Das Schwarzmeer ist von alters her ein Schmelztiegel der Kulturen, ein faszinierendes Flechtwerk von Tönen, das bei uns unbekannt ist. Mit ihrem Quintett führt uns die junge Jazz-Sängerin Ayça Miraç in diese Welt und verbindet sie mit dem Hier und Jetzt: Auf ihrem berührenden Debüt Lazjazz (Jazzhaus Records/in-akustik) spannt sie eine einzigartige Klangbrücke zwischen den Jahrhunderten – von den Kulturen der Lasen und Megrelier hinüber zum Bosporus und weiter zu Bill Evans.
Ganz selten geschieht es, dass nach wenigen Takten schon ein so starker Bann für die Ohren entsteht: „E Asiye“ heißt das Eröffnungsstück der Debüt-CD von Ayça Miraç, das uns eine fremdartig geheimnisvolle Melodie schenkt. Sie rührt an tiefere Schichten der Musikgeschichte, wärmt die Seele wie ein vertrautes Gefühl, das uns seit langem abhandengekommen war und nun unverhofft zurückkehrt. Diese Melodie stammt aus dem Kulturschatz der Lasen. Ihn zu bewahren ist zentrales Anliegen der Sängerin.
Ayça, die in Gelsenkirchen aufgewachsen ist, schöpft aus einem reichen Fundus an kulturellen Quellen. Schon ihr Großvater begeisterte sich für klassische türkische Musik und während der regelmäßigen Aufenthalte in Istanbul hört die Enkelin diese Klänge. Hier hat sie ihren Zweitwohnsitz. Ayças Vater ist der bekannte Poet und Schriftsteller Yasar Miraç. Er übt durch seine modalen Klavier-Improvisationen über türkische Melodien schon früh Einfluss auf die musikalische Imaginationskraft der Tochter aus. Viele seiner Gedichte werden vertont, unter anderem von der immens populären Folkgruppe Yeni Türkü.
Die zweite große Klangquelle für Ayça ist das Volk der Lasen – eine Minderheit, die an der östlichen, immer grünen Schwarzmeerküste sowohl auf türkischem, wie auf georgischem Gebiet beheimatet ist. Ayças lasische Mutter ist Gründungsmitglied von Lazebura e.V., dem Verein, der sich zum Erhalt der von der UNESCO als bedroht eingestuften Sprache einsetzt. Ayça besucht lasische Feste und Konzerte, lotet die Vielfalt der Musik dieses Volkes aus. Es war als Minorität im Laufe seiner Geschichte permanenter Unterdrückung ausgesetzt. Sie bemüht sich, das klangvolle Idiom der Schwarzmeer-„Ureinwohner“ zu erlernen. Und sie genießt während ihrer Aufenthalte in der Region diese klangvolle Sprache, die sich durch ihre Lautmalerei wunderbar zur musikalischen Einbettung eignet.
Für Ayça steht nach ihrer Schulzeit fest, dass sie ihre große Gesangsleidenschaft zum Lebensinhalt machen möchte. Das Jazzstudium am holländischen ArtEZ Conservatorium steht auf einem breiten Sockel, bezieht auch Bossa Nova und klassische Lieder mit ein, etwa von Schubert oder Debussy. Hoch motiviert färbt Ayça Miraç ihr Repertoire auch zunehmend mit lasischen und türkischen Farben.
In mehreren Schritten kristallisiert sich ihre mutige Vision heraus: das Vokabular des Jazz mit dem Schatz der Schwarzmeerküste in einer modernen Klangsprache zu verknüpfen. Diese Vision benennt sie mit einem genauso griffigen wie schlüssigen Attribut: „Lazjazz“. Beistand bekommt sie von Wayne Shorter persönlich: „Erforsche die Barrieren deines Verstandes und hab‘ keine Angst vor deinem eigenen Potenzial“, gibt er ihr bei einer intensiven Begegnung mit auf den Weg.
