Folksoulige Vielfalt

„Ich bin in einer Baptistenkirche groß geworden, und die Ausrichtung der Musik über das Ego hinaus steckt auch heute noch in meiner Musik“, sagt Lydia Persaud (sprich: pör-sod). „Das kannst du ruhig ‚spirituell‘ nennen.“ In Torontos Szene ist die junge Sängerin eine vielgefragte Stimme, kein Wunder, hat sie sich nach ihrer Jazzausbildung an der Humber School über die vergangenen Jahre doch in jedem Genre ausprobiert und bewährt: Country-esker, kompakter Satzgesang mit dem Frauentrio The O’Pears, Soul- und Pop-Powerballaden mit der Coverband Dwayne Gretzky, intime Jazzfarben auf der frühen EP Lost And Found.

Jetzt erscheint ihr erster Longplayer Let Me Show You. „Alle meine Projekte haben mich zu diesem Album geführt“, so Persaud. „Es stecken das Storytelling und die Harmoniegesänge des Folk drin, den ich erst relativ spät kennenlernte, obwohl es hier in Kanada für dieses Genre einen großen Industriezweig gibt, der immer noch wächst. Aber meine Songs haben auch den emotionalen und stilistischen Drive von R&B und Soul, mit dem ich von klein auf in Berührung war. Ich würde es also Folksoul nennen.“ Für die Ausformung ihres Songwritings nennt sie als prägenden Einfluss unter anderem Rufus Wainwright: Den „stream of consciousness“ seiner Erzählkunst bewundert sie, und ihre Version von Wainwrights „Poses“ berührt mit ihrer brillanten Phrasierung und ihrem großen dramaturgischen Atem tief.

Lydia Persaud: „Poses“
Quelle: youtube

Für Let Me Show You ist Persaud beim Schreiben vom Piano auf die Bariton-Ukulele umgestiegen. Das hat bewirkt, dass die harmonische Dichte ihrer älteren Jazzkompositionen sich auf der neuen CD in eine Leichtigkeit gelöst hat, an der auch die unverschämt locker groovenden Band-Kollegen aus ihrer Heimatstadt großen Anteil haben. In etlichen Stücken geht es um Liebesmelancholie, wie im angenehm verträumten Titelstück. Doch bei aller Relaxtheit des Sounds geht Persaud in ihren Lyrics auch härtere Themen an: Etwa in „No Answer“, wo es um den schwierigen Umgang Kanadas mit den Verbrechen an den Indigenen geht. Sie sitzt tief, die Enttäuschung über Präsident Justin Trudeau, der trotz seiner Bewusstheit für die kulturelle Diversität Kanadas dem Pipeline-Bau durch ein Gebiet der First Nations zustimmte. Persaud, die einen guyanischen Vater und eine ukrainische Mutter hat, solidarisiert sich mit denen, die für die Vielfalt der Gesellschaft sorgen, sei es durch ihre Gene oder ihre Überzeugungen.

„In meinem Blut ist dieses Erbe, aber in meiner Musik nicht. Ich bin ein Produkt Kanadas, und meine wichtigste Erfahrung ist es, wie ich als woman of color hier zu meiner Identität fand.“ Herkunft und Geschlecht ließen sich nicht ignorieren, sagt sie, aber sie seien eben auch nicht alles. Persaud ,die im CD-Booklet ausdrücklich ihre LGBT-Community grüßt, hat der Buntheit und Weiblichkeit Kanadas mit der Singleauskopplung „Honey Child“ eine schöne Hymne geschrieben: „Der Song ist eine Ermutigung, sich selbst zu lieben – egal, was für einen Körper du hast und welche Hautfarbe.“

© Stefan Franzen

Lydia Persaud: „Well Wasted“
Quelle: youtube

Transpazifische Kreuzfahrt

Minyo Crusaders
Echoes Of Japan
(Mais Um Discos/Indigo)

Der Name dieser Combo gibt zunächst einmal Rätsel auf. Wer kreuzt hier wo? Der Reihe nach: Wir haben es hier mit einer zehnköpfigen Bigband aus Nippon zu tun, deren Leader Katsumi Nataka nach dem verheerenden Erdbeben von 2011 auf Wurzelsuche im eigenen Land ging – denn er hatte gespürt, wie schnell eine Kultur ausgelöscht werden könnte. Alte, „Min’yō“ genannte Volkslieder aus dem Repertoire der Fischer, Sumo-Ringer und Minenarbeiter förderte er zutage, doch seine Band hat diese fern jeglicher Nostalgie oder musikethnologischer Sprödigkeit arrangiert. Denn die Folksongs aus den verschiedenen Präfekturen von Fukushima bis Yamagata haben neue Partner auf anderen Kontinenten gefunden, und die heißen Cumbia, Beguine, Boogaloo, Ethio-Jazz und Reggae.

