Schatzkiste #27: Groovy Huldigung an die Götter

eloah - os orixásEloah
Os Orixás
(Som Livre, 1978 / reissue: Mr. Bongo, 2016)

In der brasilianischen Popmusik gab und gibt es viele Versuche, die Zeremonien der afro-brasilianischen Candomblé-Rituale zu vertonen. Die schönste Verknüpfung von Música Popular, Samba Soul und Anrufungen an die Orixás ist für mich diese LP, in der die Komponisten Berimbau und Ildásio Tavares sich mit dem Arrangeur Hélcio Alvares zusammengetan haben. Das Resultat sind zwölf Klangtableaus, die den wichtigsten Gottheiten des Candomblé gewidmet sind, vokal gekrönt von der ausdrucksstarken Stimme der Sängerin Eloah. Was dieses Album, das Mr. Bongo gerade neu auf Vinyl aufgelegt hat, aber einzigartig macht, sind die Liner Notes des brasilianischen Nationalautors Jorge Amado und die Covergestaltung des Argentiniers Carybé, der in Bahia im Laufe seines langen Lebens die berühmten Ikonographien der Orixás geschaffen hat. Auf diesem Cover zu sehen: der Donnergott Xangô. Als Klangbeispiel gibt es das Loblied auf Oxum, die Göttin des Süßwassers und der Schönheit.

Eloah: „Oxum“
Quelle: youtube

(he)artstrings #8: Ironie bei minus 30 Grad

Kate & Anna McGarrigle
„Complainte Pour Ste. Cathérine“ (Anna McGarrigle & Philippe Tatartcheff)
(aus: Kate & Anna McGarrigle, 1975)

Dass ich diesen Song irgendwann in den späten Achtzigern kennen lernte, verdankt sich einem Irrtum. Damals stand ich in Kontakt mit etlichen Kate Bush-Fans, die alles sammelten, was auch irgendwie nur einen Hauch von ihr versprühte. Und manchmal schossen sie dabei übers Ziel hinaus: Im Glauben, die Engländerin sänge hier im Duett mit einer Anna McGarrigle, wurde mir dieser Track auf eine Cassetten-Kompilation überspielt.
Zum Glück, denn damit offenbarte sich mir eine bis dato völlig unbekannte Welt: die der musique acadienne, der frankophonen Popmusik Ostkanadas. Die beiden Schwestern aus Montréal verkörperten wie kaum irgendwelche anderen Musiker diese Tradition, konsequent zweisprachig und neben tränenreichen Balladen gelegentlich mit espritvollen lokalen Folkeinflüssen angetupft.

Worum geht es in der „Klage für die Heilige Katharina“? Keine Spur von Hagiolatrie. Es könnte sein, dass sich Anna bei ihrer Schwester Kate darüber beklagt, dass sie in die USA übergesiedelt ist (sie lebte dort bis 1976).  Doch gedichtet hat den Text ja nicht sie, sondern der Verslieferant für die französischen Lyrics des Duos, Philippe Tatartcheff. Ganz sicher aber wird auf die berühmte Einkaufsstraße in Downtown Montréal angespielt. Das lyrische Ich sucht bei minus 30 Grad Schutz vor der Kälte im unterirdischen Part der Stadt unter der Straße und trägt mit leicht ironischem Ton seine Ansichten zu Politik und Gesellschaft vor.  Das spießige Leben der Québecois wird auf die Schippe genommen, samstags geht man brav zum Eishockey und sonntags wird der Hund spazieren geführt.

Alles bleibt aber derart unkonkret und rhapsodisch, dass man sich nicht am Text festhalten sollte, auch wenn die Phrase „vingt ans de guerre contr‘ les Moustiques“ sagenhaft ist. Zwanzig Jahre Krieg gegen die Mücken, bei 30 Grad minus? Die „Complainte“ scheint zu jenen Songs zu zählen, die einfach nicht zu entschlüsseln sind, zumindest für Non-Acadiens, auch wenn der Text nicht unter die Kategorie purer Nonsens fällt.

