Oumou Sangaré
Mogoya
(NoFormat/Al!ve)
Jahresernte
Aktuelle Empfehlungen, potentielle Schonjetztklassiker, neue Begrünungsflächen im wüsten Klangalltag
Ein Inselvogel in Paris (#8 – Canada 150)
Alejandra Ribera (Ontario)
This Island
(Pheromone Recordings/Rough Trade)
Schauplatz London, Ontario. Die Aeolian Hall ist eines der wenigen historischen Gebäude in der südkanadischen Stadt. Es ist Alejandra Riberas Lieblingssaal, denn er kommt ihr mit seiner theaterhaften Atmosphäre entgegen. Die Konzerte der Kanadierin mit argentinisch-schottischen Genen sind Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Still zieht sie in ihre Gefühlswelt hinein, und hat sie die Zuhörer dann gepackt, überwältigt sie mit überraschenden Ausbrüchen von Intensität. So wie an diesem bitterkalten Märzabend in ihrer Heimat: „Blood Moon Rising“ beginnt als gemächlicher Roadmovie-Walzer, steigert sich am Ende aber mit ungebremster Wucht zur Klage über die Gewehrkugeln, die ein Verflossener in ihrer Brust hinterlassen hat. Riberas Landsleute sind tatsächlich erst einmal erschüttert, wie sich da wisperndes Grollen urplötzlich zum vokalen Vulkanausbruch entwickelt hat. Dann bricht sich der Applaus Bahn. Musik sei für sie Religion, sagt die Sängerin. Und in diesem Sinne auch Heilung.
Die Songs, die Alejandra Ribera ab dem 19.5. bei neuen Liveterminen in Deutschland mit Jean-Sebastien Williams (g) und Cédric Dind-Lavoie (b, p) vorstellt, stammen von This Island. Um diese Lieder zu schreiben siedelte die Kosmopolitin aus Toronto nach einem künstlerischen Intermezzo in Montréal nach Paris über. Nach der Île de Montréal wurde die Île de France zu ihrer Insel. Eine Millionenstadt, in der sie niemand kannte und deren Sprache sie nicht fließend beherrschte, fungierte als Einsiedlerzelle. Durch diese selbstgewählte Klausur nahm ein intimer Zyklus von Liedern Form an, die eher ungewöhnliche Themen haben: Eine Rede Tilda Swintons über das Licht der Rothko-Gemälde als Trost nach dem unerwarteten Tod eines Freundes. Motive aus einem Film von Lasse Hallström als Spiegel einer unmöglichen Liaison. Subtil reflektiert sie in „Undeclared War“ über einen eingewanderten Vater, der Altschulden der Identitätsfindung mit sich herum-trägt, auf die Tochter über-trägt. Und auch die Verzweiflung über das Charlie Hebdo-Attentat, das passierte, als sie gerade frisch in Paris angekommen war, ist dem Album eingebrannt: Das Geheul der Polizeisirenen um sie herum formte Ribera, zusammen mit Bildern aus Virginia Woolfs zu „I Am Orlando“, zu einer fragilen Beschwörung von Wiedergeburt. Hier wird „This Island“ zu „this silent“, so still.
Riberas neue Songs fressen sich bei aller Leidensthematik aber nicht im einem Jammertal fest: Ihre unerschütterliche Hoffnung auf die Liebe und ihr umwerfender Humor, ganz schottisches Erbe, schwingen oft mit, in diesen Songs zwischen Kammerpop und Alternativ-Folk. Aus den augenzwinkernden Betrachtungen des Comediens Billy Connolly über den Schöpfer aller Dinge hat sie eine Art spirituellen Skiffle gestrickt. „Carry Me“ ,die aktuelle Single, hat sie als leuchtende Folk-Hymne auf Geborgenheit in der Fremde geschrieben, und „Led Me To You“ ist ihre Lesart des Gospel, ein Preisgesang auf alle kostbaren Momente von Hoffnung und Wahrhaftigkeit. In „Soft Place To Land“ schließlich wird ihre hauchende, rauchige Stimme ganz zur Brise, die den kleinen Inselvogel trägt, damit er einen Landeplatz finden kann.
© Stefan Franzen
Hier lässt sich noch einmal das Interview nachlesen, das ich im November 2015 mit der Sängerin geführt habe.
Alejandra Ribera: „Undeclared War“
Quelle: CBC Music
Tourdaten:
19.5. Flensburg, folkBaltica – 20.5. Klanxbüll, folkBaltica – 21.5. Bernau, Siebenklang-Festival – 22.5. Hamburg, Nochtspecher – 23.5. Oldenburg, Theater Laboratorium – 26.5. Erlangen E-Werk – 27.5. Offenbach, Hafen 2
Mont-sur-réal, ma terre-de-sel (#7 – Canada 150)
Saltland (Québec)
A Common Truth
(Constellation Records/Cargo)
Mit der Musikszene Montréals ist es ähnlich wie mit der ville souterraine der Metropole. Man kann sich darin verlie/r/ben. Je tiefer man in die unermesslichen Räume vordringt, umso hoffnungsloser wird der Fall. Und vielleicht stößt man dort unten irgendwo auf ein „Licht der Gnade“.