Wie die expressiven Falsett-Vocals, gewürzt mit theatralischem Vibrato, von Latin-Rhythmen und -Bläsern flankiert werden, das klingt zumindest amüsant, in vielen Momenten aber richtig gelungen. Der Geist eines Verstorbenen kehrt zu einem Afrobeat-Rhythmus zurück, Japans winzigstem Vogel wird funky gehuldigt, und ein Reggae ist einem pockennarbigen Mann gewidmet. Stellenweise erinnert man sich schmunzelnd an Señor Coconuts Kraftwerk-Adaptionen. Ein transpazifischer Brückenschlag, der weit davon entfernt ist, nur Klamauk zu sein. Vielmehr wird das fernöstliche Erbe aus einer Perspektive beleuchtet, die es in eine weltweit verständliche und zudem noch tanzbare Sprache umsetzt.

© Stefan Franzen

Minyo Crusaders: „Aizu Bandaisan“
Quelle: youtube

Duoreise durch die Zeiten

Unter den herausragenden Jazzstimmen der deutschen Szene, die ich während der letzten Jahre auf diesem Blog vorgestellt habe, hat Simin Tander eine ganz persönliche Färbung. Das setzt sich auch in ihren aktuellen Arbeiten fort. Vor wenigen Tagen hat sie eine Facette daraus mit dem Cellisten Jorg Brinkmann auf der Messe Jazzahead in Bremen vorgestellt. Eine Duoreise durch die Jahrhunderte in nur vier Stücken: Sie reicht vom französischen Barock über Guillaume de Machaut bis zu einer Eigenkomposition und einer Adaption der afghanischen Sängerin Gulnar Begum – stets aus der Perspektive starker Frauen. Berührend und verblüffend, wie die beiden Zeiten und Geographien überwinden.

Simin Tander & Jörg Brinkmann: Live At „Jazzahead“ 2019
Quelle: jazzahead / radiobremen

Mosaik mit melodischem Überschwang

Wo sind die originellen Melodien geblieben? Wer noch mit dem Pop des alten Jahrtausends aufgewachsen ist und sich heute quer durch die Mainstream-Trends hört, kommt sich vor wie in einer Wiederholungsschleife. Wie Musik ihre Diversität verliert, darüber gibt es schon akademische Untersuchungen. Einer der Gründe ist sicher, dass uns die Algorithmen der Suchmaschinen Lieder mit verwandten Klangmuster vorschlagen, die dann auch von jungen Songschreibern bevorzugt werden. Will ich viele Likes, fotografiere ich für Instagram die beliebtesten Orte, töne ich am besten ähnlich wie andere Viel-Gelikte auf Youtube. Doch keine These ohne Antithese: Gerade wer sich aus dieser Instagramisierung fürs Ohr ausklinkt, hat die besten Chancen aufzufallen. Vampire Weekend, die in den 1980ern vielleicht niemand wahrgenommen hätte, sind das Paradebeispiel.

Als die New Yorker 2007, durch trendige Blogs gepusht, international ins Rampenlicht traten, suchten sie Wege sowohl vorbei an den Ritualen des Kommerzpops als auch den Dresscodes der Indierocker. Sie schrieben freche Melodien, die mal an fröhlichen Punk, mal an süßen Folksong erinnerten. Und für deren Unterbau griffen sie Rhythmen und Gitarrenriffs aus Afrika auf, woraufhin etliche Rock-Leitmedien plötzlich die „Afrobeat“-Welle ausriefen. Ein Missverständnis: Mit dem vom Nigerianer Fela Kuti geprägten, politisierten Genre Afrobeat hatten Vampire Weekend nichts zu tun. Sie beriefen sich vielmehr auf den Soukous, die süffige Tanzmusik des Kongo mit ihren irre hoch kletternden E-Gitarren, nahmen Anleihen beim Pop aus Soweto oder der Palmwine-Musik Westafrikas. „Es gibt zwei Gitarrentraditionen auf der Welt, die für mich wirklich wichtig waren, die eine ist die des Rock, die andere die Afrikas“, so Bandchef Ezra Koenig. „Aber diese Dualität aufzustellen ist ohnehin Nonsens, denn alle Rockmusik hat über den Blues letztendlich eine afrikanische Verbindung. Ich habe immer die Gemeinsamkeiten gehört, im Stil von Johnny Marr von The Smiths entdecke ich auch das senegalesische Orchestra Baobab.“