Es ist die Musik, die hier ausschlaggebend ist: Ein folkiger Rundgesang mit Akkordeon, Fiddle und Harmonika, und diesem immer wiederkehrenden jaulenden Quintsprung, der schon sehr klagend klingt, aber auf eine satirische Art und Weise. An der provençalischen Form der Complainte hat sich Tatartcheff vielleicht ein wenig orientiert, als er den Text schrieb: Wie bei den Troubadouren gliedert er seine Verse in Couplet und Refrain.

Erst viel später, als ich die LP in Händen hielt, ging mir die Kinnlade ob der Starbesetzung runter: Tony Levin am Bass, Steve Gadd an den Drums, David Spinoza an der Gitarre, um nur einige Mitstreiter zu nennen. Kate McGarrigle ist 2010 verstorben, das Erbe der Schwestern haben schon lange Kates Kinder Rufus und Martha Wainwright angetreten – wenn musikalisch auch weitestgehend anders gelagert. Doch bei beiden hört man stark das Timbre der Mutter durch. Eine fantastische Version der „Complainte…“ hat Kirsty MacColl 1989 auf ihrem Album Kite aufgenommen, deshalb gibt’s untenstehend sowohl Original (sorry, die Blende ist beschissen) als auch Cover.

Kate & Anna McGarrigle: „Complainte Pour Ste. Cathérine“
Quelle: youtube
Kirsty MacColl: „Complainte Pour Ste. Cathérine“
Quelle: youtube

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Zeitlose Anmut

josienne-clarke-ben-walker-overnight

Josienne Clarke & Ben Walker
Overnight
(Rough Trade/Beggars Group)

Meistens passiert es ganz früh oder ganz spät, dass das Album des Jahres sich offenbart: Hier ist ein großer Kandidat dafür. Entstanden sind diese elf Perlen von zeitloser Anmut in der walisischen Parklandschaft, in den Rockland Studios – dort, wo einst Queen, Oasis und Julian Lennon aufgenommen haben. Josienne und Ben sind mit dem BBC Radio 2 Folk Award dekoriert, schaffen auf ihrem dritten Werk aber einen gewaltigen Sprung aus dem herkömmlichen Folkbezirk heraus.

Von Eigenkompositionen bauen sie eine Brücke zu John Dowland und dem seltenen Spätromantiker Ivor Gurney, und dann weiter zu Jackson C. Frank und Gillian Welch – und es ist kein wackeliges Gebilde, das da entsteht, sondern ein homogene Dramaturgie. Josiennes Stimme kombiniert helle Zartheit mit bitteren, waidwunden Tönen, ihr Saitenpartner gehört eher in die Kategorie ausgefeilter Texturgeber denn in die der Folkbarden, die die Gitarre nur als Begleitinstrument nutzen.

Fleisch und Blut bekommt diese Scheibe durch die grandiosen Arrangements: Da weben mal dunkle Blockflöten einen schweren Vorhang der Melancholie, Bassklarinette, Euphonium und Horn sorgen für eine nicht alltägliche Bläserfarbe, ein Streichquartett legt satte Liegetöne unter das Gitarrenflageolett. So entsteht ganz mühelos ein Mosaik, das die Ästhetik der Renaissance mit der Folkrock-Philosophie à la Nick Drake und Sanny Denny verknüpft. Und in der Singleauskopplung „The Waning Crescent“ geht es mal kurz in den britischen Easy Listening-Pop der 1960er hinein.

Die Kollegen von Big Comfy Sessions haben die beiden zum Interview auf die Couch gebeten, anschließend spielen sie – ganz stripped down – einen der schönsten Songs vom Album (startend bei 6’14“):

Josienne Clarke & Ben Walker: „Sweet The Sorrow“
Quelle: youtube

Groundhog Night

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The Fretless
Akustik in Agathen, Fahrnau
7.10.2016

„Was haben Pat Metheny, Al Di Meola und Quincy Jones mit den Musikern gemein, die wir heute Abend hören werden?”, fragt Bernhard Wehrle, einer der Initatoren der Konzertreihe Akustik in Agathen in die vollbesetzte Zuhörerrunde. „Sie sind alle Absolventen des renommierten Berklee College of Music.” Nach wenigen Takten hat wohl niemand mehr einen Zweifel daran: Ja, diese vier jungen Herren, drei Kanadier, ein Amerikaner, sie spielen Folkmusik. Allerdings haben sie die Fiddle Tunes, Jigs und Reels so raffiniert und virtuos auf Violinen, Bratsche und Cello übertragen, dass man die Ästhetik der ganzen Streichquartett-Tradition des Abendlandes von Joseph Haydn bis zur Neuen Musik mithört.