Wesentlich für die Umsetzung ist Bassist Philipp Grußendorf, den sie bereits während ihrer holländischen Jahre kennenlernt. Zusammen tasten sich die beiden auf diesem neuen Parkett vor, entwerfen erste Arrangements. Grußendorf bringt einen Bekannten, den brasilianischen Pianisten Henrique Gomide in die entstehende Band mit, und in Markus Rieck findet Ayça Miraç einen feinfühligen Schlagzeuger, der dem Klang ihrer Stimme respektvoll entgegenkommt. Schließlich verleiht das Violinspiel von Daphne Oltheten der Textur eine obertonreiche Färbung. Neun faszinierende Songs sind das Resultat dieses gelungenen Wagnisses: Die einzigartige Tonsprache aus Nahost-Roots, US-Jazz und ein wenig Latin-Flair bündeln die fünf Musiker zu einer elektrisierenden Dramaturgie mit Ayça Miraçs klaren Stimme stets im Zentrum.
Ayça Miraç: „E Aisye“
Quelle: youtube
Gleich im Opener „E Asiye“ zeigt sich, wie die Sängerin es versteht, eine alte lasische Melodie symbiotisch in einen Jazzkontext einzufügen. Subtil fängt sie in den Quartparallelen zwischen Stimme und Geige die traditionelle Zweistimmigkeit ein – diese alte Polyphonie ist heute noch bei denjenigen Lasen lebendig, die an der georgischen Grenze wohnen. Ebenfalls in einem lasischen Dialekt steht „Avlaskani Cuneli“ aus dem Repertoire des früh verstorbenen Sängers Kazım Koyuncu. Im vorwärtstreibenden Fünfertakt mündet Folkloristisch-Tänzerisches in eine Pianoimprovisation Gomides.
Beide lasischen Lieder sind ein Schaukasten für die sanfte und doch so souveräne Empfindsamkeit der Stimme Ayças. Ein Ausflug zu den Megreliern, den nördlichen Nachbarn der Lasen beglückt in „Va Giorko Ma“: Vocals, gestrichener Bass und Geige erzeugen mit pointierten Pianotupfern eine hymnische, fast archaische Feierlichkeit. Doch die mit dem Lasischen verwandte Sprache besteht auch im modernen Kontext, wenn in „Veengara“ Parallelen an Popballaden aufblitzen.
Zweifach begibt sich Ayça Miraç in den türkischen Kulturraum: „Trabzon Sarkısı“, ihre lyrische und leichtfüßige Widmung an die sagenhafte Schwarzmeermetropole ist eine Eigenkomposition, mit der sie ein Gedicht ihres Vaters in impressionistische Stimmungen kleidet. Die Geige lehnt sich in ihren Parallelgängen hier an den Kreistanz Horon an, der traditionell in der Schwarzmeerregion durch die Kemençe begleitet wird. Mit der urbanen Ballade „Üsküdar’a Giderken“ hätte sich so manche Sängerin aufs Glatteis begeben können: Die getragene Liebeserklärung an den Istanbuler Stadtteil existiert im ganzen Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches in unzähligen Varianten. Mit seiner Version umschifft das Quintett die Klippen der Klischees, indem es den Evergreen clever mit Fragmenten eines sephardischen Liedes kontrastiert und ein quirligeres Tempo wählt. Das zweite Stück aus Ayça Miraç’ Feder ist „Dream Of Ilham“, eine träumerische, sanftmütige Hommage an ihren Kater Ilham. Sein arabischer Name („Inspiration“) scheint hier alles andere als Zufall.
Schließlich geht die Reise hinüber nach Amerika: Mit „Turn Out The Stars“ greift Ayça ein intensives Stück ihres Lieblingspianisten Bill Evans auf, verlangsamt zu einer intensiven Ballade, die sie auch als stilsichere und gefühlvolle Standard-Interpretin zeigt. Die CD endet auf brasilianischem Boden: Das bewegende „Menina Da Lua“ von Renato Motha, ist ein Trost spendendes Lied. Philipp Grußendorf brachte den sanften Closing Track von seinen brasilianischen Erkundungen in Südamerika mit. Der Titel vom Mondmädchen verweist zudem auf Ayça selbst. Auch ihr Name bedeutet „leuchtend wie der Mond“.
Ayça Miraçs Lazjazz fügt den kreativen Dialogen zwischen europäischem Jazz und dem Schatz traditioneller Klänge des Ostens ein spannendes Kapitel hinzu. Und ihre Stimme strahlt als helles Gestirn, das am Vokalhimmel gerade erst aufgeht.
© Stefan Franzen
live: 26.9. Köln, Urania Theater / 2.10. Gelsenkirchen, Die Flora
Ayça Miraç: „Avlaskani Cuneli“
Quelle: youtube