Das unauffällige musikalische Umarmen der Welt mit den Mitteln eines Dreiminutenpopsongs, niemand meistert es so gewinnend wie Vampire Weekend. Es steckt auch in „Father Of The Bride“, dem vierten Werk nach sechsjähriger Pause. Die achtzehn knackigen Songs, manchmal gerade hundert Sekunden lang, wirken oft wie en passant gefertigte Skizzen, sind aber kleine Meisterwürfe. War der Vorgänger „Modern Vampires Of The City“ ein wenig dunkler geraten, herrscht jetzt eine positive, lebensbejahende Grundstimmung vor. Dass Koenig Vater geworden ist und seiner Partnerin Rashida Jones wegen, Tochter der Produzenten- und Jazzlegende Quincy Jones, nach L.A. gezogen ist, hat nach seiner eigenen Aussage kaum eine Rolle gespielt beim Songwriting. Doch die Texte beschäftigen sich oft originell mit den Mühen des zweisamen Alltags. Sie lassen sich aber auch beiseitelegen, denn man hat schon alle Ohren voll zu tun, die Bläsertupfer, Synthie-Spielereien und vor allem den ansehnlichen Gitarren-Fuhrpark zu ordnen. Ein bunt getürmtes Mosaik, aber keine aufgepappte Exotik – und Koenigs Knabenstimme feiert stets schamlos den melodischen Überschwang.

Vampire Weekend: „Harmony Hall“
Quelle: youtube

Eröffnet wird das Werk mit Country- und Folkflair, der durch einen Chor von den Salomonen-Inseln und die Gaststimme von Danielle Haim gefärbt ist. Und schon überrumpelt einen „Harmony Hall“: Mit seinem flinken Piano, seiner blubbernden Akustikgitarre und dem jubilierenden Refrain ist das eine ungebremste Sommerhymne mitten im Frühling. Bei sonnigem Rock’n’Roll nehmen die „Vampires“ öfters Quartier, er kann ein wenig hispanisch nach Los Lobos tönen, aber auch schmalzig nach Everly Brothers. „My Mistake“ berührt das Terrain des nostalgischen Chansons. Brüche in Stil, Instrumentation und Taktart gibt es zwischen und auch in den Stücken: „Sympathy“ schwankt zwischen Akustik-Punk, Gypsy Rumba und Disco, in „Flower Moon“ mixen sich Dreampop und großes perkussives Besteck. Plötzlich scheppert die Gitarre des 1994 verstorbenen Palmwine-Gitarristen S.E. Rogie aus Sierra Leone und wird mit besoffenen Streichern gepaart. Und an anderer Stelle mogelt sich ein Fetzen des japanischen Produzenten Haruomi Hosono vom Yellow Magic Orchestra hinein.

Für Koenig ist das kein Klau: “Wenn du jemanden sampelst, dann heißt das nicht nur: Ich beziehe mich auf dich, sondern du bist Teil des Songs, er gehört dir genau wie mir.“ Am Ende schwirren einem angenehm die Sinne, weil jeder Song eine neue Welt eröffnet. Wo sich viele Pop-Acts heute gleichen wie ein Ei dem anderen, ähneln Vampire Weekend nicht einmal sich selbst.

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 4.5.2019

Vampire Weekend: „Sunflower“ (6 Music Live Room)
Quelle: youtube

Não Deixe O Samba Morrer

Traurige Nachricht aus Brasilien: Am Dienstag ist die „Patin des Samba“, Beth Carvalho, im Alter von 72 Jahren gestorben. Abseits des partylaunigen Samba hat sie auch viel zur lyrischen, harmonisch ausgefeilten Spielart des Genres beigetragen und Canções interpretiert, die durch ihre erdige Stimme einen ganz besonderen Charakter bekommen haben. Manchmal hat sie aber auch ganz fernab des Samba gehobene Unterhaltung der Música Popular Brasileira gesungen. Bestes Beispiel ihr Titel „Andança“, den sie mit den Golden Boys 1968 mit großem Erfolg sang und später immer wieder gerne aufgegriffen hat.