Da beginnt die Bratsche mit aufgekratzter Rhythmik, das Cello legt einen perkussiven Swing darunter, der fast an eine ratternde Lok erinnert, wirbelnde Achtelketten knüpfen die Geigen. Immer wieder werden die Töne der Melodie durch schöne Schleifen und Vorschläge in die Nähe eines seelenvollen, herzblutenden Gesangs gebracht, das Thema wandert durch alle Stimmen hindurch, und schließlich endet alles augenzwinkernd in einer chromatischen, windschiefen Schlitterpartie. Das alles passiert wohlgemerkt in nur einem Stück, der Eröffnung „Dirty Harry”.

trent-stefanGefragt, was denn typisch kanadisch sei an der Musik von The Fretless, sagt Geiger Trent Freeman vor dem Konzert: „Die Vielfalt! Wir bringen die vielen Fiddle-Stile aus dem ganzen Land zusammen, und keltische Einflüsse sind immer dabei, denn irgendwie hat jeder Kanadier auch schottische oder irische Wurzeln.” Ben Plotnick und Karrnnel Sawitsky lassen außerdem slawisches Feuer spüren, sie können auf russische und ukrainische Vorfahren verweisen, und der Cellist Eric Wright flicht das Erbe der Old Time-Music aus den Appalachenbergen von Vermont von der anderen Seite der Grenze ein. Es ist genauso verblüffend wie belebend, der Dramaturgie ihrer Stücke zu folgen, die mit Tonarten- und Tempowechseln nicht geizen, und in denen sich die Instrumente immer wieder neu gruppieren: Mal webt das Cello alleine Wellenfiguren, mal findet es sich zu dunklen Liegetönen mit der Bratsche zusammen, die aber auch immer wieder an die Violinen andockt zu filigraner Zwei- und Dreistimmigkeit.

Mit Vorliebe erkunden die Musiker das Reich der Obertöne, wenn sie ganz delikat mit glasigem Flageolett arbeiten, und die Tremoli scheinen das Zittern in eisiger Kälte zu simulieren. Und doch klingt das alles, so ausgearbeitet das musikalische Material auch ist, nie elitär, bleibt leutselig: Meistens schlägt Sawitsky mit seinen Schuhen im Takt auf den Tanzboden, und schließlich pflegen die vier auch die Erinnerung ans Musizieren in der Küche, brechen eine Jam Session mit Akustikgitarre vom Zaun. Da wird dann das Publikum eingeladen, in ein Lied über das „groundhog” einzustimmen, das arme Murmeltier, das letztendlich verspeist wird. Querverweise auf die kanadische Natur auch im Stück über den idyllischen Ort Bella Coola, dessen Ruhe aber immer wieder durch Gewehrschüsse getrübt wird, wenn vor einem nahenden Bär gewarnt wird: Die Gefahr haben The Fretless mit synkopischer Zerstückelung vertont, die in einer Verfolgungsjagd endet.

Noch mehr bodenständige Würze kommt zur Überraschung aller ins Spiel, als Wrights Freundin Sarah Robinson die Bühnendielen besteigt, um Kostproben ihres Stepdance zu geben: eine elegante Variante aus Ottawa Valley, die so gar nichts gemein hat mit den Aufziehpüppchenbewegungen à la „Riverdance”. Mit dem Titelstück aus ihrem neuen Album „Bird’s Nest” legen die vier nochmals in delikater Schichtung Traditionelles und eine Neukomposition aus der Feder von Freeman übereinander. Ihrem Namen sind sie vor dem begeisterten Publikum gerecht geworden – bezeichnet „Fretless” doch nicht nur die Bundlosigkeit ihrer Instrumente, sondern auch eine unerschrockene Geisteshaltung.

