)
22. Roberto Fonseca (CUB): ABUC (Impulse/Universal)
23. Noura Mint Seymali (MAU): Arbina (Glitterbeat/Indigo)
24. Melingo (ARG): Anda (World Village/Harmonia Mundi)
25. Miramar (Puerto Rico): Dedication To Sylvia Rexach (Barbès Records)

SONGS

songs-20161. Bears Of Legend (CAN): „When I Saved You From The Sea“
2. Ian Fisher (USA): „Nero“
3. Mockemalör (D): „Punkerengel“
4. Fraser Anderson (SCO): „Simple Guidance“
5. Alejandra Ribera (CAN): „I Am Orlando“
6. Ed Motta (BRA): „Forgotten Nickname“
7. Cristina Branco (P): „As Vezes Me Dou Pro Mim“
8. Christa Couture (CAN): „Des Oiseaux“
9. Andrea Samborski (CAN): „Tiger Lillies“
10. Sivan Talmor (ISR): „I’ll Be“

KONZERTE

konzerte-20161. Alejandra Ribera (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 9.7.)
2. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (New Morning Paris, 2.6.)
3. Mulatu Astatke (Filature Mulhouse, 5.2.)
4. Manu Dibango (Jazzhaus Freiburg, 7.4.)
5. Richard Bona (Burghof Lörrach, 26.11.)
6. Glen Hansard (Heine-Park Rudolstadt, 10.7.)
7. Firas Hassan, Mohamad Fityan & Taufik Mirkhan (Synagoge Sulzburg, 1.9.)
8. Ballaké Cissoko & Vincent Ségal (Théâtre des Champs-Élysées Paris, 31.5.)
9. The Fretless (St. Agathen Schopfheim-Fahrnau, 7.10.)
10. Arezoo Rezvani & Murat Coskun (E-Werk Freiburg, 18.12.)
11. Anouar Brahem (Reithalle Offenburg, 13.11.)
12. Mbongwana Star (Kaserne Basel, 30.11.)
13. Building Bridges (E-Werk Freiburg, 30.10.)
14. German López (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 8.7.)
15. Hindi Zahra (Rosenfelspark Lörrach, 15.7.)

FILME

1. Genius (Michael Grandage, GB/USA)
2. Vor der Morgenröte (Maria Schrader, D/A/F)
3. Tim Maia (Mauro Lima, BRA)
4. Mali Blues (Lutz Gregor, D/MAL)
5. Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami, Afghanistan/Iran)
6. Love & Mercy (Bill Pohlad, USA)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Arrival (Dennis Villeneuve, CAN)
9. Frank Zappa – Eat That Question (Thorsten Schütte, D/F)
10. Iraqi Odyssey (Samir, Irak/CH/D/VAE)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION / LYRIK

1. Richard Powers: “Orpheus” (Fischer)
2. Harper Lee: „To Kill A Mockingbird“ (Grand Central Publishing)
3. Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fischer)
4. Arseni Tarkowskij: „Reglose Hirsche“ (Edition Ruderup)
5. Henry Thoreau: “Walden” (Barnes & Noble)

NON-FICTION

1. Michelle Mercer: “Will You Take Me As I Am – Joni Mitchell’s Blue Period” (Free Press)
2. Trevor Cox: “Das Buch der Klänge” (Springer Spektrum)
3. Alan Light: “The Holy or the Broken: Leonard Cohen, Jeff Buckley and the Unlikely Ascent of ‚Hallelujah'“ (Atria Books)
4. Jens Rosteck: „Jacques Brel – Der Mann, der eine Insel war“ (Mare)
5. Jonathan Franzen: „Farther Away“ (Picador)

AUSSTELLUNGEN

1. Giorgio Di Chirico – „Magie der Moderne“ (Staatsgalerie Stuttgart)
2. Lynette Yiadom-Boakye – „A Passion To A Principle“ (Kunsthalle Basel)
3. Paula Modersohn-Becker u.a.: „Worpsweder Landschaften“ (Kunsthalle Worpswede)
4. Joan Miró – „der leidenschaftliche Malerpoet“ (Kunsthalle Messmer Riegel)
5. Paul Klee – „L’Ironie À L’Œuvre“ (Centre Pompidou, Paris)