Beth Carvalho: „Andança“
Quelle: youtube

Rudolstadt: Zwischen Südsee und Iran

Small Island Big Song

Das Rudolstadt Festival hat heute sein Programm für 2019 veröffentlicht.

Neben dem schon länger bekannten Iran-Schwerpunkt, der auch das Klassik-Idol der Jugend, Ali Ghamsari vorstellt, können sich die Roots-Pilger in Richtung Thüringen unter anderem auf ein Wiedersehen mit den kanadischen Legenden Cowboy Junkies freuen, oder auf das spannende Projekt „Small Island Big Song“:

Musiker von Madagaskar bis zu den Osterinseln haben sich zusammengefunden, um kulturelle Gemeinsamkeiten der mela-, mikro- und polynesischen Inselwelt herauszuarbeiten und auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, die ihre Heimat bedroht.

Meine ersten drei Programmtipps für die Tage vom 4. bis 7. Juli:

1. Small Island Big Song: „Gasikara“
Quelle: youtube
2. Cowboy Junkies: „Mountain Stream“
Quelle: youtube
3. Ali Ghamsari: „Jolan“
Quelle: youtube

Rockeiro in Hochform

Lenine
Em Trânsito
(Wrasse/Galileo)

Wer einmal ein Konzert des brasilianischen Songwriters Lenine besucht hat, weiß, dass der Mann auf der Bühne gelegentlich ein noch zupackender Rockeiro sein kann als in seinem Studiokatalog. Das spiegelt sich eindrucksvoll auf dem Live-Album Em Trânsito wider, das er im Februar 2018 mit seinem Quartett in Rio eingespielt hat. Nach kurzem, versonnenen Intro heulen in „Sublinhe E Revele“ die treibenden Stromgitarren wütend auf, Bass und Drums stemmen sich kraftmeiernd synkopisch dagegen, und auch der Rausschmeißer „Umbigo“ ist ein hartkantiger Schrammelrock mit selbstsicherer Mackerpose im Text.

Dazwischen jedoch entfaltet sich die ganze Palette dieses vielseitigen Barden aus Pernambuco: Die Traditionen des Nordostens hat er clever in die Call-and-response-Struktur von „Virou Areia“ eingebacken, live packt einen das noch erheblich stringenter. Afro-brasilianische Färbungen kann er auch a cappella ausloten, wenn er in „Ogan Erê“ die rituellen Rhythmen nur aus geatmeten Beats erzeugt. „Lá Vem A Cidade“ wird live zum spacigen Indierock-Biest, entrollt die Historie einer Stadt mit mythischem Unterton. Und schließlich kommen auch balladeske Töne zum Tragen: Das melancholische „Lua Candeia“, nur mit Piano instrumentiert, erinnert fast an die Lyrik eines Milton Nascimento.

Besonders in einem solchen soften Moment zeigt sich: Lenine, äußerlich deutlich gealtert, hat sein vokales Charisma völlig unverändert in seine reifere Schaffensphase hinübergetragen. Schön, dass das Booklet zudem auch noch englische Übersetzungen der Texte parat hält. Zweifellos einer der besten brasilianischen Konzertmitschnitte der letzten Jahre.

© Stefan Franzen

Lenine: „Lá Vem A Ciade“ (live)
Quelle: vevo

Versöhnung für die Zukunft

Als einer der großen Vordenker des Kontinents schwimmt der Kameruner Blick Bassy kräftig gegen den Strom. Seine Mittel sind sparsam, seine Botschaften stark: Sein neues Album 1958 widmet er dem kamerunischen Freiheitskämpfer Ruben Um Nyobé und erzählt in akustischen Miniaturen exemplarisch an seinem Heimatland, was die Europäer in Afrika angerichtet haben. Hier spricht Blick Bassy ungekürzt im greenbeltofsound-Interview.

Blick Bassy, der Sound auf Ihrem neuen Werk 1958 ähnelt dem des Vorgängers Akö, aber es gibt mehr Instrumente. Wie würden Sie die Unterschiede charakterisieren?