Deshalb ist es jetzt Zeit, das Label Constellation Records vorzustellen, das sich am Sankt Lorenz-Strom um experimentelle Klänge kümmert. Den besten Einstieg bietet eine Neuveröffentlichung der Cellistin und Komponistin Rebecca Foon, die unter dem Namen Saltland firmiert – ansonsten kennt man sie aus den Formationen Esmerine und Thee Silver Mt. Zion. A Common Truth ist ihr zweites Solo-Album.
Foto: Hraïr Hratchian
Foon baut aus ihren meditativen Cello-Linien ganze Kammerorchester, einzelne Linien heben sich melancholisch heraus wie die archaische Gesänge aus dem kaukasischen Kulturraum oder auch mal wie eine Pferdegeige aus den Weiten der mongolischen Steppe. Verfremdete Liegetöne erinnern an die Laute von nächtlichen Waldtieren oder altersschwache Teile einer Industrieanlage. Ihre Stimme bettet sich in rund der Hälfte der neuen Stücke hintergründig ein in die Arrangements, in denen außerdem eine Orgel, ein Piano und eine Geige Textur schaffen. Der soghafte Sound wurde von Jace Lasek geschaffen, ein Musiker aus Saskatchewan, der mit seiner Breitwand-Rockband The Besnard Lakes nun auch in Montréal angesiedelt ist (ein Interview mit ihm folgt in meiner Canada 150-Serie).
Eher bitterer, und nicht salziger Beigeschmack: Während Teile von Montréal in den letzten Tagen in den Frühlingsfluten versunken sind, lerne ich, dass Foon den Klimawandel als übergreifendes Thema für dieses Werk gewählt hat. Sie ist Teil des Künstlerkollektivs Pathway To Paris, das sich dem Kampf gegen die globale Erhitzung widmet und dem sich auch Patti Smith und Thom Yorke angeschlossen haben. Dieses Werk wählt nicht den apokalyptisch-zornigen und auch nicht den defätistischen Weg: Vielmehr fliegt Foon mit ihrer Imagination über eine versehrte Erde, kleidet ihre Besorgnis in feine Klangseismik.
Saltland: „Light Of Mercy“
Quelle: vimeo
Von Asien in die Karibik II
Debashish Bhattacharya
Hawaii To Calcutta: A Tribute To Tau Moe
(Riverboat/Harmonia Mundi)
Debashish Bhattacharya: Improvisation on Hawaiian Electro Lap Steel
Quelle: youtube
Von der Karibik nach Asien I
Omar Sosa / Seckou Keita
Transparent Water
(World Village/Harmonia Mundi)
Omar Sosa & Seckou Keita: „Tama-Tama“
Quelle: youtube
Kurdische Auferstehung
Nishtiman Project
Kobane
(Accords Croisés/Harmonia Mundi)
Es könnte das wichtigste Projekt der kurdischen Musikhistorie werden, denn hier werden die erzwungenen Grenzziehungen der Türkei, des Irak und Iran überwunden, indem gemeinsames Klangerbe neu auskundschaftet wird. Doch was musikalisch auf Kobane passiert, ist völlig unabhängig von dieser Relevanz noch weitaus bewegender. Ohne Zweifel wurde die Musik Kurdistans mit all ihren Facetten noch nie in einer so fantastischen, zeitgenössischen Dramaturgie präsentiert. Die Stücke, die teils in die Ära des Mitras- und Zoroaster-Kults zurückweisen, gestaltet das Sextett um den künstlerischen Leiter und Perkussionisten Hussein Zahawy in Suiten mit Schalmei, Spießgeige, Langhalslaute, Santur und mächtigen Unisono-Chören, mitreißend und galoppierend oder von tiefer Wehmut gezeichnet. Im Fokus die nie artifizielle, immer sehr volksnahe Stimme von Donya Kamali, die von der zerstörten Stadt Kobane berichtet, von metaphernreichem Liebespreis und der lebensspendenden Kraft der Sonne.
Nishtiman Project live
Quelle: youtube
Die Jasminheldin in NY
Dass nun ein Sexist und Rassist an der Spitze der USA steht, könnte einen verzweifelt und hilflos machen, nicht mehr an demokratische Institutionen glauben lassen. Dass gleichzeitig in den Staaten aber kritische Medien einen verstärkten Zuspruch erfahren, nährt einen Funken Hoffnung, dass türkische oder russische Verhältnisse dort noch abzuwenden sind. Wir Journalisten dürfen vor Größenwahn und Dummheit kein Haar breit zurückweichen – dazu gehört auch, dass wir immer wieder über Künstlerinnen und Künstler berichten, die mit Herz, Mut und Verstand für all das stehen, was das neue Individuum im Weißen Haus bekämpfen möchte.