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© Stefan Franzen, Fotos: Bernhard Wehrle (2), Stefan Franzen (1,3)

 

(he)artstrings #7: Sängermythos im Bienenhaus

David Sylvian
„Orpheus“ (David Sylvian)
(aus: Secrets Of The Beehive, 1987)

Als ich mit 12 Jahren die britischen Top 30 in meinem damaligen Lieblingssender verfolgte, entrangen sich dem kleinen Lautsprecher des Cassettenradios plötzlich sirrende und blubbernde Geräusche. Unheimlich. Irgendwann gesellte sich eine dunkle, suggestive Männerstimme dazu, die zuerst gar nicht zu den elektronischen Geräuschen zu passen schien. Der Moderator sagte dann fast entschuldigend: „Wir sind immer noch bei der englischen Hitparade, und wir sind immer noch im Jahr 1980.“ So sehr mich damals der Titel „Ghosts“ von Japan faszininiert hat, richtig gepackt hat mich David Sylvian dann erst sieben Jahre später mit diesem Solowerk – irgendwo angesiedelt zwischen Art Pop und präraffaelitischer Schauermär. Die „Geheimnisse des Bienenhauses“ hat er mit so exzellenten Musikern wie dem japanischen (!) Pianisten Ryuichi Sakamoto oder dem Flügelhorn-Virtuosen Mark Isham eingespielt. Nicht nur weil ich Orpheus-Lieder sammle, ist das hier mein Lieblingsstück, auch wegen der wunderbar ruhig schreitenden Melodie und dem grandios ersterbenden Orchester-Atem mitten im Song.

David Sylvian: „Orpheus“
Quelle: youtube

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(he)artstrings #6: Inbrunst gegen Trockenheit

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 Marisa Monte
„Segue O Seco“ (Carlinhos Brown)
(aus: Verde, Anil, Amarelo, Cor-de-Rosa & Carvão, 1994)

Mit Rose & Charcoal (so der kurze englische Titel des Albums) und Carlinhos Browns Alfagamabetizado hat meine Brasilien-Affinität ihren Lauf genommen. Etliche Jahre, bevor ich selbst das erste Mal hingeflogen bin, reimte ich mir Vieles übers Hören von Liedern wie diesem zusammen – und natürlich war dann nachher alles ganz anders. Die brasilianische Musik ist mir bis heute in all ihren Schattierungen geblieben, von Choro über Bossa bis zum Experimental-Pop. Und Marisa Monte, die ich inzwischen auch interviewen konnte, steht mit Paula Morelenbaum unantastbar im Olymp der Frauenstimmen des Landes.

„Segue O Seco“ ist ein inbrünstiges Flehen um Regen, eine persönliche Ansprache an den Himmel, dass er doch endlich die Tropfen hinuntersenden möge in den Sertão, das knalltrockene Hinterland des Nordeste. Die erbarmungslose Dürre, die es nicht kümmert, dass der Bach und der Pfad längst ausgetrocknet sind und sogar das Schicksal vertrocknet, sie wird hier grandios mit tränenreichem Akkordeon, spindeldürrem Musikbogen Berimbau und klagenden Afro-Chören ausgestaltet.

Marisa Monte: „Segue O Seco“
Quelle: youtube

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(he)artstrings #5: Celesta unterm Nordhimmel

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Nick Drake
„Northern Sky“ (Nick Drake)
(aus: Bryter Layter, 1971)

Zum zwanzigsten Todestag von Nick Drake habe ich damals bei einem kleinen Radiosender ein vierteiliges Special gemacht – es muss also im Herbst 1994 gewesen, dass ich diesen Song oft gehört habe. Die perfekte Folkhymne: federnde Rhythmen zu einem Riff, das aus den für Nick so typisch verschrobenen offenen Akkorden besteht, sein verletzlicher Gesang und eine zärtliche Bridge mit Orgel. Der Clou an diesem glückseligen Liebeslied ist aber die Celesta, die mich dann fast wieder an die Schlusstakte von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde erinnert. Einer von Nicks ganz seltenen Momenten, in denen er sich völlig unbeschwert gab – drei Jahre später hatte ihn die Schwermut eingeholt.