Blick Bassy: Mit diesem vierten Album wollte ich ein bisschen weitergehen als auf Akö. Auf Akö hatte ich ein Cello, ein Banjo und eine Posaune. Auf der Bühne experimentierte ich auch mit vielen Effektpedalen, viele elektronische Sounds, ein bisschen Synthesizer. Was den Sound angeht, habe ich eine Trompete hinzugefügt, wir sind jetzt vier Musiker. Dieses Mal spiele ich nicht mehr Banjo, sondern elektrische Gitarre. Ich bin also weiterhin in der Spur von Akö, habe sie aber ausgebaut und modernisiert. Produziert habe ich mit Renaud Letang. Die Idee war, wieder in das Pariser Studio Ferber zu gehen, das ich sehr mag, und auch Letangs Arbeitsweise mag ich sehr. Nach und nach hat er angefangen, uns Ideen vorzuschlagen. Ich brauchte das, dass jemand von Außen draufguckt, denn wenn du an einem Album arbeitest, hast du so einen Tunnelblick, dass du einige Sachen einfach nicht mehr siehst ohne diesen Gegencheck.

Findet man auf dem neuen Album immer noch traditionelle kamerunische Elemente, besonders aus Ihrem Volk, den Bassa?

Bassy: Ja, in den Rhythmen findet man da immer etwas bei mir. Mein Ausgangspunkt sind immer kamerunische Melodien, um die herum ich dann alles Weitere konstruiere. Mir ist wichtig zu sagen, dass die Sprache die Basis für alles ist, denn sie konstruiert das Musikalische. Sie bringt nicht nur die Melodie, sondern auch den Rhythmus, alles fügt sich um die Sprache.

Sie haben Ihr Album 1958 genannt, das ist das Todesjahr des Freiheitskämpfers Ruben Um Nyobé. Warum kennt man in Europa Thomas Sankara oder Patrice Lumumba viel eher als ihn?

Bassy: Um Nyobé ist tatsächlich unbekannter als alle anderen afrikanischen Freiheitskämpfer, und das liegt daran: Unter denen, die für die Unabhängigkeit kämpften, gab es zwei Gruppen. Die eine forderte die totale Unabhängigkeit, die andere akzeptierte die teilweise Unabhängigkeit, wie sie Frankreich vorschlug. Die zweite ist jetzt an der Spitze des Staates Kamerun seit der Unabhängigkeit, das ist Ahmadou Ahidjo, und in der Regierung von Ahidjo war Paul Biya, der auch heute noch, 37 Jahre später Staatspräsident ist. Es ist normal, dass die, die sich mit den Kolonialherren verbündeten und heute noch an der Macht sind, die geschichtlichen Ereignisse weiterhin verheimlichen. Noch gar nicht lange her, als ich bei meinem Großvater war und wollte, dass er mir ein bisschen erzählt, was sich ereignet hat, hatte er Angst, er flüsterte. Bis in die 1970er wurden die Moumiés, die Ouandiés, Kämpfer an der Seite von Um Nyobé, umgebracht. Man hat immer noch damit weitergemacht, diejenigen zu ermorden, die die totale Unabhängigkeit forderten. Man hat sie nicht nur körperlich umgebracht, man hat auch versucht, alles, wofür sie standen, zu beerdigen. In unseren Geschichtsbüchern in der Schule wurde Um Nyobé als Terrorist bezeichnet. Mir hat man noch beigebracht, dass das Bösewichte sind. Viel später erst habe ich die Realität erfahren, sie wollten, dass diese Geschichte vollkommen verschwiegen wird.

Hat das Album für Sie auch eine ganz persönliche Bedeutung? Ihr Vater war auch Teil der kolonialen Geschichte und arbeitete für die Franzosen…

Bassy: Ich bin in dieser Sache völlig in zwei Hälften gerissen. Mein Vater gehörte der französischen Kolonialregierung an, meine Mutter musste als Kind versteckt werden, ist im Wald mit meinem Großvater von einem Ort zum anderen gewechselt, denn man hat die Menschen gefoltert und getötet, die in den Dörfern nahe des Dorfes von Um Nyobé waren. Ich komme aus dem Volk der Bassa, das Dorf meines Großvaters war ein Nachbardorf von dem Um Nyobés. Man hat die Erwachsenen gefoltert, um herauszufinden, wo die Widerstandskämpfer waren, wo sich Um Nyobé versteckt hielt. Ich stand also im Zentrum dieser Geschichte von zwei Fronten.  Auch wenn mein Vater der anderen Seite angehörte, hat meine Mutter durch Zufall einen Moment ihres Lebens im Kampf für unsere Freiheit verbracht.