Fliehkraft aus dem Fado

cristina-branco                                                                     Foto: Pedro Ferreira

Als Nationalgenre übt der Fado in Portugal eine solche Gravitation aus, dass es schwierig ist, sich konsequent von ihm zu lösen. Cristina Branco hat es geschafft, genügend Fliehkraft zu entwickeln, indem sie sich mit der Indierock-Szene zusammengeschlossen hat. Kurioserweise ist Menina (VÖ 6.1.2017) gerade dadurch ihr reifstes Album geworden. In Köln konnte ich Cristina Branco zu ihrem neuen Werk befragen.

Auf Ihrem letzten Album Alegria sind Sie in die Schuhe von verschiedenen Persönlichkeiten geschlüpft. Auf Menina geht es weiter mit diesen Charakterporträts. Wie unterscheiden sich die beiden Alben?

Auf Alegria habe ich zwölf verschiedene Charaktere geschaffen, die ich verschiedenen Autoren gegeben habe. Die Charaktere waren nicht zwangsläufig Frauen, auch ein Clown war zum Beispiel dabei. Menina handelt aber ausschließlich von Frauen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Stärke. Im Portugiesischen können Frauen vom Moment ihrer Geburt bis zu ihrem Tod „menina“ genannt werden. Es ist das kleine Mädchen, die Tante, die eine alte Jungfer geblieben ist, die Witwe, die lange Beziehungsgeschichten hinter sich hat, auch die Prostituierte. Nur die verheiratete Frau heißt „senhora“. „Menina“ ist ein Kosewort, um Weiblichkeit zu feiern. Es wird auch verwendet, wenn man das Alter einer Frau nicht einschätzen kann. Ein blödes Beispiel: Als mir neulich ein Postbote ein Päckchen brachte, fragt er mich: „Sind Sie Menina Cristina Branco?“ „Und ich sagte: „Ja, das bin ich!“! Da war ich natürlich geschmeichelt. Ich fragte für dieses Album sehr junge Autoren an, sie kommen aus der portugiesischen Indierock-Szene. Ich bat sie, über mich zu schreiben. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ich heute bin, was ich bis jetzt getan habe, und versuchen, etwas über die Voraussetzungen zu schreiben, was es bedeutet, eine Frau zu sei. Eine Sichtweise junger Leute darauf. Und es geht nicht nur um mich: Es geht um ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Schwestern. Weiterlesen

(he)artstrings #12: Heilige Welle

alejandra-ribera-swAlejandra Ribera
„St. Augustine“ (Alejandra Ribera)
(aus: La Boca, 2014)

Als ich den Song das erste Mal hörte, dachte ich, St.Augustine wäre eine verschlüsselte Widmung an einen Platz in Montréal. Etwa so, wie auch Kate & Anna McGarrigles „Complainte pour Ste. Cathérine“ der Rue St. Cathérine gewidmet ist, in der gleichen Stadt (siehe (he)artstrings #8). Aber dann traf ich die Autorin, und die rückte das mit folgenden Worten zurecht:

„Ich las die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus, zu einer Zeit, in der ich mich sehr verloren und niedergeschlagen fühlte. Ich suchte nach einem Weg, wie ich mir selbst vergeben könnte, und was ich am allernötigsten brauchte, das war Glaube. Wenn ich schreibe: ‚Heiliger Augustinus, ich beneide dich, du hattest immer die Emerald City, nach der du streben konntest‘, dann kam das aus dem Bedürfnis heraus, in irgendeiner Hinsicht Sicherheit, Geborgenheit zu spüren, auch wenn es nur eine imaginäre Burg im Himmel sein sollte.“

„St. Augustine“ ist einer der langsamsten Songs, die ich kenne. Die Klage über die Verlorenheit  kommt wie eine Countryballade in äußerster Zeitlupe daher, als wäre nicht nur die Zielrichtung im Leben, sondern überhaupt auch die Zeit abhanden gekommen. Kanadier scheinen für das Innige und das Langsame eine Ader zu haben: Manche werden sich noch erinnern, wie die Cowboy Junkies Ende der 1980er mal als die leiseste Band der Welt gepriesen wurden. Alejandra Ribera schlägt den Rekord in diesem Song vielleicht.