Die Schlussszene des Films Serendipity ist mit einer Kombination von David Grays „January Rain“ und „Northern Sky“ unterlegt – während John Cusack auf einer Eislaufbahn ein völlig unverhofftes Happy End erfahren darf. Glückwunsch an denjenigen, der den Soundtrack ausgewählt hat.

Nick Drake: „Northern Sky“
Quelle: vimeo

Northern Sky – Nick Drake from Luca’s on Vimeo.

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(he)artstrings #4: Unerbittlicher Wind

carminho-portraitCarminho
„Escrevi Teu Nome No Vento“ (Jorge Rosa / Raul Ferrão)
(aus: Fado, 2009)

Die portugiesische Fadolyrik ist voll von Meeres- und Wettermetaphern, mit denen sich Tausende von Schattierungen des Innenlebens einfangen lassen. In diesem Fado wird der Wind zum tragischen Spielpartner: „Ich habe deinen Wind in den Namen geschrieben, überzeugt davon, dass ich ihn aufs Papier des Vergessens schrieb. Doch ich rechnete nicht damit, dass der Wind sich in deinen Namen verlieben würde. Und so steigert sich meine Qual, wenn der Wind sich aufbäumt.  Glaub‘ mir, ich möchte dich vergessen, aber jedes Mal wird der Wind nur noch stärker.“

Um diese große Dramatik umzusetzen, braucht es eine Jahrhundertstimme.  Carminho ist mit ihren 32 Jahren auf dem besten Weg dazu. Sie weiß genau, wie sie die Phrasierungen ausgestalten muss, um den Wind aufheulen zu lassen und das Weh des lyrischen Ichs effektvoll in Szene zu setzen. Und –  das gibt es so nur im Fado: wie kurz vor dem Ende alles noch einmal für Sekunden innehält, der Atem angehalten wird, ja, der Weltenlauf stoppt, bevor sich der Schmerz ein letztes Mal erlösend Bahn brechen darf.

Ich habe Carminho das zum ersten Mal im Herbst 2012 live singen hören. Danach war ich für eine ganze Weile schockgefroren und schweißgebadet zugleich. Meistens singt sie das Lied vom Wind als Zugabe – eigentlich müsste man sie Hingabe, wenn nicht Verausgabung nennen.

Carminho: „Escrevi Teu Nome No Vento“
Quelle: youtube

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(he)artstrings #3: Der ewige Stich

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„Mojo Pin“ (Jeff Buckley & Gary Lucas)

(aus: Grace, 1994)

Ich kenne keinen Song, der Besessenheit in einer so intensiven Art und Weise eingefangen hat. „I Want You“ von den Beatles war ein netter Versuch.  Doch diese sechs Minuten hier: wie ein einziger langer Nadelstich, eine immer enger sich ziehende Spirale des Begehrens, dreimal unterbrochen von einem Aufschrei, einer Eruption der Verzweiflung, eines Sichbewusstwerdens, dass man nicht durch die Wand kann mit diesem unbesiegbaren Verlangen. Deshalb kann diese Hymne auf die schöne schwarze Unbekannte auch kein vernünftiges Ende haben: Live ließ Jeff Buckley ihn oft mit einer wüsten Rückkopplung abbrechen. Auf der Tour, die hier mit einem Clip aus Frankfurt eingefangen wurde, haben wir damals Jeff auch gesehen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie es mir kalt den Rücken runterlief, als er sich zu den sphärischen Gitarren vor dem finalen Ausbruch in seine Liebeswut hineingesteigert hat.

„Mojo Pin“ hat mich über mindestens ein Jahr verfolgt, bis ich mich für meine Magisterarbeit mit völlig anderen musikalischen Themen beschäftigen musste.