Es ist genau 100 Jahre her, dass die Deutschen sich aus Kamerun zurückzogen, die Kolonialgeschichte begann mit ihnen. Sehen Sie auch eine Verantwortlichkeit Deutschlands für das heutige Kamerun?

Bassy: Absolut. Kamerun zählte zu den wenigen Ländern, die offiziell gar nicht kolonisiert wurden, aber gleichwohl wie eine Kolonie behandelt wurden. Das fing mit den Deutschen an, und die haben dem Land seinen Namen gegeben, zuvor hieß es „Rio de Camerões“, also Krabbenfluss. Dieser Name stammte von den Portugiesen. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg hat Deutschland Kamerun an England und Frankreich abgegeben. Aber die Kolonisierung hatte schon angefangen, mit Zwangsarbeit. Und einer der Punkte im Befreiungskampf von Um Nyobé war, die Menschen von der Zwangsarbeit zu befreien, ihnen wenigstens eine angemessene Entschädigung zu geben. Die Deutschen waren also die erste Macht, die auf dem Territorium präsent war, das man heute „Kamerun“ nennt, die ersten, die die Menschen gezwungen haben, sie behandelt haben, als gehörten sie einer anderen Menschenklasse an. Ja, Deutschland hat eine Verantwortung, mit dem einen Unterschied, dass es unter ihrer Herrschaft weniger Druck und Einmischung in die politischen Geschäfte des Landes gab als mit England und Frankreich.

Sie haben einmal gesagt, dass das Kamerun sein kulturelles Erbe vergessen hat, das ist das Thema des Stücks „Woñi“. Ist das im Falle von Kamerun besonders spürbar oder gilt das nicht in gewissem Maße für viele afrikanische Länder?

Bassy: Ich glaube, dass es sogar ein globales Phänomen ist. Ich denke, dass 98 Prozent der afrikanischen Länder an der gleichen Krankheit leiden. Es ist nicht einmal das Vergessen des Erbes, denn die Sache ist die: In dem Moment, wo man den Menschen andere Modelle von Bildung, Politik, von Kultur übergestülpt hat, ohne ihnen eine andere Wahl zu lassen, werde diese Modelle für die Generation danach die Basis. In dieser Situation findet sich heute der Großteil Afrikas, daher kommen fast alle ihre Probleme. Stellen wir uns vor, dass man den Deutschen ein syrisches oder türkisches Lebensmodell aufpropft, und heute würden die Deutschen versuchen, exakt nach diesem syrischen oder türkischen Modell zu leben, dann wäre das sehr kompliziert. Denn die Umgebung gibt einem ja die Lebensweise vor, die natürlichen Bedingungen, bei uns die Sonne und die Hitze. Unsere Sommerferienzeit zum Beispiel entspricht nicht der französischen, denn dann ist bei uns die große Regenzeit, und doch nehmen wir exakt die gleiche Ferienzeit wie Frankreich. Dass so zwei untershciedliche Länder nach dem gleichen Modell leben, hat das Chaos ausgelöst, das jetzt herrscht. Es ist dringend nötig, dass wir uns wieder mit dem verbinden, was und wer wir sind.

Blick Bassy: „Woñi“
Quelle: youtube

Sicherlich spielt auch die viel zu schnelle Aneignung der digitalen Epoche in Afrika eine Rolle. Die Jungen haben quasi ein Zeitalter übersprungen…

Bassy: Ich denke, in dem Moment, wo es ein Chaos gibt, und du das Digitale, die Demokratisierung der neuen Technologien dazu gibst, wird sich das Chaos verzehnfachen. Die Menschen saßen zwischen zwei Stühlen: Sie wussten gar nicht, dass sie eigentlich noch dem Gestern angehören, und jetzt versuchen sie, Avatare einer Moderne zu sein, die nie die ihre sein wird. Sie können gerade so überleben, und dann gibt man ihnen Internet und soziale Medien. Die digitale Welt bietet ja ein enormes positives Potenzial, das es erlaubt, ein komplett neues Modell zu schaffen, die unserer Wirklichkeit entspricht. Aber bei ihnen verstärkt es das Chaos.