Emel Mathlouthi ist eine solche Künstlerin.
Vor genau sechs Jahren stand sie auf der Avenue Bourguiba in Tunis und half mit ihrem Gesang, den Diktator Ben Ali zu stürzen. Ihr Song „Kelmti Horra“ wurde zur Hymne der jungen Generation. Im Film „No Land’s Song“ war sie Teil der Band, die unter Leitung der Iranerin Sarah Najafi dafür kämpfte, im Gottesstaat eine Konzerterlaubnis auf öffentlicher Bühne für Frauen durchzusetzen. Heute lebt die musikalische Heldin der Jasminrevolution in New York. Das Vokabular des neuen Präsidenten erinnere sie an das der ehemaligen tunesischen Führung, sagte sie in einem neuen Gespräch mit pitchfork.
Auf ihrem zweiten Album Ensen pflegt Mathlouthi einen Electro-Sound, der eher kosmopolitisch denn arabisch ist. Das Werk wurde unter anderem vom Sigur Rós-Produzenten Valgeir Sigurðsson betreut. Ihre Stimme faltet Mathlouthi von zerbrechlichem Sopran bis zu suggestivem Dräuen in hymnischen Chören auf. Rhythmische Impulse kommen zwar auch mal von traditionellen Lauten-Riffs oder rauchiger Flöte, vielmehr aber von scharfkantiger, martialischer Perkussion, und Keyboards von kühlem bis verzerrtem Zuschnitt füllen die Textur. In „Ensen Dhaif“ singt sie vom Kampf gegen die Hoffnungs- und Hilflosigkeit, die einen wie ein Tier anfallen kann, „Princess Melancholy“ könnte tatsächlich aus dem frühen Björk-Katalog stammen. Ensen wird in Deutschland am 24.2. veröffentlicht, unten ein Vorgeschmack daraus.
Hier ist nochmals mein Interview mit ihr aus dem Jahr 2015 nachzulesen.
Emel Mathlouthi: „Ensen Dhaif“
Quelle: YouTube
Jobim zum Neunzigsten
Carminho
Canta Jobim
(Warner)
Carminho & Marisa Monte: „Estrado Do Sol“
Quelle: youtube
Die Melancholie der Entwurzelung
In „Hors Sol“ singen sie – begleitet durch ein eindrückliches Video – von der Entfremdung des Menschen von der Natur und dem Leben selbst. Von den Auswüchsen einer modernen Landwirtschaft, vom Einebnen der Gärten zu Rasen, von Bäumen die nur als schmückender Saum von Straßen funktionieren, vom Zwang der ständigen Hygiene. De Secco findet so auch Metaphern für die Entwurzelung von Menschen in der großen Flüchtlingstragik unserer Tage, Ein unglaublich starker Song, der Jahrhunderte alte Rhythmen als Basis ganz aktueller Verse nutzt.
Grèn Sémé: „Hors Sol“
Quelle: YouTube
Seemannsgarn aus Trois-Rivières
Bears Of Legend
Ghostwritten Chronicles
(Absilone/Galileo)
Es ist Zeit, die CD des Jahres 2016 zu enthüllen. Im Todesjahr von Leonard Cohen war Kanada etwas mehr als sonst im Fokus der musikalischen Berichterstattung – und auch die Bears Of Legend, die aus Trois-Rivières zwischen Montréal und Québec City stammen, pflegen auf ihrem zweiten Werk Ghostwritten Chronicles großartige Liedkunst, allerdings an der Schnittstelle zum Folkpop und mit komplett anderer vokaler Färbung.
Der Songzyklus des Septetts ist von maritimen Themen getränkt: Das Ertrinken wird zur Metapher für Herzeleid, ein Strudel steht für die hilflose Verstrickung in Gefühlen, das Leben ist der endlose Ozean mit der Liebe als schaukelndem Boot darauf. Sänger David Lavergne trägt seine Verse mit waidwunder Stimme vor, ihn umweben ein melancholisches Akkordeon, munteres Banjo und Ukulele, ein warmes Cello, ausgeklügelte, fast klassische Piano-Linien und ab und an kräftige Rockdrums.
Die Stimmung schwankt zwischen großen Hymnen inklusive Chor wie “When I Saved You From The Sea” bis zu kompakten Popsongs (“Be Mine, All Mine”) oder auf Französisch gesungenen Sehnsuchtsballaden wie “Encore”. So gelingt es den “Bären” tatsächlich, einen großen Bogen vom Pop-Appeal à la Coldplay zur kleinen Folkkneipe um die Ecke zu spannen. Als Logbuch ist das Booklet mit seinen Bleistiftzeichnungen, Tusche-Lyrics und bunten Karten angelegt. Ein Gesamtkunstwerk, das endlich einmal wieder an die Kraft großer Melodien glauben lässt.