Jeff Buckley: „Mojo Pin“ (live in Frankfurt)
Quelle: youtube

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(he)artstrings #2: Mitfühlender Fluss

aretha-franklin

Aretha Franklin
„The River’s Invitation“ (Percy Mayfield)
(aus: Soul ’69, 1969)

Dieser Song war verantwortlich für meine späte Soul-Erweckung. Mir standen sämtliche Nackenhaare zu Berge, als Aretha in der zweiten Strophe mit ihren Shouts loslegte – und dann hat sie mich bis heute nicht mehr losgelassen. Deshalb musste ich auf diesen Song eine etwas längere Lobeshymne schreiben.

Es mag Leute geben, die denken, „The River’s Invitation“ handle vom Selbstmord. Aber ich glaube nicht, dass Percy Mayfield, von dem der Song stammt, das im Sinn hatte. Da reist einer durchs ganze Land, hat jedes Fleckchen Erde umgekrempelt auf der Suche nach seiner Liebsten. Dass sie noch irgendwo am Leben sein muss, da ist er sich sicher, aber er kann sie nicht finden. In seiner Verzweiflung redet er mit dem Fluss. Und er bekommt auch eine Antwort. „Mein Lieber, du siehst ganz schön einsam und erbarmungswürdig aus“, sagt der Fluss. „Wenn du dein Baby nicht finden kannst, dann lass mich dir eine Heimstatt anbieten.“

Nein, „River’s Invitation“ ist kein Lied über einen, der ins Wasser geht. Es ist ein Song über Rastlosigkeit, übers Unterwegssein auf der Wasserstraße, bis ans Ende deiner Tage, weil du nur so über den Schmerz hinwegkommst: durch ständige, betäubende Bewegung. Der Texaner Percy Mayfield ist ein Meister des Vagabundentums. Sein anderer großerer Erfolg war auch so eine Rhythm’n’Blues-Hymne übers Weggehen, „Hit The Road Jack“, ihr kennt ihn von Ray Charles. Furchtbar, dass Percy während seines eigenen Unterwegsseins verunstaltet wurde, ein Autounfall hat ihn übel entstellt. Sein Flusslied mag nicht so packend sein und nicht so einen unverwechselbaren Basslauf haben wie „Hit The Road Jack“, aber es scheint mitten aus den Sümpfen des Südens zu kommen, aus den muddy waters, wo man gar nicht mehr weiß, was ist jetzt Wasser und was Land. Wo das Wasser das Land nicht nur einlädt, sondern es umschlingt. Die tiefen swingenden Bläser, dazu ein kreiselndes, kitzelndes Piano und die sonore Stimme von Percy – das versetzt einen in ganz alte Blueszeiten, obwohl er es in dieser ersten Version doch erst 1953 in die Welt setzte. Man kann sich schwer vorstellen, wie dieser Song noch glaubhafter werden kann.

Percy Mayfield: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube

Bei Aretha wird er’s, weil sie ihn nochmal ganz anders anpackt. Hört euch diese groovige Gitarrenlinie an, die fast glitschig in die Höhe klettert. Der Jazzer Kenny Burrell hat die hingezaubert. Über diesem Groove steigt Aretha ein, zieht den Anfangston eine halbe Ewigkeit nach oben. Um ihre Stimme herum schleichen sich allmählich die Blechbläser rein, die Trompeten schreien auf, die Tuben grunzen, und als der Fluss antwortet, hat er das größte Mitgefühl, dass man sich vorstellen kann: „Oh you look so lonely, and so full of misery“ – Aretha als Flussgöttin lässt hier einen Mitleidsschrei los, der die Membran des Mikrofons wohl fast zersprengt hat, jedenfalls konnte der Toningenieur das damals gar nicht mehr gescheit auspegeln. Und immer weiter türmt sich das Orchester hoch, macht nur noch mal kurz Platz für ein schönes Pianoeinsprengsel. Doch so gigantisch sich die Bigband hier auch aufbäumt, Aretha nimmt es mit dem ganzen Apparat auf, schmettert über den schärfsten Trompetenattacken ihre Sehnsucht heraus nach dem ewig dahinrollenden Fluss.

Aretha Franklin: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube

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