Sprechen wir über einige Stücke von 1958. Für uns Europäer klingt „Ngwa“ ein bisschen wie Musik zu einer Beerdigung, ein Trauermarsch…

Bassy: Für die Menschen hier kann es vielleicht schon wie eine Trauerfeier klingen, aber bei uns sind diese Feierlichkeiten anderer Natur. Sie finden erst ein Jahr nach dem Tod statt, der Verstorbene wird gefeiert und das dient dem Zweck, dass er sich mit uns wieder vereinigt. Währenddessen essen und tanzen die Leute, einige weinen auch. Die Erinnerung des Toten wird geehrt. Doch in „Ngwa“ wende ich mich an Um Nyobé wie an einen Freund, als würde er mir gegenüberstehen, ja, als würde ich wie bei seiner Trauerfeier vor seinem Foto stehen. Dann zeichne ich alles nach, was er für uns getan hat, was er hinterlassen hat, wofür er gekämpft hat. „Ngwa“ bedeutet einfach „mein Freund“, „mein Lieber“, man sagt es zu jemandem, der einem nahe steht. Meine Eltern zum Beispiel haben sich untereinander so genannt, man kann sich aber auch unter Freunden so nennen.

Sie zeichnen in den beiden Songs “Sango Ngando” und “Poché” Charaktere, die nicht gerade vorbildlich sind. Exisitieren diese Personen wirklich?

Bassy: Ich habe diese Figuren erfunden und wollte damit versuchen, die Wirklichkeit zu skizzieren. Der eine ist arbeitslos und der andere ist ein Verräter. Damit will ich einfach ausdrücken: Die Verbindung zwischen diesen beiden Personen ist, dass sie nicht ihre Geschichte kennen oder sie verraten. Und bei alldem gibt es auch eine Verbindung zu Um Nyobé und zu 1958. Ich erzähle die Geschichte von Um Nyobé nicht nur aus persönlichen Gründen. Wenn man das Chaos in verschiedenen afrikanischen Ländern anschaut, in Kamerun seit den letzten Wahlen, und das Stammesdenken, das gerade wieder hochkommt, dann muss man sich bewusst werden, dass das in der Unkenntnis unserer Geschichte wurzelt. Das hängt alles zusammen. Als ich versucht habe, das aktuelle Chaos zu verstehen, hat mich das zu den Schriften von Um Nyobé gebracht, die er im Widerstand verfasst hat. Es ging ihm in seinem Kampf nicht nur um die Freiheit, Gleichheit und Rechte, sondern er wollte uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns wieder mit unseren Wurzeln verbinden müssen, uns fragen, wer wir sind. Ohne dies kommen wir nicht aus dem Chaos raus. Und in diesen beiden Chansons spreche ich von Sango Ngando, der seine Zeit toschlägt, jeden Abend ausgeht und keine Ahnung hat, wer er ist, genau wie Poché, der die Seinen hintergeht.

Ein Ausblick: Ruben Um Nyobé hat auch gegen die Teilung Kameruns in eine anglo- und eine frankophone Region gekämpft. Diesen Konflikt zwischen den beiden Regionen gibt es heute verstärkt wieder, die Angst vor einem Bürgerkrieg ist da. Wie sehen da Ihre Zukunftsprognosen aus?

Bassy: Dieses Problem hängt mit all dem zusammen, worüber ich gesprochen habe. Heute erlebt man, wie Kameruner über andere Kameruner sagen, das seien „Anglophone“, als würden sie von anderswo kommen. Auch wir als Französisch-Sprechende wurden so erzogen, die Anglophonen nicht zu mögen, denn es sind ja die Frankophonen, die von Anfang an die Macht innehaben. Mein Gymnasium war zweisprachig, es gab eine anglophone Abteilung, und wir haben sie „les anglofous“ (die Angloverrückten) genannt. Für uns waren sie minderwertig, hatten einen schlechten Geschmack, verhielten sich eigenartig. So sind wir erzogen worden, unbewusst! Wenn ich heute mit kamerunischen Landsleuten darüber diskutiere, dann sind sie der Meinung, dass diese Position nicht dazu führen sollte, dass das Land destabilisiert wird und der Frieden Kameruns gefährdet wird. Und ich halte ihnen entgegen: Wenn ihr anglophon wärt, hättet ihr dann den Eindruck, dass Kamerun wirklich ein Land ist? Ich würde sagen nein! In dem Moment, in dem euch die Anliegen der Anglophonen nichts angehen und ihr behauptet, wir wären EIN Land, gibt es ein Problem. Das ist der Grund dafür, dass der Krieg, den die Anglophonen führen, sie nichts angehen möchte und sie sagen, dass die Anglophonen ihn provoziert hätten. Doch wir wissen sehr gut, dass der Kampf aufgrund von legitimen Ansprüchen begonnen hat und dass von ihrer Emanzipation alle Kameruner profitieren könnten. Ich hoffe, dass unsere Regierung begreift, dass es sich um Kinder des gleichen Landes handelt. Die Tatsache, dass man sich am Punkt der beiden Sprachen aufhält, ist ein Schwindel, denn wir sind ja ohnehin kein bilinguales Land, Kamerun ist multilingual. Unsere Kolonialherren haben gesagt, das sind keine Sprachen, das sind Dialekte. Wir haben das unglücklicherweise akzeptiert, und sie haben beschlossen, dass die einzige wahre Sprache Französisch ist. Daraus ist ein Konflikt entstanden, der bis heute anhält, von dem die Frankophonen so tun, als ginge er sie nichts an, und all das in Kenntnis, dass die Anglophonen und die Frankophonen wissen, dass sie fast die gleiche Sprache sprechen.