Zurückgeholt wird der Hörer aus dem Nirwana durch einen fantastischen Einfall: Ein Tonartenwechsel verbindet sich mit einem dräuenden Emporschrauben einer Klangwelle aus Knackgitarre, Blechbläsern und Riberas Stimme, die beim Zurückschwappen dann wiederum in eine andere Tonart geht. Ganz so wie die verschiedenen Geräusche, die ein anrollender Brecher und die Rückströmung machen. Stellt euch mal an den Strand, und ihr habt ab sofort dabei immer die Stelle aus „St. Augustine“ im Ohr. Alejandra dazu nochmals selbst:

„Es gibt Momente, in denen du Musik, die tatsächlichen Noten und Arrangements wie eine buddhistische Weisheit einsetzen kannst. Du nimmst die Botschaft und destillierst sie, so wie sie nicht erklärt, sondern nur gefühlt werden kann. Da musst du lange drüber brüten. Für mich ist dieser Teil mit den Blechbläsern wie eine Unterströmung einer Welle, die dich von hinten erfasst, dich hochhebt und dich mitnimmt. Vielleicht gerätst du unter die Welle, vielleicht schaffst du es, oben zu bleiben. Aber die ganze Sache bleibt immer in Bewegung. Ob du also in einem Zustand von Freude oder von Traurigkeit bist, er wird nie permanent sein. Wo immer du auch bist, Schätzchen, in fünf Minuten wirst du nicht mehr da sein.“

Dass Alejandra Ribera den Heiligen Augustinus als den ersten Autor quasi autobiographischer Bekenntnisse anruft, hat gerade bei ihr als Kanadierin noch einen doppelten Boden: Ihre Landsfrau Joni Mitchell ist immer wieder als die erste „confessional songwriter“ bezeichnet worden, hat vor fast 50 Jahren diese Tradition begründet, obwohl sie das Wort „confessional“ wegen seiner Nähe zur katholischen Kirche hasste und auch die Lehren von Augustinus mit ihrer Verankerung in den Begriffen Sünde und Scham verabscheute. „Confessional wrtiting“, so Mitchell, müsse immer über das Autobiographische ins Allgemeine hinauswirken, um einen Song stark zu machen.  In diesem Sinne ist „St.Augustine“ die Reflektion eines Zustandes, den wir alle kennen. Man ist gefangen in einer absoluten Niedergeschlagenheit, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint, bis einen völlig unerwartet etwas aus der Lethargie hebt und irgendwo anders hin trägt, ohne dass man die neue Zielrichtung schon kennen würde.

Unten der Link zu einer Live-Version, ich rate darüber hinaus zum Hören der Studioeinspielung vom Album La Boca, in der die Wirkung der „Welle“ noch um einiges imposanter ist.

Alejandra Ribera: „St. Augustine“
Quelle: youtube

Klick hier zum Hintergrund von (he)artstrings

Constant as a Northern Star

Mit ihm ging es mir so, wie es mir mit Bob Dylan geht: Die Stimme versperrt mir vielfach den Zugang zu seiner Liedkunst. Großartig fand ich es immer, wenn ihn andere gecovert haben (Sandy Denny, Jeff Buckley, Rufus Wainwright…) oder wenn über ihn gedichtet wurde (allen voran in Joni Mitchells „A Case Of You“). Oft hat er selbst Frauenstimmen in den Vordergrund gestellt, um seine Poesie umzusetzen, wie Sharon Robinson oder Anjani. Zum Tod von Leonard Cohen,  dem Meister des Liebesdunkels und des Liebesflüchtigen, ein unbeschwerter Folksong aus seiner späten Feder. Wohl nie mehr wird es eine Nachtigall mit einer tieferen Stimme geben.