© Stefan Franzen

Blick Bassy live:
15.4. – Paris, La Cigale
17.5. – Dortmund, Klangvokal-Festival

Blick Bassy spricht mit dem Schauspieler Binda Ngazolo über Ruben Um Nyobé
Quelle: youtube

Der Bischof rechtfertigt sich

Im Falle der vermeintlichen Rattengift-Drohung eines brasilianischen Bischofs (siehe letzter Eintrag) hat sich jetzt der Beschuldigte in einem ausführlichen offenen Brief an Caetano Veloso gewandt. Darin stellt er dar, dass er während der Messe Velosos Liedtext „É Proibido Proibir“ (Verbieten verboten) zitiert habe, um zu zeigen, dass es nach der christlichen Lehre keine absolute Freiheit ohne Verbote gibt. An keiner Stelle habe er den Musiker mit Rattengift bedroht oder ihn töten wollen.  Er habe mit dem Gift nur einen Fall zur Bibelauslegung konstruiert und wörtlich gesagt:

„Wenn ich denjenigen treffen würde, der den Liedtext geschrieben hat, würde ich ihn fragen: ‚Würdest du es also akzeptieren, Rattengift oder Zyanid essen?‘ Es ist also eine Frage, kein Wunsch. Tatsächlich ist es ja in der Kunst der Rhetorik oder Apologetik so, dass der Gesprächspartner eine hypothetischen Fall konstruiert, um den Widerspruch einer These aufzuzeigen. In diesem Fall ist die These: Es ist verboten, etwas zu essen. Die nicht akzeptable Gegenthese: Es ist verboten zu verbieten, etwas zu essen.“

Der Bischof bedauert, dass durch die unredliche Wiedergabe seiner Predigt die eigentliche Aussage in der Presse verzerrt worden sei. Im Anschluss bringt er, der nun seinerseits Morddrohungen erhält, seine Wertschätzung gegenüber Caetano Velosos Mutter, einer treuen Christin zum Ausdruck und zitiert mit „Agnus Dei“, eine „schöne Musik“, die Caetano komponiert hat, um das Erbarmen des Herrn für alle zu erbitten, die in diesem Falle einem Irrtum unterlagen.

Aus der europäischen Distanz lässt sich nur mit Vorsicht analysieren. Die Geschichte zeigt, wie – zurecht – empfindlich die Stimmung derzeit in Brasilien unter denjenigen ist, die während der Militärdiktatur entweder selbst alltäglichem Staatsterror ausgesetzt waren oder die heute  politisch auf der Seite der damals Vefolgten stehen. Denn sie befürchten unter dem neuen Präsidenten, der ein Klima des Hasses gegenüber liberalen Kräften gesät hat, eine Wiederholung der Ereignisse. Diese Stimmung hat – nach aktuellem Kenntnisstand – zu einer Überreaktion geführt. Wir setzen voraus, dass der Bischof die Wahrheit sagt. Dann bleibt die Frage: Warum zitiert ein Militärgeistlicher, in Anwesenheit von Generälen aus dieser schlimmen Zeit, den Text des populärsten Regimekritikers (, den er bei dieser Gelegenheit „Dummkopf“ nennt)? Nur, um mit umständlichen exegetischen Winkelzügen dessen Poesie als der christlichen Lehre gegenläufig zu enttarnen?

© Stefan Franzen