Anjani & Leonard Cohen: „Nightingale“
Quelle: youtube

Side tracks #21: Im Schlafwagen der verlorenen Liebe

joni-mitchell

flagge-kanada-flagge-button-50x75Joni Mitchell:
„Just Like This Train“
(aus: Court & Spark, 1974)

Mit der Canadian Railroad Trilogy hat Gordon Lightfoot vor einigen Wochen die kanadische Eisenbahnsektion eröffnet – und eine Trilogie schaffen wir hier in Kürze auch – mindestens.

Im bittersüßen Sarkasmus enttäuschter Liebe führt uns Joni Mitchell auf die Gleise, vergleicht ihren Zustand mit dem eines immer verspäteten Zuges, der in den Bahnhof hineinwackelt. Und während sie über die Gründe nachdenkt, warum sie ihre Liebe verloren hat, nimmt sie in einem überfüllten Wartesaal Platz und besteigt schließlich einen Schlafwagen, der sie und ihren Liebesschmerz hinweg trägt. Besonders sympathisch macht die Geschichte natürlich die Erwähnung einer „bottle of German wine“.

Es gibt von diesem Song seit diesem Jahr auch eine Version von Jochen Distelmeyer, mit der ich persönlich gar nicht anfangen kann. Jonis Original vom Album Court & Spark ist hier . Mochte ich bislang Blue und vor allem das allererste Werk Song To A Seagull am liebsten, entwickelt sich Court & Spark langsam aber sicher zu meiner Lieblingsscheibe. Es hat schon ein paar jazzige Züge, aber nicht zu viele,  ist unglaublich raffiniert instrumentiert bis hin zu fein aufgefächertem Symphonieorchester, und ist durch diese reichen Arrangements nicht mehr so direkt schmerzlich, so offensichtlich autobiographisch wie Blue.

2002 hat sie „Just Like This Train“ erneut mit Orchester eingespielt (auf dem Album Travelogue), und in den 1990ern hat sie den Song solo im Fernsehstudio aufgegriffen. Bei dieser Gelegenheit: Happy Birthday, Joni!

Joni Mitchell: „Just Like This Train“ (live 1996)
Quelle: youtube

Persephone und die Bagpipes

alejandra riberaFoto: Kristina Wagenbauer

In Stuttgart konnte ich diese Woche die Frau treffen, die für mich sowohl das Album als auch den Song des Jahres aufgenommen hat. Die argentinisch-schottische Songwriterin Alejandra Ribera ist in Toronto aufgewachsen, und hat entlang von Klassik, Folk, Latin-Einflüssen, Vorbildern wie Odetta und Jane Siberry ihre eigene Stimme herausdestilliert – eine Stimme, die mit ihren vielen dunklen, hintergründigen, feinfühligen Schattierungen unter die Haut geht. Hier folgt das weitgehend ungekürzte Gespräch mit Alejandra, das ich anlässlich der deutschen Veröffentlichung ihres zweiten Albums La Boca mit ihr geführt habe.

Alejandra Ribera: „I Want“
Quelle: youtube

Alejandra, du hast einmal gesagt, La Boca sei dein erstes richtiges Album. Aber es ist ja nicht der Start aus dem Nichts. Vielleicht kannst du umreißen, was dich während deiner Jugend beeinflusst hat, wie du deine persönliche Farbe in der Musik gefunden hast.

Ribera: Meine Mutter und meine Großeltern hatten wunderschöne Singstimmen. Wir haben zuhause immer gesungen, einfach zum Spaß. Da kommt die starke schottische Tradition durch. Aber sehr früh zog mich auch die klassische Musik an und ich studierte mit einem Chor. Das hat mir die Basis für die Technik gegeben, ich lernte, wie ich die Stimmenmuskulatur aufbauen kann. Ich habe dann auch angefangen, faszinierende Stimmen zu entdecken, Odetta zum Beispiel, die hat mich völlig umgehauen und ich versuchte, sie zu imitieren. Ich experimentierte so lange herum, bis ein Destillat herauskam, dass ich meine eigene Stimme nennen kann. Weiterlesen